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Von Luise Pomykaj

Freie Journalistin

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21. Mai 2020 um 06:00

Ist Rennradfahren das neue Golf?

Die Cycling-Community ist eine immer grösser wachsende und stark zusammenhaltende Gemeinschaft geworden, in der zwischenmenschliche Beziehungen entstehen – egal ob beruflicher oder privater Natur.

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Fotos: Luise Pomykaj

Gruppen von stilvoll gekleideten Männern, die man normalerweise Nähe Paradeplatz trifft, sausen neuerdings auf leise surrenden Rädern Richtung Meilen an einem vorbei. Statt massgeschneiderte Anzüge tragen sie Trikots aus Polyamid und Elastan für dreihundert Franken und nicht nur ihre Kleider und die Carbonräder sind leicht – auch ihr Gesichtsausdruck hat etwas Leichtes. Als hätten sich die Kieferknochen, die beim Feierabend im 2-er Tram noch fest aufeinandergebissen hatten, plötzlich gelöst. Ich schaue ihnen selig hinterher, denn auch ich bin seit kurzem infiziert vom Radsportvirus.

Dazu kam es, als nicht mehr nur mein rennvelofahrender Mitbewohner alle zwei Tage verschwand, um irgendwann mit Sonnen-Abdrücken an den Oberarmen und grossem Hunger zurückzukehren, sondern auch alle unsere Freund*innen anfingen, sich Rennvelos zu bestellen. Die Gründe dafür waren verschieden. «Alle meine Arbeitskolleg*innen fahren und es ist mittlerweile ein Muss, um zum Team dazu zugehören» erzählte einer von ihnen am Küchentisch.

Auch wenn es abwegig scheint, dass die grossen Businessdeals bei hundertsiebzig Herzschlägen die Minute, dreizehn Prozent Steigung und der Kette auf dem höchsten Gang ausgehandelt werden, so ist die Cycling-Community eine immer grösser wachsende und stark zusammenhaltende Gemeinschaft geworden, in der zwischenmenschliche Beziehungen entstehen – egal ob beruflicher oder privater Natur.

«Rennradfahren ist das neue Golf», erklärt die Genferin Victoria Alpen in einem Artikel zum Thema Radsport aus dem Jahr 2018. Ein Jahr später gründete sie ihr Unternehmen für Kommunikationsberatung «QOM Communications». QOM steht im Radsport für «Queen of the Mountains». Victoria Alpen und ihr Mann nehmen an Radrennen in ganz Europa teil – sie nutzt Bilder aus dieser Welt für ihren Website-Auftritt. Diese sollen Neukund*innen für die Bereiche Leadership-Communication und Training Courses anlocken, was einen vermuten lässt, dass eben diese potenziellen Kund*innen zu der Cycling-Community gehören. Frei nach dem Motto, wer sich die Berge hochquälen kann, wird es auch beruflich können.

Höhere Frauenquote und Lifestyle-Objekt Velo

«Es kommen immer mehr Kunden zu mir ins Geschäft, die explizit nach Rennvelos fragen. Doch vor allem kommen immer mehr Frauen», erzählt mir Beat Bühlmann, Inhaber der Santa Monica Sport AG, welcher den Trend schon früh erkannt hat. Bühlmann, Triathlet und somit selbst auf den Strassen unterwegs, beobachtete die höhere Frauenquote bereits in den letzten zwei Jahren. Und bei der Fahrradsocken-Herstellerin «Fingers Crossed» lag der Anteil der Kundinnen letztes Jahr noch bei zehn Prozent, nun sind es dreissig, erzählt Designerin Susanne Lay der Tageszeitung WELT. Es scheint, dass die Freude am Radsport sich genderübergreifend ausbreitet.

Bereits angedeutet hatte der Rennrad-Trend sich, als das Fahrrad in den letzten Jahren zum hippen Lifestyle-Objekt mutierte, sogar an die Wand der Altbauwohnung gehängt wurde und Influencerinnen plötzlich in Radlerhosen herumliefen. Mitten in den Städten eröffneten stylishe Fahrradgeschäfte, wie etwa der «Cycle Store Zurich», und Fahrradmode-Marken wie «Rapha», «Le Col» oder das dänische Label «Pas Normal Studios» wurden zu weltweit bekannten It-Brands. Eine Fahrradjacke kann hier gerne mal 286 Franken kosten. Ob dies gerechtfertigt ist, darüber lässt sich streiten.

Deutlich ersichtlich wird der Trend aber auch im Digitalen: Die bei Rennvelofahrer*innen beliebte Fitness App «Strava» verzeichnet monatlich eine Million neue Nutzer*innen, davon viele zahlend. Kurzum, der Radsport ist nicht günstig und die Kund*innen sind bereit viel Geld in das Rad, die Ausrüstung und den Look zu investieren.

Die Bereitschaft viel Geld auszugeben hat auch das kleine Pyrenäenland Andorra für sich entdeckt, dass den Radsport aktiv bewirbt und somit in den Sommermonaten zum Radsportparadies wird, bevor im Winter die Bergpässe von Skifahrer*innen befahren werden. Somit werden Tourismuseinnahmen gleichmässig über das Jahr verteilt erwirtschaftet und die Abhängigkeit von dem weniger nachhaltigen Skitourismus verringert. Ein Modell, das sich auch die Schweiz überlegen könnte.

Nur, war da nicht mal was mit Doping?

Es wird hart daran gearbeitet, dass der Rennradsport weg von dem eher schlechten Image kommt, das ihm Pantani, Ulrich und Armstrong in der Doping-Ära verpassten. Es funktioniert – zumindest im Amateur*innen-Bereich: Gruppenfahrten verbinden, der Bankier auf dem 11.000-Franken-Carbonrad nickt Studierenden auf dem günstigen im Internet geshoppten Alu-Rad zu, man misst sich in Segmenten in Apps und tauscht sich über Routen aus, welche man akribisch mit seinem GPS Gerät der Marke «Garmin» aufgezeichnet hat. Jede kleine Steigung, jeder Streckenabschnitt wird damit messbar und ermöglicht einen gesunden Vergleich unter Kolleg*innen und Freund*innen. Aus dem Handicap wird die Bestzeit am Buchenegg-Pass.

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Der Gotthardpass – ähnlich steil bergauf geht es für den Radsport

Ein Trend, den die Welt braucht

Und dann ist da eben noch die Sache mit dem Kopf – damit meine ich jetzt keine neue It-Marke für Fahrradhelme, sondern das, was das Rennradfahren mit einem macht und für diese Leichtigkeit im Gesichtsausdruck sorgt. Ich habe es herausgefunden: Du hast einen stressigen Arbeitstag hinter dir, oder noch einen leichten Kater am Sonntagmorgen. Dann schlüpfst du in deine im Schritt gepolsterte Hose und in die Handschuhe mit Klett, checkst noch ein letztes Mal die Route, die du dir in der Mittagspause oder beim Frühstück vorfreudig herausgesucht hast, steigst aufs Rad und plötzlich wird alles so still.

Du musst dich nun nur noch auf das Wesentliche konzentrieren. Auf die gleichmässigen Tritte, auf das Vogelgezwitscher, auf deinen Atem. Du fährst weg von stressigen Meetings, nicht enden wollenden Mail-Verläufen, den vier Wänden, die du während des Corona-Lockdowns so selten verlassen hast. In kürzester Zeit legst du eine ziemlich lange Strecke zurück.

Und du bist dabei komplett unabhängig – wenn du denn weisst, wie man einen Reifen wechselt. Du siehst, riechst und hörst Dinge, die dich glücklich machen und die man in der Grossstadt nie so erleben würde, wie zum Beispiel weidende Kühe, die immer diesen Ausblick vor sich haben, den du dir gerade hart erkämpft hast. Dazu kommen der holzige Duft im Wald auf dem Pfannenstiel, den du tief einatmest und das Hämmern eines Spechtes. Kein Wunder, dass so viele Rennradfans sagen, das Fahren bewahre sie vor einem Burnout.

Ob es nun der Wunsch nach Fitness und Anerkennung im Team ist, nach unabhängiger Mobilität, nach einem gemeinsamen Hobby oder nach Nähe zur Natur – der Rennradtrend ist mal ein Trend, den die Welt wirklich gut gebrauchen kann. Wenn wir nun bald alle wieder in unsere Büros eilen, abends im vollgestopften Tram sitzen und durch unsere E-Mails scrollen, sollten wir dringend an der Entschleunigung auf schnellen Rädern festhalten. Und das alles ohne Doping. Die neuen Brands, Apps und GPS-Geräte lassen die Skandale der Vergangenheit hinter sich und ermöglichen Amateur*innen sich wie die Profis zu fühlen, was zur Auferstehung dieses unvergleichlichen Sports führt.

Die Fussball-EM mag dieses Jahr zwar nicht stattfinden, doch eines ist klar: Wir werden mit gebannten Blicken auf den Bildschirm schauen, genüsslich in die Chipstüte greifen und dem Kommentator Karsten Migels von Eurosport ins Wort fallen, denn im September startet in aller Voraussicht die Tour de France. Bis dahin erklimmen wir selbst die Schweizer Pässe.

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