Kolumne: «Ihr schreibt von Genderideologie – was meint ihr damit?» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Jessica Sigerist

Gründerin untamed.love

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27. November 2022 um 09:39

«Ihr streicht nicht nur Kinderzimmer hellblau und rosa, sondern eure ganze Welt»

Unsere Kolumnistin Jessica Sigerist will eigentlich nicht über Gender schreiben. Weil ihr aber ständig unterstellt wird, eine Genderideologie und eine queere Agenda zu haben, bleibt ihr nichts anderes übrig.

Illustration: Artemisia Astolfi

Hallo, ich bin’s, eine dieser Genderaktivist:innen aus dem Internet. Eine, die queere Propaganda verbreitet und Gender immer und überall zum Thema machen muss. Ich bin’s, die Verkörperung von dem, was ihr Genderideologie nennt. Eigentlich habe ich es satt. Eigentlich will ich gar nicht über Gender schreiben. Ehrlich gesagt ist mir Gender in mega vielen Lebenssituationen mega egal. Aber kaum versuche ich in Ruhe meine Einkaufsliste zu schreiben, kommt die nächste alte weisse Zeitung um die Ecke und droppt einen genderkritischen Artikel. Ihr schreibt über queere Propaganda, Genderideologie und weltanschauliche Indoktrinierung. Ihr schreibt über mich und ich habe keine Wahl – ich schreibe zurück. 

Ihr schreibt von unserer Genderideologie und ich wüsste wirklich gerne, was ihr damit meint. Meint ihr den Teil, als wir die heterosexuelle Ehe verbieten wollten oder erinnert ihr euch an damals, als wir gesagt haben, cis Menschen sollten nicht Bundersrät:in werden und laut gelacht haben? Oder war’s doch der Mann mit Nagellack, den ihr heute morgen beim Einkaufen gesehen habt, der euch maximal getriggert hat? Apropos Nagellack, jetzt mal im Ernst: Ich bin noch nie einem queeren Elternteil begegnet, der sein Kind dazu zwingt, Nagellack zu tragen. Weder stecken wir unsere Söhne gegen ihren Willen in Kleider, noch zwingen wir unsere Töchter dazu, Bagger zu fahren. Wir verbieten Jungs weder Fussball zu spielen, noch dürfen Mädchen bei uns kein Pink tragen. Alles, was wir tun, ist, dass wir unseren Kindern verschiedene Möglichkeiten aufzeigen und ihnen die Wahl lassen. 

«Wir wollen keine Kinder queer machen, wir wollen nur, dass alle Kinder glücklich und sicher aufwachsen.»

Jessica Sigerist, Kolumnistin und Gründerin des queerfeministischen Sexshops untamed.love

Unterdessen streicht ihr nicht nur eure Kinderzimmer hellblau und rosa, sondern eure ganze Welt. Regenjacken, Überraschungseier und Berufschancen, alles gibt es in zwei Varianten, eine für Mädchen und eine für Jungen. Schon vor der Geburt feiert ihr das vermeintliche Geschlecht eurer ungeborenen Kinder. Und ihr werft uns vor, eine Ideologie zu verfolgen? Ihr sagt uns, dass wir «Besessen von Gender» sind? Sagt mal, merkt ihr nichts? 

Ihr schreibt von einer queeren Agenda und wie wir Kinder beeinflussen. Ich habe noch nie einen queeren Elternteil sagen gehört: «Ich will, dass mein Kind queer wird.» Das wäre ja auch ganz schön absurd, dem eigenen Kind eine bestimmte sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität aufdrängen zu wollen, oder etwa nicht? Ich frage mich, wie ihr auf die Idee kommt, dass das irgendjemand tun könnte. Bis mir in den Sinn kommt, mit wem ihr sonst so abhängt. Und wie oft ich schon von Jugendlichen, die bei mir Rat suchten, gehört habe: «Wenn ich mich outen würde, würden meine Eltern nicht mehr mit mir sprechen», «Wenn ich mich outen würde, würden meine Eltern mich zuhause rausschmeissen», «Wenn ich mich outen würde, würden meine Eltern mich umbringen.» Umbringen.

Es gibt Menschen, die ihr eigenes Kind umbringen würden, wenn es nicht cis-heterosexuell ist. Und ihr schreibt, was wir tun sei «weltanschauliche Indoktrinierung». Wir wollen keine Kinder queer machen, wir wollen nur, dass alle Kinder glücklich und sicher aufwachsen. Was ich queere Elternteile sagen höre ist: «Ich will, dass mein Kind so sein kann wie es ist. Ich will, dass mein Kind weiss, dass es gut und richtig ist, so wie es ist. Ich will, dass mein Kind nicht diskriminiert wird.» Ganz schön krasse Weltanschauung, was. 

Ihr schreibt und ihr inszeniert uns als Feindbild. Ihr schreibt und ihr bringt uns in Gefahr. Eure Artikel mögen vergleichsweise harmlos erscheinen. Doch unter den Beiträgen sind die Kommentarspalten. Darin werden wir als verirrt, krank, abartig und pädophil bezeichnet. Da ist das N-Wort zu finden, da wird Putin verherrlicht und bekannte Verschwörungstheorien werden zitiert. Sowas schreiben die Menschen, die euch lesen. Die Menschen, für die ihr schreibt. Und irgendwann steht ein Teil dieser Menschen mit Fackeln und Parolen vor einer Vorlesestunde für Kinder.

Wisst ihr, warum sie das tun können, warum sie mit ihren Gesichtern und ihren Namen zu dieser Aktion stehen können? Weil sie Rückhalt haben. Weil es Menschen gibt in diesem Land, die Dragqueens bedrohlicher finden als Nazis. Weil es Medien gibt, die dieses Narrativ stützen und ihm immer und immer wieder Platz einräumen. Die Gewalt gegen uns beginnt nicht erst dann, wenn sie effektiv zu physischer Gewalt wird. Sie beginnt mit jeder unmoderierten Kommentarspalte. Sie beginnt mit jedem «genderkritischen» Artikel. 

Herzlich willkommen in meiner queeren Agenda. Es ist ein kleines lila Buch mit Regenbogen-und Antifa-Stickers. Darin steht meine Einkaufsliste, ich brauche noch Nagellack und eine neue Regenjacke für ein Kind. Eine Genderideologie steht da nicht. Weil es keine gibt. Aber so lange ihr weiter darüber schreibt, so lange ihr nicht aufhört und zuhört und was lernt, so lange schreibe ich gegen euch an. 

Liebe Grüsse, eure Genderaktivist:in aus dem Internet.

(Foto: Elio Donauer)

Jessica Sigerist

Kolumnistin Jessica Sigerist ist Zürich geboren und aufgewachsen. Sie wusste schon früh, woher die Babys kommen. In ihrer Jugend sammelte sie schöne Notizbücher, alte Kinokarten und Zungenküsse. Sie studierte Ethnologie (halbmotiviert) und das Nachtleben Zürichs (intensiv). Nach vielen Jahren in der Sozialen Arbeit hatte sie die Nase voll, nicht vom Sozialen, aber von der Arbeit. Sie packte wenig Dinge und viel Liebe in einen alten Fiat Panda und reiste kreuz und quer durch die Welt. Sie ritt auf einem Yak über das Pamirgebirge, überquerte das kaspische Meer in einem Kargoschiff und blieb im Dschungel von Sierra Leone im Schlamm stecken.

Auf ihren Reisen von Zürich nach Vladivostock, von Tokio nach Isla de Mujeres, von Tanger nach Kapstadt lernte sie, dass alle Menschen eigentlich dasselbe wollen und dass die Welt den Mutigen gehört. Wieder zurück beschloss sie, selbst mutig zu sein und gründete den ersten queer-feministischen Sexshop der Schweiz. Seither beglückt sie Menschen mit Sex Toys und macht lustige Internetvideos zu Analsex, Gleitmittel und Masturbation. Jessica liebt genderneutrale Sex Toys, Sonne auf nackter Haut und die Verbindung von Politik und Sexualität. Sie ist queer und glaubt, dass Liebe grösser wird, wenn man sie teilt. Mit ihrem Partner und ihrem Kind lebt sie in Zürich.

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