Ich habe am Flughafen Zürich 24 Stunden lang Hypernormalisation geschaut - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Benjamin von Wyl

Journalist

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18. November 2016 um 13:48

Ich habe am Flughafen Zürich 24 Stunden lang Hypernormalisation geschaut

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Die Selbstradikalisierungsgruppe 0 glaubt daran, dass sie die von ihr empfundene Alternativlosigkeit umarmen muss. Nur so kann sie einen Panzer gegenüber dem Weltgeschehen entwickeln und neu denken, wahrnehmen, fühlen, handlungsfähig werden.

Manche Mitglieder der Selbsthilfegruppe 0 leben in Zügen, andere in Diskursen. Alle haben sie einen Körper, aber der Umgang damit ist unterschiedlich: Manche machen Sport, manche rauchen, manche nehmen Drogen, manche leben in Beziehungen, manche auf dem Boden vom zweitletzten Glas. Darum ist die Selbstradikalisierung eine Erfahrung, bei der sich die Mitglieder nur unterstützen können. Den Weg muss jeder für sich alleine erleben.

Als Sprecher der Selbstradikalisierungsgruppe 0 teile ich meinen Prozess, während andere Prozesse im Unterbewussten oder im Untergrund bleiben:

Hypernormalisation ist der neue Film von Adam Curtis, der die Ursprünge des gesamtgesellschaftlichen „How the fuck did we get here?“ anhand der letzten 40 Jahre Weltgeschichte untersucht. Ein Bilderreigen, der das Schlagwort „postfaktisch“ nicht einfach mit Grumpy Cat Donald erklärt, sondern Gentrifizierung, Hippietum, LSD, Cyberspace, Cyberphobie, den Mittleren Osten, Iran, Syrien, Lybien, die Sowjetunion und Putins Russland montiert. Dementsprechend viele Schnitte gibt es. Dementsprechend viele Kriegsbilder. Dementsprechend viel Bilderstakkato gibt es. Der Film hat eine Laufzeit von 2 Stunden und 40 Minuten, in 24 Stunden kann man ihn genau neun Mal schauen. Sich durch die Wiederholung verstören lassen, empfindlich machen lassen. Damit ich mich nicht zurückziehen kann, geb ich mir die 24 Stunden Hypernormalisation öffentlich, am Flughafen. Wo 24 Stunden lang kaltweisses Licht brätscht, fremde Menschen gestresst sind und fremde Menschen schlafen. Da will ich mich entfremden lassen, aber mit Inhalt, mit einer Antwort auf die Frage „How the fuck did we get here?“

Damit ich mich dieser Selbstfolter aber wirklich stellen muss, liess ich mich nach den 24 Stunden nicht in 12 Stunden Komaschlaf fallen, sondern schlief am Mittwoch von 12 bis 14 Uhr, dann wieder von 18 bis 20 Uhr usw. bis Donnerstagabend. Die Selbstimpfung mit einem Kondensat aus allem Übel der Welt wollte ich an meiner Alltagswelt austesten. Ein Trauma in der Flughafenhalle bleibt in der Flughafenhalle und wirklich oft bin ich nicht in der Flughafenhalle.

Den Hypernormalisation-Marathon gestartet habe ich Dienstag um 12 Uhr. Mein Ticker:

12.30 Ich schau jetzt fang 30 Minuten. Bilder flackern, geben viele Erzählungen der letzten 40 Jahre wieder und bilden selbst wieder eine Erzählung der letzten 40 Jahre. Ein Filmessay. Ein Film, der wie eine Zusammenarbeit von Jean-Luc Godard und Michael Moore wirkt.

12.38 Es geht jetzt darum, wie Selbstmordattentate von Ayatollah Chomeini in die schiitische Lehre integriert wurden, „the poor man's atomic bomb“.

12.40 Ein Bus jubelnder Schulbuben wird an die irakische Grenze gefahren, damit sie sich in den Minenfeldern sprengen und der Armee so den Weg frei machen. So schal das tönt: Einfach nur traurig. „After death the martyr can still witness this world...“ Dann smoother Pop.

12.53 Ein Typ, barfuss, mit Aktentasche, macht Rückenübungen. Dann dehnt er sich.

13.00 Auf einem Werbebildschirm läuft Roger Federer einem T-Rex davon. Für Sunrise. Dazu hör ich den Hypernormalisation-Ton.

13.04 In der von Adam Curtis arrangierten Nicht-Realität geht es um Attentate auf die Flughäfen von Rom und Wien. Tote, Blut in einer Halle wie diese Halle, auf einem überbeleuchteten Steinboden wie dieser überbeleuchtete Steinboden.

13.15 Niemand habe das Ende der Sowjetunion kommen sehen. War denn das Ende des Journalismus schon 1989? Momentan verorten das ja grad alle im Jahr 2016.

13.26 Im Flughafenradio läuft „Time after time“. Hab ein Earplug rausgenommen, um es zu geniessen. Curtis und sein Sprecher sagen, wir seien in den 90ern, aber ich will noch in den 80ern bleiben.

13.34 Wieder 80er: Das Attentat auf eine Boeing 747 im schottischen Lockerbie. Ich hab mir schon eine gute Location für dieses Bingewatching ausgesucht.

14.01 Gaddafi hatte Meerschweinchenaugen.

14.52 1/9 Hypernormalisation. 8 times to go. Sprache, Bilder. Erst in der einfachen Wiederholung, dann in der Wiederholung der Wiederholung.

15.57 UV-Licht wie das vom Ipad-Schirm hält länger wach. Ein Gedanke. Dann zerbricht die Sowjetunion und Jane Fonda macht Aerobic.

16.24 Dem Typen, der jetzt mein Akkukabel leiht, scheint es extrem wichtig, dass sein Handy wieder läuft. Notfall oder Tindermatch?

16.29 George W. klingt vergleichsweise so vernünftig. Gute alte Zeit.

16.45 Poesieglühwürmchen. Glühwürmchenszene. Halblicht. Schön.

17.02 Die mit der Cola macht mir Angst. Der mit seinem Bier macht mir Angst. Und auf dem Werbeschirm flieht Roger Federer schon wieder vor einem T-Rex.

17.18 Es bewegt sich. Ich hole mein Handy. Zu spät. Ich könnte schwören, ich habe einen Silberfisch gesehen, wie er an den Dreckrändern der Bank vorbei über den Boden huscht. Huschen Silberfische?

17.30 Falle ich eigentlich auf? Let's follow paranoid thoughts for some moments.

17.50 Drei Pissoirs nebeneinander. Links telefoniert einer lautstark. Der in der Mitte pisst einfach nur. Ich schau Hypernormalisation.

17.55 Die Selbstmordattentäter, die erklären, weshalb sie Märtyrer werden wollen, tun mehr weh als alles andere.

18.03 Beim Rauchen. Das gigantische Parkingareal des Flughafens heisst The Circle. Wie die Dave Eggers Horrorvision. Hab ich nicht gelesen, da sie schlecht geschrieben sei. Trotzdem furchterregend, der Schriftzug: The Circle Comes to Life

19.06 Eine erwachsene Frau telefoniert mit der Freundin ihrer Mutter. Sie müsse alle 30 Minuten anrufen, wenn sie alleine unterwegs sei. Das passiert nicht im von Adam Curtis kontrollierten Teil meiner Wahrnehmungswelt.

19.24 Ich mag die Glühwürmchenszene. Wirklich.

19.26 Algorithmen basieren auf dem rationalen Menschen. Algorithmen können unsere Bedürfnisse nicht erfassen. Der rationale Mensch, der homo oeconomicus, ist falsch.

19.43 Toter Gaddaffi sieht aus wie ein Klimtbild.

20.11 „We are retreated into the make believe world, where nothing ever changed.“

20.21 Wo explodiert eine Atombombe, woanders läuft Wonderwall. Was ist wo?

20.49 Ein Kind quiekt. Macht mir Angst.

21.04 Ich möchte mitsprechen. Oder einen Sprechchor kontrollieren, der den Text aber schon draufhat.

21.16 Untergang der Sowjetunion. Die Epochenwenden sind immer so schön. Aufbruchspop. Ich bin langsam drauf konditioniert.

21.23 Mache eine Tour durch Parkhäuser. Meine Artikulation ist kacke. Jeder Scheinwerfer erinnert mindestens an Ground Zero. Obwohl Ground Zero nicht mal vorkommt.

21.29 Steine. Neben Parkhaus. Ich spür sie durch die Sohlen. Gras spüre ich auch. Auch mit den Händen.

21.37 Menschen sind mir jetzt fremd. Eine lustige, dicke Frau rempelt mich und lacht. Ich hab Angst.

22.05 Ooh... die Gühwürmchen.

22.12 Von wegen mediale Abstumpfung: Die Kriegsbilder, die Attentatsbilder, die Opferbilder. Alles geht mir von mal zu mal näher.

22.22 Ich hoff, dass es nicht noch intensiver wird. Aber gerade fühle ich mich wie auf LSD nach zwei oder drei Stunden.

00.48 Eine SMS, die ich verschick: „Reality check is great, only by this difference marker one can enjoy his surreality.“

01.09 Der Typ, der um 12 barfuss gedehnt hat, ist zurück. Er ist jetzt auch 13 Stunden hier und bleibt wohl noch ein paar, noch immer barfuss.

03.27 Langsam werden meine Ohren von den Earplugs wund.

03.56 Gadaffi-Sohn: „...just a few months ago they treated us as honoured friends“ Oh, im ersten Moment hab ich geglaubt, er meint mich.

04.15 Jede Bombe, die ich seh, tut weh. Lautsprecher: "Eine Sicherheitsanweisung der Polizei: Lassen Sie niemals ihr Gepäck unbeaufsichtigt."

04.32 Über Patti Smith und ihre Generation: „They didn't try and change it. They just experienced it.“ Was tu ich? Tun wir heute?

04.45 Das Namensschild der Kaffeeverkäuferin ist verkehrt. Alles ist Lüge.

05.23 Es ist noch nicht hell und Roger Federer rennt schon wieder einem T-Rex davon.

05.31 Der Untergang der Sowjetunion guckt sich gerne. Jetzt schon zum siebten Mal.

05.41 Wenn empfundene Beschleunigung normal wird, wie kann man dann schneller handeln?

05.45 Darf ich weiterhin eine pragmatische politische Haltung haben, aber mir eine idealtypische Zukunft wünschen, die dieser Haltung widerspricht?

05.58 Es läuft wieder Time after Time. Den Song würd ich um diese Uhrzeit sonst auch hören. Bei Curtis 9/11.

06.29 Kann die Selbstradikalisierungsgruppe 0 ein menschliches Mikrofon schaffen? Eines, das Sprache auflöst? Und das Zürich bellen lässt wie bei 101 Dalmatiner?

06.48 Jetzt sind wieder Menschen am Flughafen, die weniger Zeit haben als ich.

07.00 Ich schau mir seit 19 Stunden ein Essay an, dem ich zustimme. Ich schau mir seit 19 Stunden Kriegsbilder, Drohnenangriffe und Anschläge an. Ich schau mir seit 19 Stunden böse grosse Männer an. Ich schau mir seit 19 Stunden ästhetisch spannend arrangierten Bilderdurchfall an.

07.36 Ein paar Mal eine Acht durch die geschlossenen Ladengänge gelaufen. Ich spiele gerne mit meinen Fingerbeeren. Stress. Bei den anderen.

07.51 Als ein Wägelchen weggeschoben wird, mein ich, es ist eine Bahre. Manchmal nuschel ich jetzt "Gott ist gross".

08.49 Wenn meine Augen zufallen, händige ich Baschar al-Assad ein Wüscherli und Schüfeli aus. Öffnen sich die Augen, seh ich rotglibbernde Insekten in den Ecken.

09.16 Durehebe

09.55 Ohren wund.

10.13 Zum letzten Mal die Ursprünge von Selbstmordattentaten.

10.22 Darf ich mich freuen, dass ich bald nicht mehr schauen muss?

10.35 Als ich vom Liegen ins Sitzen wechsle, starrt und kaut da einer. Ein John Wayne! Kommunistenjäger! Er dreht sich um und schaut Roger. Er fühlt sich erkannt.

10.51 Kinder. Koffer. Alles laut. Hämmert. In meinem Assoziationsraum.

10.59 Ich werd nervös.

11.03 Letzte Paranoialuft schnuppern.

11.16 Viele Leute sehen aus wie Gaddaffi. Alle andern wie Saddam.

SCHLAFEN 12.00 BIS 14.00

14.03 Schlafen ging. Mittelgut. Bin nicht direkt weggebrochen. Trotz Niederkoffeinlevel. Aufstehen ging auch.

15.30 Wände weiss, Licht, die Reize sind sehr stark. Die Erinnerung noch nah, belastet. Keine Alpträume.

16.33 Die Kinder sehen das Null-Tattoo auf meiner Hand. Sie sehen die Null an der Wand. Sie nehmen mich gefangen. Es ist nur ein Spiel, aber sie machen die Regeln. Für mich spielen sie Krieg und Folter, für sich nicht.

SCHLAFEN 18.00 BIS 20.00

20.08 Jetzt ist die Wärme zurück. Kein Horrortrip-Unbehagen mehr. Wie leicht bekifft. Die Schockbilder bleiben. Aber der Raum ist warm, die weissen Wände tun nicht mehr weh.

23.30 Ich weine zu Last Week Tonight. Fuck 2016. Hab ich mir vor dem Hypernormalisations-Marathon schon mal angeschaut. Jetzt weine ich. Augen gereizt. Donald Trump darf nicht normal werden.

SCHLAFEN 00.00 BIS 02.00

02.03 Was tun? Ich sollte einiges schreiben, einiges beantworten.

02.14 Wo ist meine Youtubeplaylist?

02.30 Wie kann ich mich auf Youtube einloggen?

02.46 Die Passwörter stimmen nicht überein. Versuchen Sie es bitte erneut.

03.46 Lichtschlieren ziehen sich durch meinen Blick, da ich die Augen nicht weit genug geöffnet halten kann.

03.49 Gedanken vergessen. Alles flackert, geht weg. Leonard Cohen.

04.42 Wie iekann du dafür, dass dj ewahchnoxs osr rachhel entweder ode.

05.30 Leonard Cohen, der weniger am Expiremtn interessiert, sonder daram, dass empfundene Veränderung durchzieht.

05.40 Geschichten sind einfach. Aber sie sind positiv, sie gehen vorwärts.

SCHLAFEN 6.00 BIS 8.00

9.18 Ich laufe zur Arbeit. Stille in der Edelweissstrasse. Jemand im Garten. Dann ein Auto. Niesel. Alles sehr, sehr langsam. Grosse Ruhe

SCHLAFEN 12.00 BIS 14.00

14.32 What happened, already happened. Alles, was neu in der Welt passiert, erschüttert mich mehr, als die Impfung mit Vergangenheit. Alles, wo ich untätig bleibe, erschüttert mich mehr, als alles, was passiert war, bevor ich etwas tun konnte.

SCHLAFEN 18.00 BIS 20.00

20.02 Reflexion, Haltung, Kritik. Ob Journalismus bereits 1989 untergegangen ist, jetzt 2016 untergeht oder ob ich überhaupt Journalist bin: Medien sind wichtig im Kampf gegen die Normalisierung. Benj muss morgen den Money Job absagen.

Benj can't take money jobs in media.

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