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Holacracy: Warum du (vielleicht) bald keinen Chef mehr hast

Ein neues Buzzword geht in der Unternehmerszene um: Holacracy. Eine Betriebsführung ohne Betriebsführung, Hierarchie adé!

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Wie das funktionieren soll? Die Mitarbeiter*innen bekommen Rollen, manchmal mehrere. Diese Rollen sind verschiedenen Kreisen zugeordnet und mit straff strukturierten Meetings werden diese Kreise miteinander synchronisiert. Dadurch wird das klassische, lineare Management ersetzt.

Eine Abteilung von Swisscom, eine Handvoll IT-Buden und nun auch Freitag machen erste Gehversuche mit diesem Betriebsmodell. Das Zürcher Label Freitag mit 170 Mitarbeiter*innen ist allseits beliebt für die robusten Taschen aus LKW-Planen. Wir haben Pascal Dulex, den Unternehmensentwickler von Freitag, in der Fabrik besucht:

Warum organisiert ihr euch nun holakratisch?
Pascal Dulex: Wir sind eine Geschäftsleitung und 170 Leute. Und es sind alles gute Leute, die in einem gewissen Bereich spezialisiert sind und wissen, wovon sie sprechen. Bisher wurden aber alle Entscheidungen zum Schluss auf der Geschäftsleitungsebene getroffen. Im klassischen Modell hat man da eine extreme Machtkonzentration und den unteren Rängen fehlt die Entscheidungskompetenz. Das wollten wir ändern. Wir haben etliche selbstgebraute Reorganisationversuche hinter uns: immer wieder drei Monate vorbereiten, dann die Einführung des vermeintlich perfekten Systems und dann merkt man: «Hm, ja so perfekt ist das jetzt auch wieder nicht.» Holacracy liefert Lösungsansätze für solche Probleme.

Die da wären? Das Fazit: Jede*r Mitarbeiter*in soll und kann eine unternehmerische Verantwortung mittragen. Und zudem ist Holacracy ein Format, mit dem man das Organisationsmodell laufend justieren kann. Denn es gibt kein perfektes Organigramm.

Ist es denn tatsächlich so, dass sich die Geschäftsleitung einfach abschafft? Naja, die siebenköpfige Geschäftsleitung war natürlich nicht einstimmig dafür: «Friede Freude Eierkuchen, jetzt schaffen wir uns selbst ab.» Der General Company Circle, also der allumfassende obere Kreis ist nach wie vor der, der die strategischen Fragen anpackt und die gesamtheitliche Sicht haben muss. Das braucht ein Unternehmen. Aber es ist nicht mehr so, dass diese Leute anderen gegenüber eine Vorgesetztenrolle spielen. Das ist ein wesentlicher Unterschied und ich würde behaupten, daran hat der eine oder andere noch zu kauen. Wir lernen das auch ganz bewusst anzusprechen. Mit der Agentur, die uns bei der Transformation betreut, haben wir ein «Practitioners-Training» besucht. Und als Organisationsentwickler ist es momentan eine meiner Hauptaufgaben. Die eine Herausforderung ist also der Umgang mit diesem Selbstverständnis.

Wir sind die Art von Unternehmen, die zu Stammtisch-Verhalten tendiert.

Pascal Dulex

Und die andere? Holacracy hat einen ganz eigenen Code, eine eigene Sprache. Und zum Teil krasse, sehr strikte Prozesse. Ausserdem will nicht jede/r Mitarbeiter*in den Gump machen, einfach aus dem Gewohnten herausspringen und zum*r internen Unternehmer*in werden. So à la: «Ah ja, ich hatte ja tausende Ideen und möchte die jetzt pushen.» Das sind sich viele nicht gewohnt.

Dabei basiert Holacracy ja genau auf diese Initiative der Einzelnen. Ist das nicht zuviel verlangt? Es gibt für mich zwei Menschenbilder. Das eine ist, wenn du meine Vorgesetzte bist und du mich als «fuule Siech» siehst, dem du jeden Morgen sagen musst, wie ich meine Arbeit machen muss, weil ich es sonst sicher falsch mache. Und das andere ist, wenn du mich als fähige Person siehst, die viel mitbringt und überzeugt davon bist, dass ich das Beste aus diesem Task herausholen werde. Wir sind insgesamt davon überzeugt, dass der zweite Weg der richtige Weg ist, und dann ist es egal ob du LKW-Planen wäschst oder einen Text schreibst.

Was feierst du am meisten ab? Die klare Zuordnung von Rollen. Die straffen Strukturen der Meetings finde ich auch gut.

Kannst du uns ein Beispiel bringen? Wir sind die Art von Unternehmen, die zu Stammtisch-Verhalten tendiert: Jede*r hat noch eine schlaue Aussage zum Thema. Wir haben viele sehr breit interessierte Leute, die teilweise schon lange da sind. Und daraus entstand die Erwartungshaltung: «Hey, ich müsste doch auch alles wissen und alles mitentscheiden.» Aber eben, jetzt kommt es darauf an, was du für eine Rolle hast – je nachdem ist dein Votum dann nämlich gar nicht gefragt. Die Regeln, die jegliche solche Diskussionen unterbinden, tun uns sehr gut. Man merkt wie schnell jenste Themen in einer Zehnergruppe abgehandelt und verbindliche Entscheidungen getroffen werden können.

Holacracy wird oft im IT-Kontext erwähnt. Ihr produziert aber sehr erfolgreich Taschen. Ist es also auch für produzierende Firmen geeignet? Auf jeden Fall. Wir machen seit 24 Jahren Taschen und natürlich sind die Produktionsprozesse schon sehr straff aufgestellt. Trotzdem gibt es laufend Momente in denen man merkt, man könnte etwas anders oder besser machen. Und wir wachsen und dafür müssen wir Lösungen suchen. Ausserdem sind die Leute aus der Produktion extrem heiss darauf, ihre Ideen umzusetzen. Da gibt es viele, die wirklich umstellen wollen. Neben Finance ist die Produktion der letzte Bereich, der überführt werden muss. Das sind etwa 60-70 Leute, da ist es wichtig eine Form zu finden, die die einzelnen Personen nicht gleich überfordert. Da gibt es sprachliche Hürden, es gibt intellektuelle Hürden. Man muss Leute identifizieren, die etwas tiefer gehen oder Wortführer für die Gruppe sein können. Daran arbeiten wir gerade.

Wie verändert sich der Arbeitsalltag bei Freitag? Es gibt die Unterscheidung on the job und off the job. Das Operative, der Job, ist immer noch wie vorher. Aber ich nehme jetzt mal das Beispiel der Kommunikationsabteilung. Jetzt ist jemand Lead-Link, der vorher in der Hierarchie überhaupt nicht in einer solchen Rolle war. Ein Lead-Link kümmert sich um die Ressourcenplanung, ist dafür zuständig, dass die Leute richtig eingesetzt sind und der Kreis die richtigen Prioritäten und Strategien setzt. Und hier erkennt man plötzlich, wie viele Gedanken sich die Leute machen: Der Lead-Link stellte fest, dass im Kreis eine Vakanz war. Früher wäre einfach ein Senior gekommen und hätte die Stelle besetzt. Jetzt ist da plötzlich jemand, der noch nie jemanden einstellen, eine Stellenausschreibung schreiben musste. Leute kommen in Rollen, die sie vorher nie wahrgenommen haben. Das ist extrem cool, denn es gibt den Mitarbeitern die Möglichkeit, sich zu entwickeln und ihren Kreis und das Unternehmen mitzugestalten.

Glaubst du, es vollzieht sich gerade ein Paradigmenwechsel in der Arbeitswelt? Agilität ist momentan so ein Schlagwort. Das Marktumfeld entwickelt sich extrem schnell. Als Unternehmen brauchst du eine flexible Struktur, die darauf ausgelegt ist, sich rasch zu verändern. Sonst steuerst du auf Probleme zu.

Das andere, was ich extrem zu spüren bekomme, ist die Sinnfrage: Warum mache ich das eigentlich? In den letzten 10 Jahren hat sie eine ganz andere Qualität bekommen. Ich merke es bei Konferenzen und bei den Leuten, die sich bewerben. Das Wieso ist extrem wichtig, fast noch wichtiger als das Was. Und Holacracy ist ja purpose-driven: das Unternehmen soll sich also seinem Zweck entsprechend ausgestalten. Die Identifikation mit dem Zweck und die Möglichkeit, selbst etwas dazu beizutragen, kommt dieser Sinnfrage extrem nah.

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