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Von Rahel Bains

Redaktionsleiterin

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15. Februar 2021 um 08:23

Radikal anders wohnen: Jetzt werden im Zollhaus die Türme gebaut

Alternative Wohnformen erscheinen besonders in Pandemie-Zeiten reizvoll. Im neu gebauten Zollhaus wohnen 25 Menschen in selbst gebauten Rolltürmen gemeinsam in einer grossen Halle. Sie sind indes nicht die Einzigen, die radikal anders wohnen möchten, wie Projekte aus Bern und Basel zeigen.

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Hallenbewohnerin Katharina Riedl.

Der 1:10 Hallen-Grundriss aus Styropor und Karton mit den vielen kleinen Türmen und Treppen drin steht noch immer – dieses Mal in der mittlerweile Wirklichkeit gewordenen 275 Quadratmeter grossen Halle, die sich im dritten Stock des Neubaus der Genossenschaft Kalkbreite befindet. Im Drei-Minuten-Takt heulen Bohrer, Kreissägen und Schleifmaschinen auf. Holzbretter und Glasfenster stapeln sich auf dem Boden. Die Küche, in der bereits Pfannen, frische Zwiebeln, Zitronen und Äpfel liegen sowie der grosse, magentafarbene Esstisch lassen erahnen, wie sich das Zusammenleben der insgesamt 25 Mitglieder des eigens dafür gegründeten Vereins «zurwollke» hier einst abspielen könnte. Anfang Januar sind diese in ihr neues Zuhause mitten im Kreis 5 gezogen. Ihr Ziel: Die sieben geplanten, rollbaren Wohntürme möglichst bald fertiggestellt zu haben. (Für mehr Infos zum Projekt: Wir haben die Hallenbewohner*innen bereits Ende Jahr an ihrem letzten Treffen vor dem Einzug besucht).

Die Halle ist die grösste von insgesamt vier, die im Zollhaus gemeinsam mit den Gewerbeflächen Anfang Januar als erste bezugsbereit waren. Insgesamt sollen in der zwischen Hauptbahnhof und Langstrasse gelegenen Siedlung schon bald 175 Menschen wohnen. 56 Wohneinheiten, diverse Gemeinschaftsräume, eine sozial durchmischte Mieterschaft und Kultur, Verkauf sowie Gastronomie sollen das Zollhaus, dessen Bauland die Genossenschaft von den SBB und der Stadt Zürich erwerben konnte, zu einem Dorf in der Stadt machen.

«Es ist ein Unterschied, ob du jeden Abend für dich alleine kochst oder nur einmal im Monat aber dafür für eine ganze Gruppe von Menschen.»

Gaba Lopes, «zurwollke»-Werkstatt-Chef

Zwei, die ihre Wohn- und Schlafplätze von Grund auf selber und ohne etwa der Hilfe von Schreiner*innen bauen, sind Katharina Riedl und Gaba Lopes. Letzterer ist gerade dabei, ein Stück Holz zu sägen. «Seit dem Sommer habe ich für meinen Turm verschiedenste Modelle konzipiert – und wieder verworfen», erzählt der 23-jährige Landschaftsarchitekt. Entschieden hat er sich am Ende für ein doppelstöckiges Konstrukt aus Bambus. Derzeit übernachtet Lopes entweder bei seiner Freundin oder in der Hängematte gleich neben der Hallenküche. Er freut sich auf das bevorstehende Zusammenwohnen. Denn je mehr Menschen, desto familiärer und kreativer werde der Austausch. Und: «Desto weniger muss man kochen. Es ist schon ein Unterschied, ob du jeden Abend für dich alleine kochst oder nur einmal im Monat aber dafür für eine ganze Gruppe von Menschen.»

Auch in anderen Städten will man anders wohnen

Das findet auch Tobias Willimann. Für ihn gibt es nichts Schlimmeres als mit Namen angeschriebene Fächer im Kühlschrank. Der 39-Jährige ist Gründungsmitglied der Genossenschaft Warmbächli, die derzeit in Bern ein altes Lagerhaus einer Schokoladenfabrik umbaut. Das Projekt zeigt, dass auch über die Zürcher Stadtgrenze hinaus versucht wird, die gängigen Wohnformen zu verändern. Willimann erinnert sich an die Anfänge im Jahr 2012: «Wir waren ein paar Freund*innen mit Ideen von diversen Haus-Projekten, die man gemeinsam umsetzen wollte.» Dass man am Ende ein 40-Millionen-Bauprojekt stemmen würde, hielt damals niemand für möglich. «Wir dachten vielmehr an den Kauf eines einfachen Mehrfamilienhauses», erzählt Willimann lachend.

Alternative Wohnformen haben ihn schon immer interessiert. Mätti Wüthrich, Mitbegründer des «zurwollke»-Vereins, kennt er zum Beispiel aus der «Fabritze» in Altstetten. In der ehemaligen, mittlerweile abgerissenen Fabrik auf dem Labitzke-Areal wurde bereits vor der Besetzung im Jahr 2011 eines der drei Stockwerke in eine Art Hallenwohn-Labor verwandelt. Sieben Menschen teilten sich während der frühen Nullerjahre das Geschoss – bereits damals ohne trennende Wände.

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Die «zurwollke»-Halle. Bilder: Rahel Bains

Nun sind die ehemaligen Besetzer*innen erwachsen geworden, einige haben Familien gegründet. Aus Willimanns Berner Freundeskreis sind viele in alte Bauernhäuser auf dem Land oder am Stadtrand gezogen, um dort ihren Traum von Gross-WG’s zu verwirklichen. «Wohl nicht alle nur aufgrund der ländlichen Idylle, sondern auch weil solche Projekte in der Stadt mangels Platz und aufgrund der Kosten nur schwer umsetzbar sind», so Willimann.

Doch die Menschen in seiner Bubble sind nicht die Einzigen, die dem Wohnmodell der Kernfamilie den Rücken kehren. Obwohl auf dem privaten Wohnungsmarkt noch immer vor allem Kleinwohnungen gebaut werden, entdecken mehr und mehr Genossenschaften das Erschaffen von Wohnraum für alternative Wohn- und Lebensmodelle. Die Zürcher Genossenschaft Kraftwerk1 hat zum Beispiel in der Siedlung Hardturm bereits vor 20 Jahren zum ersten Mal Grosshaushalte in einem Neubau umgesetzt. In ihrer zweiten Siedlung im «Heizenholz» wurden diese weiterentwickelt und den Individualzimmern teilweise kleine private Vorzonen mit kleiner Teeküche und eigenem Bad vorgelagert: Sogenannte Cluster-Einheiten. Ähnliches gibt es heute auch bei den Genossenschaften mehr als wohnen im Hunziker-Areal oder bei der Kalkbreite in ihrem ersten Bau.

«Gemeinschaftliches Wohnen wird für immer mehr Menschen zu einem Bedürfnis. Sei es aus Überzeugung oder auch einfach aufgrund der Lebenssituation.»

Tobias Willimann, Co-Präsident und Leiter Baukommission WBG Warmbächli

«Bei unserem Neubauprojekt werden Grosswohnformen ebenfalls wieder ein wichtiges Thema sein», sagt Anna-Katharina Ris, Kraftwerk 1-Kommunikationsverantwortliche, mit Hinblick auf das derzeit besetzte Koch-Areal in Altstetten. Dort baut die Genossenschaft zusammen mit der ABZ, der Immobilienentwicklerin Senn und Grün Stadt Zürich das Koch-Quartier. Die Fertigstellung der insgesamt rund 350 Wohnungen ist auf 2024 geplant. Der Unterschied vom dortigen «Rohbau- und Atelierwohnen» zum Hallenwohnen der Genossenschaft Kalkbreite: «Bei uns werden es eher kleinere Einheiten sein, für Familien, Paare, Einzelpersonen, die ihre eigenen vier Wände selbst ausbauen und allenfalls auch darin arbeiten und kreativ tätig sein werden, nicht grosse Gruppen in grossen Hallen», so Ris. Trotzdem gehe es auch ihnen darum, sich die Räume anzueignen und den Ausbau (Böden, Wände, Raumeinteilung) selbst vorzunehmen.

Wohnen in der 15,5-Zimmer-Wohnung

Auch in Willimanns neuem Zuhause im Westen Berns wird es Platz haben für Gross-WG’s, Hallenwohnen aber auch für klassische Kleinwohnungen. Während die Halle wie auch im Zollhaus im Selbstausbau zu Ende gebaut werden soll, ermöglichen andere Wohnungen eine Mischung aus Selbstausbau und fertig gebauter Wohnung. Dank überhohen Räumen entstehen in einigen davon Galerien mit Treppen oder Leitern, ganz nach dem Geschmack und den Vorlieben der Mieterschaft.

Willimann, der mit seiner Partnerin einen Sohn im Kindergartenalter hat, wird noch dieses Jahr in eine 15,5-Zimmer-Wohnung ziehen. Mit insgesamt acht Erwachsenen und vier Kindern. Sie alle werden die Kinderbetreuung sowie das Kochen und Putzen untereinander aufteilen können. In Zeiten von Corona, in der viele in ihren Single-Haushalten vereinsamen, nicht nur für Eltern eine reizvolle Vorstellung. «Gemeinschaftliches Wohnen wird für immer mehr Menschen zu einem Bedürfnis. Sei es aus Überzeugung oder auch einfach aufgrund der Lebenssituation», so Willimann. Im Warmbächli wird insgesamt ein Drittel der Mieterschaft Wohnungen mit mehr als acht Zimmern bewohnen. Im Vergleich mit ähnlichen Projekten ein sehr hoher Wert, weshalb am Anfang Unsicherheit darüber herrschte, ob genügend Interessent*innen gefunden werden können. Die Sorge war unbegründet: «Für die 15,5-Zimmerwohnung hatten wir zum Beispiel drei weitere Bewerbungen.»

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Hallenbewohner Gaba Lopes.

Ein weiteres Projekt, das für viel Aufsehen gesorgt hat, ist das der Genossenschaft Coopérative d’ateliers in Basel, die 2016 von Künstler*innen gegründet wurde. Dabei handelt es sich um ein Wohnatelierhaus, das auf jeglichen Komfort verzichtet und deshalb «das radikalste Wohnhaus der Stadt» genannt wird. Beim Bau beschränkte man sich auf das Notwendigste; auf Heizung und Kühlung wurde ganz verzichtet. In den Ateliers erhielten die Nutzer*innen nur Rohlinge mit hohen Decken und unverputzten Wänden; deren Inneneinrichtung sie selber bestimmen konnten. Jede Mietfläche verfügte über einen flexibel platzierbaren Sanitärblock, der sich aus Küchen- und Badelementen zusammensetzte.

«Auch die Kinder hier nehmen wahr, dass eine Frau ohne Weiteres einen Wohnturm selbst bauen kann.»

Katharina Riedl, «zurwollke»-Bauleiterin

Nach diesem sogenannten «EasyJet-Prinzip» wurde auch gebaut, weil der Mietzins nicht mehr als 10 Franken pro Quadratmeter und Monat betragen sollte. Wenig in einer Stadt wie Basel, in der schnell einmal das Doppelte bis Dreifache dafür verlangt wird. Die 36 Bewohner*innen des Wohnatelierhauses haben sich mit diesem Projekt indes einen einen langersehnten Wunsch erfüllt: am selben Ort zu arbeiten und zu wohnen.

Bauen mit Stroh und Lehm

Katharina Riedl steht an einem der vielen Fenster mit Blick auf die Langstrasse und die Gleise. Mit Kleber hat sie dort die Pläne für ihren Turm befestigt. Die 35-jährige Architektin, die erst vergangenen Herbst zum Verein gestossen ist und bis dahin in Innsbruck gelebt hat, liebt das Planen, hat nun aber damit aufgehört. Sie will jetzt einfach nur bauen, sagt sie.

Neben einem Grundgerüst aus Holz liegen schwere Holzplatten, einst Bühnenbretter, und einer der Strohballen, die sie geschenkt bekommen hat. Um die Schallisolation zu verbessern, soll das Gerüst damit ausgestopft und am Ende mit Lehm verputzt werden. Die Indoor-Baustelle biete die perfekten Bedingungen für das Experimentieren mit natürlichen Materialien, erzählt Riedl. Sie ist Baustellen-Leiterin der «zurwollke»-Halle. Eine für sie neue, wichtige Rolle, die Sichtbarkeit schaffe. «Auch die Kinder hier nehmen wahr, dass eine Frau ohne Weiteres einen Wohnturm selbst bauen kann.»

Für einen solchen gibt es aus einem Pot, in den der ganze Verein einbezahlt hat, 10’000 Franken. Bei manchen wird der Rollspace mehr kosten, bei anderen weniger. Das Projekt von Beginn an begleitet, im Rahmen des Zollhaus-Partizipationsprozesses gar die Idee des Hallenwohnens eingebracht, haben Eva Küpfer und ihr Partner Mätti Wüthrich. Dank der Hilfe von Schreiner*innen werden die beiden mit ihren zwei Söhnen schon bald in zwei Türmen mit Verbindungs- und Schiebetüren, Treppen und mehreren Ebene wohnen. «Wir sind positiv davon erschlagen, wie cool das alles geworden ist», freut sich Wüthrich.

Obwohl sich die Fertigstellung ihres Wohnturms verzögert hat, ziehen sie Ende Monat definitiv ins Zollhaus ein. Für sie stellen sich deshalb Fragen wie: «Wo verstauen wir unsere Sachen, bis die Wohntürme fertig sind und wo spielen unsere Kinder, solange die Halle noch eine Baustelle ist?» Wüthrich liefert die Antwort dazu gleich selbst: «Wir werden schon eine Lösung finden. Wir sind schliesslich gut im Organisieren – und noch besser im Improvisieren».

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Blick aus dem Turm von Eva-Maria Küpfer und Mätti Wüthrich.

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