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13. Juni 2019 um 14:00

Haben Frauen es wirklich nötig, zu streiken?

Frauen* in der ganzen Schweiz legen morgen ihre Arbeit nieder und fordern tatsächliche Gleichstellung. Ein Aufstand auf ziemlich hohem Niveau, dachte ich anfangs. Doch das schreiende Baby meiner besten Freundin riss mich aus meiner Ignoranz. Einsichten einer feministischen Spätzünderin.

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Diesen Freitag wird gestreikt. Und dieser Artikel richtet sich an alle Frauen*, die kein Motiv finden, um ihrem Arbeitsplatz fernzubleiben. An alle, die keine Notwendigkeit verspüren, auf die Strasse zu gehen. An alle, die immer noch Mühe haben, sich mit Frauen* zu solidarisieren. Auch ich konnte es lange Zeit nicht. Doch gute Gründe gibt es viele – einer ist die Mutterschaft. Und als Töchter* und Söhne* betrifft sie jede*n von uns.

Ende April hat meine beste Freundin ihre erste Tochter zur Welt gebracht. Es mag sein, dass es einfachere und schwierigere Neugeborene gibt, aber ausgehend von dem, was ich aus ihren täglichen Sprachnachrichten entnehme, sieht die Realität nach der Schwangerschaft anders aus, als es in herzigen Profilbildern erscheint.

Die Antwort auf die Frage, ob Kinderbetreuung Arbeit ist, lautet: Ja. Aber es ist noch viel schlimmer als das. Liebende Mütter hätten vielleicht Mühe, das Nachfolgende zu unterschreiben, aber als beobachtende Nicht-Mutter wage ich zu behaupten: Ein Neugeborenes grosszuziehen ist eine Form von Ausbeutung. Dein Körper, dein Geist, dein Schlaf – alles wird dir geraubt. Vor allem in einer Gesellschaft, in der es keine kooperativen Grossfamilien oder Dorfgemeinschaften mehr gibt, Väter nur einen Tag Vaterschaftsurlaub haben und Frauen auf sich allein gestellt sind.

Selbstausbeutung im Kinderzimmer

Es ist ein kräftezehrender 24h-Job, für den Menschenrechtsorganisationen in einem anderen Kontext auf die Barrikaden gehen würden. Public Eye hätte schon längst Petitionen lanciert und Amnesty International Briefmarathons, um den eingesperrten Frauen* Mut zuzusprechen. Wären Mütter Weltmeere, Greenpeace würde sich mit Booten an Kinderwagen hängen. Und auf den Schildern der Klimajugend stünde geschrieben: «There is no Mother B».

Die Höllenqualen der Geburt verblassen angesichts dessen, was danach kommt. Frauen geben sich auf, weil sie müssen. Sie leiden unter wochenlangem Schlafentzug, brennenden Brustwarzen und Rückenschmerzen. Unter Blasenschwäche und Wochenfluss, schliesslich müssen die vielen Reste aus Gewebe, Schleim und Blut wieder aus dem Körper entweichen. Der Gang zur Toilette, die Körperhygiene und die eigene Ernährung werden zum Luxus. Sie haben keine Zeit mehr für sich. Ihr Geist beginnt zu vergessen, die Tage verschwimmen ineinander, Stilldemenz kann eintreten. Und bei 15 Prozent der Frauen vollzieht sich das alles auch noch in Begleitung einer Wochenbettdepression. Als «Guantanamo Bay» bezeichnete eine Bekannte einst ihr Mutterglück – die Sprachnachrichten meiner besten Freundin lassen mich nun verstehen, wieso Muttersein und Folter so nah beieinander liegen.

Mütter gehen durch die Hölle und gaukeln uns auf Instagram den Himmel vor. Und das Verrückte: Sie lügen nicht einmal. Die ersten Monate des Mutterdaseins sind tatsächlich ein gelebtes Paradoxon. Ihr grösstes Glück ist ihr grösstes Unglück. Der Zenit des Stockholm-Syndroms, quasi. Sie lieben diese kleinen Wesen, die ihnen den letzten Nerv rauben. Und so laden sie regelmässig friedliche Bilder auf Instagram hoch, auch wenn sie kurz zuvor noch weinend vor ihrem Neugeborenen standen, das sich über Stunden verkrampfte, bis sie nicht mehr wussten, ob ihre eigenen Tränen aus Mitgefühl, Angst oder Erschöpfung fliessen.

Neugeborenendienst statt Schwangerschaftsurlaub

Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir, die Zurückgebliebenen im Büro, in ignoranter Manier dachten: «Na, mal sehen, ob sie ihren Job nach der Rückkehr noch genauso gut hinkriegt». Ich hatte keinen Schimmer davon, was Mütter in 98 Tagen Schwangerschaftsurlaub leisten. Und das tut mir von Herzen leid.

Das Wort Urlaub in Schwangerschaftsurlaub gehört gestrichen. Urlaub ist das, was Mütter nach 98 Tagen Neugeborenendienst brauchen. Sie sollten wie Veteranen gefeiert werden. Doch stattdessen kommen sie ins Büro, müssen so tun, als hätten sie alles bestens im Griff, versuchen ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen und sorgen sich heimlich um ihr Baby, das nun viel zu früh in der Krippe steckt.

Für ihr vermeintliches Glück kassieren sie 30 Jahre später die Rechnung: Weniger Rente für doppelte Arbeit. Denn neben den ausbeuterischen Verhältnissen in den eigenen vier Wänden reicht es meist nur für eine Teilzeitstelle, wodurch weniger Geld in die 2. Säule fliessen kann. Und so erhalten Frauen* im Alter nur einen Bruchteil dessen, was ihre Arbeit tatsächlich wert ist. Im Schnitt: 63 Prozent einer durchschnittlichen ­Männerrente. Viele Mütter übersehen diese Ungerechtigkeit. Sie arrangieren sich mit ihrem Schicksal, so wie Frau* sich im Laufe ihres Lebens mit vielem arrangiert: Dem monatlichen Blut im Schritt, den regelmässigen Schmerzen im Unterleib, den Bügeln im BH. Doch finanzielle Nachteile sind kein naturgegebenes Schicksal, das unseren Eierstöcken innewohnt. Sie sind gesellschaftlich konstruiert.

Und damit zum vermeintlich hohen Niveau: Gerechtigkeit bedeutet, auch dann weiterzumachen, wenn man auf die letzten mühsamen Kilometer gelangt. Vieles wurde schon erreicht, ja. Wir dürfen studieren, wir dürfen wählen, wir dürfen Vergewaltigung in der Ehe zur Anzeige bringen. Aber Gerechtigkeit ist ein Prozess und manchmal müssen bestimmte Dinge erst aus der Welt geschafft werden, damit der Blick auf weitere Ungerechtigkeiten gelenkt werden kann. Heute liegt die Sicht endlich frei auf: Zu wenig Neugeborenenzeit für Mütter und Väter, zu wenig Rente für die Frau* und zu wenig Wertschätzung von Care-Arbeit in unserer Gesellschaft.

Für alle, die also keinen Grund zum Streiken finden, hier ist er: Deine Mutter. Oder deine schwangere Schwester. Oder deine beste Freundin, die gerade ihr erstes Kind bekommen hat. Oder du selbst, die vielleicht mit dem Gedanken spielt, eines Tages Mutter zu werden. Wir, die noch keine Mütter sind, können es aussprechen und sollten es tun:

«Kinderkriegen ist ein selbstausbeuterischer Dienst an der Gesellschaft. Die finanziellen Nachteile auszugleichen ist das Mindeste, was man Frauen* zurückgeben kann!»

Deshalb appelliere ich an alle Frauen* ohne gerissene Dämme, ohne brennende Brustwarzen und ohne Wochenfluss: Streikt morgen und geht auf die Strasse! Für unsere Mütter und alle Mütter, die nicht nur ihren Neugeborenen, sondern auch einem ungerechten System ausgeliefert sind.

Für welche weiteren Forderungen am 14. Juni gestreikt wird, findest du hier, hier und hier. Was du als Mann* tun kannst, findest du hier. Und falls du Fragen zum Frauenstreik hast, dann stöber hier. Möglicherweise hat unsere Redaktorin Florentina bereits die passende Antwort gefunden.

Titelbild: Andrea Pramor

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