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Von Steffen Kolberg

Redaktor

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7. Dezember 2020 um 11:49

«Wohnungen werden oft unter der Hand weitergegeben – bei uns nicht»

Die Familienheim-Genossenschaft Zürich prägt das Friesenberg-Quartier und wurde in letzter Zeit immer wieder Mittelpunkt stadtpolitischer Debatten. Präsidentin Karin Schulte lädt ins neu gebaute Quartierzentrum ein und erzählt, was die Genossenschaft ausmacht.

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Das Quartierzentrum Friesenberg ist der neueste Bau der FGZ und wurde erst im letzten Jahr fertiggestellt. (Alle Fotos: Autor)

Zürich ist eine widersprüchliche Stadt. Einerseits hat bezahlbarer Wohnraum hier einen hohen Stellenwert: Fast ein Viertel der 220’000 Zürcher Wohnungen ist gemeinnützig, in 30 Jahren soll es mindestens ein Drittel sein. Andererseits ist Zürich eben auch die Stadt der horrenden Mieten und der ewigen, zermürbenden Wohnungssuchen. Was läuft da schief?

Karin Schulte, Präsidentin der Familienheim-Genossenschaft Zürich (FGZ), sieht die Verantwortung in der Politik: «Wohnen ist ein Grundbedürfnis, jede*r braucht ein Zuhause, ein Dach über dem Kopf. Es liegt am Staat, hier Auflagen zu machen, damit alle Menschen eine Chance auf bezahlbaren Wohnraum haben. Teilweise gibt es die ja auch schon im normalen Mietrecht.» Schulte hat auch eine einfache Erklärung für die Widersprüchlichkeit des Zürcher Wohnungsmarktes: «Die Wohnungen, die auf den Markt kommen, sind sehr viel teurer als das, was im Bestand ist. Gute Wohnungen werden bei Wohnungsknappheit eben oft unter der Hand weitergegeben.» Genau das gebe es bei Baugenossenschaften wie der FGZ eben nicht: «Jede Wohnung, die frei wird, wird bei uns auch ausgeschrieben.»

Über die Hälfte des gemeinnützigen Wohnraums in Zürich wird von Genossenschaften vermietet. Unter ihnen gilt die Familienheim-Genossenschaft Zürich aufgrund ihres Alters und ihrer Grösse als Vorzeigeprojekt, und das weit über die Stadt hinaus. Als die FGZ in den 1920er Jahren die ersten Siedlungen auf dem Friesenberg, einer Anhöhe am Fuss des Uetlibergs, errichtete, waren die Vorbilder englische und deutsche Gartenstädte. Die Arbeiter*innen-Familien sollten im Grünen wohnen und in den grossen Gartenanlagen selbst ihr Gemüse anbauen, statt ihr Dasein in engen Stadtwohnungen zu fristen. In mehreren Bauetappen und über viele Jahrzehnte hinweg entstanden so 25 Siedlungen, in denen heute die Hälfte der rund 11’000 Quartierbewohner*innen lebt.

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1925 wurde als erste Etappe die Siedlung Pappelstrasse gebaut. Ihre Zukunft ist derzeit ungewiss.

Ein Quartier, in dem die meisten Ur-Zürcher*innen wohnen

Von den 5700 Bewohner*innen der Genossenschaft seien 3400 Genossenschafter*innen, erzählt Schulte, der Rest seien mehrheitlich junge Erwachsene und Kinder. Denn die Familienheim-Genossenschaft sei auch weiterhin ihrem Namen verpflichtet: Der Fokus liege auf preisgünstigem Wohnraum für Haushalte mit Kindern. In diesem Sinne prägt die Genossenschaft ihr Quartier: Friesenberg sei nach Schwamendingen das Quartier in Zürich mit den prozentual meisten Schulkindern, erklärt Schulte. «Und es ist das, in dem die meisten Ur-Zürcher*innen wohnen, also Leute, die schon da geboren sind», ergänzt sie. Das habe mit dem Wohnrecht in der Genossenschaft zu tun: «Niemand muss gehen. Man kann hier bleiben, auch wenn sich die Lebenssituation verändert.» Wenn die Kinder ausgezogen sind, werden den Mieter*innen Zügelfristen gesetzt. Das heisst, sie müssen dann innerhalb von ein paar Jahren in eine kleinere Wohnung umziehen. «Aber», betont Schulte, «man kann im gleichen Quartier weiter wohnen.»

Und so ist es dann doch nicht ganz so einfach mit der Ausschreibung frei werdender Wohnungen. Denn ausgeschrieben werden sie eben erst, wenn sich auf der internen Warteliste der Mieter*innen niemand passendes findet. Durch die Zügelfristen der FGZ sind es in der Regel Eltern erwachsener Kinder, die von 4- und 5-Zimmer-Wohnungen in eine kleinere Wohnung ziehen müssen. «Typischerweise», so Schulte, «werden dann halt Familienwohnobjekte frei, und nicht 3-Zimmer-Wohnungen.» Dementsprechend sind die meisten Neu-Genossenschafter*innen Familien mit Kindern. Es gibt darüber hinaus aber auch noch einen Kriterienkatalog mit Punktesystem für die gewünschte soziale Durchmischung der jeweiligen Siedlung, der bei jeder Neubesetzung angewendet wird. Der richtet sich Schulte zufolge massgeblich nach Einkommens- und Vermögensverhältnissen, die wiederum an den Steuerklassen angelehnt sind. Laut Statuten müssen zwei Drittel der Haushalte unter der Limite von aktuell 93’000 Franken Jahreseinkommen für ein Paar sein.

Der Mietzins in der FGZ berechnet sich nach der Kostenmiete, die für gemeinnützige Wohnbauten seitens der Stadt Zürich streng geregelt ist. Diese orientiert sich an den Bau- und Unterhaltskosten des Wohnbaus. Eine kleine Wohnung könne, so Schulte zufolge, in einem Altbau unter 600, in einem Neubau 1200 Franken kosten. Grundsätzlich versuche man aber so zu bauen, dass der Mietzins für eine 4-Zimmer-Wohnung im Neubau unter 2000 Franken bleibe.

Wir wollen mehr Wohnungen für mehr Menschen.

Karin Schulte, Präsidentin der FGZ

«Wir sind sehr sozial ausgerichtet»

Migrationshintergrund und Alter gehören bei der FGZ nicht zum Kriterienkatalog der sozialen Durchmischung. Anfang 2018 war die Genossenschaft in diesem Zusammenhang Ziel eines medialen Aufregers geworden: Die NZZ hatte sie aufgrund ihres geringen Ausländeranteils und der zuletzt entstandenen schicken Neubauten am Brombeeriweg als Oase besserverdienender Linker dargestellt. Schulte hat sich damals in einem Artikel im «Bund» zur Wehr gesetzt und sagt heute, sie fände es schwierig, Auswahlkriterien am Pass festzumachen. «Letztlich geht es um Chancengleichheit auf dem Wohnungsmarkt, unabhängig von Herkunft und Alter. Und die versuchen wir so gut wie möglich zu gewährleisten.» Erfüllen beim Auswahlverfahren mehrere Bewerber*innen die gewünschten Kriterien, werden sich die Einzelfälle genauer angeschaut: «Eine Familie, die eine Kündigung hat und aus ihrer Wohnung raus muss, hat sicher die besseren Chancen», erklärt die Präsidentin.

Die Kriterien zur sozialen Durchmischung und die Zügelfristen sind nur zwei Beispiele für soziale Auflagen, die sich die Genossenschafter*innen selbst gegeben haben. Eine weitere ist der sogenannte Mietzinsausgleichsfonds: Wer als Paar über der Limite von rund 93’000 Franken steuerbarem Haushaltseinkommen liegt, zahlt eine Mietzinsumlage von 125 Franken im Monat ein. Davon werden die Mieten derjenigen, die unter einer gewissen Einkommenslimite liegen, also nach aktuellen Werten weniger als 69’000 Franken Jahreseinkommen als Paar haben, vergünstigt. Die Hälfte der Haushalte in der FGZ liegen Schulte zufolge unter dieser Einkommensschwelle. «Eine Million Franken im Jahr kommt so diesen Haushalten zugute», erzählt sie und fügt stolz hinzu: «Das ist etwas besonderes, das macht die FGZ aus. Wir sind sehr sozial ausgerichtet.»

Der soziale Gedanke dringt weit in die Strukturen der Genossenschaft hinein: Es gibt eine Altersbetreuung, eine Sozialberatung und einen Sozialfonds zur Linderung vorübergehender finanzieller Notlagen. Als Pilotprojekt wurde 2019 der Jugendbeirat der FGZ gegründet, der unter anderem das Ziel hat, Jugendlichen die Mitsprache in der Genossenschaft zu ermöglichen. Die Organisation von Flohmärkten, Strassenfesten und Bastelkursen ist genauso Teil der Genossenschaftsstruktur wie mehrere Kompost-Gruppen, die sich um die 12 Gemeinschaftskompostanlagen kümmern.

Viele Familien wohnen in den typischen Reihen- und Einfamilienhäusern, die in den ersten errichteten Siedlungen an der Pappelstrasse, dem Jakob-Peter-Weg und entlang der Schweighofstrasse entstanden sind und den Gartenstadtcharakter des Friesenbergs geprägt haben. Die ersten beiden Bauetappen aus den 20er-Jahren mit ihren charakteristischen freistehenden Häusern und grosszügigen Gemeinschaftsgärten waren zuletzt Mittelpunkt eines weiteren Stadtzürcher Politikums: Die FGZ würde die Siedlungen gerne abreissen und Ersatzneubauten errichten. Wie auf der Website betont wird, will man «[mit massvoll verdichteten Wohnbauten [...] den Anteil an gemeinnützigen Wohnungen erhöhen und auch dem Ziel der 2000-Watt-Gesellschaft ein wenig näherkommen.» Doch der Heimatschutz wertet die Erhaltung des städtebaulichen Ensembles höher und hatte mit einem Rekurs vor Gericht Erfolg. Nun muss die Stadt zunächst den Schutzstatus der Siedlungen bestimmen, bevor über deren Zukunft entschieden werden kann.

«Unsere Grundhaltung ist es, preisgünstigen Wohnraum zu erhalten und zu schaffen», erklärt Schulte zum Thema Verdichtung: «Also möchten wir selbstverständlich, dass mehr Menschen von einer gemeinnützigen Wohnung profitieren können. Wir wollen mehr Wohnungen für mehr Menschen. Die Verdichtung im Friesenberg ist aber kein Ziel, sie ist eine Folge der notwendigen baulichen und ökologischen Erneuerung.» Es ginge bei der Entscheidung Sanierung oder Neubau schlicht um die wirtschaftliche und ökologische Sinnhaftigkeit. Manche der Altbauten hätten beispielsweise kleine Durchgangszimmer und nur ein kleines WC für eine vierköpfige Familie: «Das ist okay, wenn es ein günstiges Objekt ist. Wenn aber der Grundriss bei der Sanierung nicht verändert werden kann und die Wohnung nach einer Sanierung mehr wie ein Neubau kostet, stellt sich wirklich die Frage, ob eine Sanierung sinnvoll ist.» Ein sanierter Altbau sei auch aus energetischer Sicht in puncto Heizung schlechter als ein Neubau.

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Die Siedlung Friesenberghalde wurde 1969 errichtet und ist aufgrund ihrer Lage am oberen Waldrand eine der beliebtesten unter den Genossenschafter*innen.

Denn während viele dieser Altbauten noch mit Öl beheizt werden, baut die FGZ in den letzten zehn Jahren stetig ihr Anergie-Netz aus, das inzwischen ein Viertel ihres Gesamtenergieverbrauchs deckt. Es nutzt die Abwärme der beiden angrenzenden Rechenzentren von Swisscom und Credit Suisse und liefert den Firmen im Gegenzug sogar Kühlung. Eine hundertprozentige Wärmeversorgung mit Anergie sei aber nicht möglich, sagt Schulte: «Vor allem dort, wo es noch Altbauten hat. Denn die Spitzentemperatur zum Heizen muss dort höher sein, als man sie mit einer solchen Wärmepumpe erreicht.» Für die Zukunft könne man sich zum Beispiel eine Ergänzung mit erneuerbaren Brennstoffen vorstellen, das sei aber für den Bedarf der FGZ derzeit technisch noch nicht möglich.

Als fünfundzwanzigste Siedlung wurde Ende 2019 das Quartierzentrum Friesenberg fertiggestellt, das mit dem Friesenbergplatz dem gesamten Quartier eine Mitte geben soll. Es beherbergt neben gut 100 Wohnungen die FGZ-Verwaltung, einige Büro- und Gewerbeflächen, eine Arztpraxis, ein Restaurant und eine Pflegewohngruppe. Zudem hat die Genossenschaft in diesem Neubau auch erstmals Clusterwohnungen realisiert. Und ganz nebenbei betont Schulte, würden in dieser Siedlung ziemlich exakt genauso viele Menschen ohne Schweizer Pass wohnen wie in der gesamten Stadt Zürich – ganz ohne gesonderte Regelungen.

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