Eine Stadt für alle: Was Zürich vom Hunziker-Areal lernen kann - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Isabel Brun

(Klima-)Redaktorin

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2. Dezember 2022 um 05:00

Inklusive Stadtplanung: Die Siedlung in Oerlikon, die vieles richtig macht

Die Zürcher Stadtplanung soll gendergerechter werden, das fordert ein Vorstoss der GLP, SP und Grüne. Wie das genau aussehen könnte, zeigt eine Überbauung in Oerlikon: Das Hunziker-Areal gilt als Paradebeispiel für inklusive Stadtplanung. Ein Augenschein vor Ort.

Die Bewohner:innen des Hunziker-Areals durften auch bei der Gestaltung des Aussenbereichs mitreden. (Fotos: Isabel Brun)

Mitten im Leutschenbachquartier, zwischen SRF-Hauptsitz, Recyclinghof, Kebap-Stand und Bahngleisen liegt das Hunziker-Areal. Herausgeputzt stehen die massiven Wohnhäuser an diesem Herbstmorgen da. Von den Balkonen hängen regenbogenfarbene «Peace»-Fahnen, an einer Fassade kämpfen Pflanzen sich ihren Weg nach oben. Die Sonne gibt ihr Bestes, das Zürcher Vorzeigeprojekt gut in Szene zu setzen.

Grund für die Reise nach Oerlikon ist ein Vorstoss, der Mitte November im Gemeinderat behandelt wurde. Darin fordern die GLP, SP und Grüne, dass gendersensible Stadtplanung in die Planungswerkzeuge der Stadt integriert werden soll. Was das bedeutet, weiss Rahel Erny.

Flotten Schrittes überquert sie den Kiesplatz; das Herzstück der Siedlung. Die Architektin ist nicht nur eine der 1260 Bewohnenden des 2015 erbauten Quartiers, sondern war auch vier Jahre im Vorstand der Genossenschaft «mehr als wohnen» tätig, die das Megaprojekt vor über 13 Jahren in die Wege geleitet hatte. Gendergerechte Stadtplanung, sagt Erny, sei keine Hexerei – und das Hunziker-Areal ein gutes Beispiel dafür.

Bedürfnisse im Wandel der Zeit

«Eine Stadt gendergerecht zu planen, bedeutet nichts anderes, als auf die Bedürfnisse möglichst aller Nutzer:innen gleichermassen einzugehen», erklärt Erny einige Minuten später vor dem massgetreuen Modell des Hunziker-Areals im eigens angelegten Showroom. Das Projekt wurde von der Stadt Zürich sowie von der UN für seine innovative und lebenswerte Bauform ausgezeichnet und gilt deshalb als Vorbild im Bereich sozial nachhaltiger und somit auch inklusiver Stadtplanung. Architekt:innen, Planer:innen, Verwaltungsmitglieder und Politiker:innen kommen laut Erny aus der ganzen Welt, um von dem 40’000 Quadratmeter grossen Areal zu lernen. Dabei gebe es auch hierzulande noch viel Nachholbedarf.

«Ansprüche, wie man wohnen und leben möchte, können sich mit der Zeit verändern. Das ist ganz normal.»

Rahel Erny, Architektin

Die Stadtplanung sei in Zürich lange Zeit männlich geprägt gewesen, sagt Stephanie Tuggener. Die Geografin ist Co-Präsidentin des Vereins Lares, der sich auf verschiedenen Ebenen für gender- und alltagsgerechtes Planen und Bauen einsetzt.

Das habe auch mit den sozialen Strukturen und gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun, die vor 50 Jahren herrschten: «Man baute für den erwerbstätigen, gesunden Mann, der mit dem Auto zur Arbeit und danach wieder nach Hause fährt», so Tuggener. «Haus- und Betreuungsarbeiten hingegen waren blinde Flecken in der Planung.» Obwohl es die strikte Trennung zwischen Wohnen und Arbeiten kaum mehr gibt, beziehungsweise noch nie gegeben hat, arbeitet man ihr zufolge in der Raumplanung nach wie vor mit solch starren Zonen. Noch heute werden die Anforderungen der Care-Arbeit nicht selbstverständlich in Planungen mitgedacht. Das liege vor allem an den patriarchalen, kapitalistischen Strukturen, die diese Arbeiten nicht in den Blick nehmen und als «gegeben» voraussetzen würden.

«Gendersensibles Planen kommt allen zugute – nicht nur Frauen»

Die Leidtragenden dieser Sichtweise sind allen voran die Frauen. Noch immer leisten sie einen Grossteil der Sorge- und Pflegearbeit: Im Kanton Zürich investierten Frauen im Jahr 2020 rund zehn Stunden pro Woche mehr in unbezahlte Arbeit wie Hausarbeit, Kinderbetreuung und Freiwilligenarbeit als Männer. Gleich viel wie noch 2010. Diesem Fakt werde in der Stadtplanung oft kaum Beachtung geschenkt, weiss auch Rahel Erny. «Es ist wichtig, dass Lebensmittelgeschäfte in Gehdistanz erreichbar sind oder es genügend externe Betreuungsangebote für Kinder in der Gegend gibt.» Auf dem Hunziker-Areal hätten die Planer:innen auf diese Bedürfnisse Rücksicht genommen, meint die Architektin.

Wegen baurechtlichen Vorgaben mussten gewisse Teile des Areal asphaltiert werden – mittlerweile werde wieder mehr Wert auf Pflanzen gelegt, so Rahel Erny.

Aus dem Showroom wieder draussen kommt wie abgesprochen eine Horde kleiner Kinder angelaufen. Mit ihren Warnwesten sehen sie aus wie Pylonen auf Wanderschaft – ab und zu schert eine aus und muss von der Betreuerin zur Gruppe zurückgelotst werden.

«In der Siedlung gibt es sowohl eine städtische als auch eine private Kindertagesstätte», führt Erny aus und zeigt in Richtung Turm der Kehrichtverbrennungsanlage Hagenholz. «Und dort, neben dem Recyclinghof, sind das Schulhaus und die Sportanlage Leutschenbach.» 

Über 400 Kinder und Jugendliche leben in der Siedlung. Dementsprechend umfangreich ist das Angebot für sie auf dem Gelände: Verschiedene Indoor- und Outdoor-Spielplätze sowie grosse Rasenflächen stehen den kleinsten Bewohner:innen zur Verfügung. Dass das ganze Areal autoarm ist, hilft laut Erny ebenfalls, möglichst vielen Ansprüchen gerecht zu werden und sorgt nicht nur für viel Ruhe im Quartier, sondern auch für ein hohes Sicherheitsgefühl. Zudem sei der Aspekt der Care-Arbeit mitgedacht und Allmendräume für gemeinschaftliche Aktivitäten gebaut worden. Gendersensibles Planen komme so allen zugute: «Frauen, aber auch älteren oder beeinträchtigten Menschen», so die 50-Jährige. Für sie ist klar: Eine inklusive Stadtplanung führt zu einer lebenswerteren Stadt für alle. 

Politik will Zürich gendergerechter machen

Auf diesen Zug springt nun auch die Politik auf. Mitte November forderten die GLP, SP und Grüne mit einem entsprechenden Vorstoss, dass die Stadt künftig das sogenannte «Gender-Mainstreaming» in die Raumgestaltung einfliessen lässt. Dabei geht es darum, die unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen von Menschen aller sozialen Geschlechter zu berücksichtigen, um die Gleichstellung zu verbessern. Nach dem Vorbild der Stadt Wien, die das Instrument bereits 2005 in ihre Stadtplanung integrierte hat, soll auch Zürich das Gender-Mainstreaming gesetzlich in seinen Richtplänen verankern. Ziel sei eine Stadtgestaltung für alle, so die Initiant:innen.

Während sich die Mehrheit des Stadtzürcher Parlaments für die Idee ausgesprochen hatte, kam einige Tage nach der Sitzung von rechter Ratsseite Gegenwind auf: «Der angebliche Missstand ist ein Phantom», sagte die SVP-Gemeinderätin Susanne Brunner gegenüber der NZZ. Der Vorstoss sei ein weiteres Beispiel für den «Rausch der Genderideologie».

«Bei der Europaallee wurden viele Schwachpunkte, welche im heutigen Zustand offensichtlich sind, von Lares schon damals identifiziert.»

Stephanie Tuggener, Co-Präsidentin von Lares

Nichtsdestotrotz muss sich die Stadt nun damit befassen. Dort sei eine bedürfnisorientierte Planung bereits üblich, schreibt der Medienverantwortliche des Hochbaudepartements, Lucas Bally, auf Anfrage von Tsüri.ch: «Nebst baulichen Standards und gesetzlichen Normen, werden bei Überarbeitungen von Planungswerkzeugen stets auch gesellschaftliche Veränderungen berücksichtigt und gegebenenfalls externe Expert:innen involviert.»

Weiter werde bei der Beratungstätigkeit nicht nur der Architektur und dem Stadtbild, sondern auch der Sozialverträglichkeit grosse Aufmerksamkeit geschenkt – weshalb man bei Projekten auch schon den Verein Lares beigezogen habe. Direkt über die Richtplanung könnten ganz konkrete Massnahmen aber nicht umgesetzt werden, so Bally, «weil die Richtplanung schlicht nicht auf diese Detailebene gehen darf». Sie könne aber verbindliche Hinweise für die nächsten Planungsstufen geben.

Der Preis der Priorität

Dass sich in den letzten Jahren in Zürich einiges bezüglich gendergerechter Stadtplanung getan hat, streitet weder Rahel Erny noch Stephanie Tuggener ab. Umso unverständlicher sei es für Erny, dass es in der Stadt Orte wie die Europaallee gebe. Das «Ghetto für Besserverdienende», wie der ehemalige AL-Gemeinderat Niklaus Scherr das Gebiet südwestlich des Hauptbahnhofs einmal nannte, dient nicht nur ihr sondern auch anderen Stadtplaner:innen und Architekt:innen als Negativbeispiel. Erny sieht es als ein Exempel dafür, wie sich gendergerechtes Bauen oft mit Profitmaximierung beisst. Alles eine Frage der Prioritätengewichtung, sagt sie.

Auf dem Areal gibt es auch Räumlichkeiten, die nur von den Bewohner:innen genutzt werden können: So zum Beispiel der Werkraum.

Dass es in einer Stadt preisgünstigen Wohnraum gebe, sei auch ein Ziel gendergerechter Planung, führt Tuggener aus. Sie nennt aber auch noch andere Punkte, welche das Quartier neben dem Hauptbahnhof in keinem guten Licht dastehen lassen: «Die Quergassen zwischen der Europaalle und der Lagerstrasse wirken schluchtartig, sind unattraktive, wenig belebte Räume. Ausserdem trüben fehlende Erdgeschossnutzungen, dunkle Materialien und Schatten das Sicherheitsempfinden. Das alles führt dazu, dass sich verschiedene Nutzer:innen im Gebiet nicht wohl fühlen.»

Einzig die Wasserfläche beim Gustav-Gull-Platz ist laut Tuggener «ein lebendiges Element in der ansonsten sterilen, eher monotonen Umgebung». Das reiche jedoch bei weitem nicht, um einen öffentlichen Raum attraktiv für möglichst viele Stadtbewohner:innen zu machen.

Dabei hätte die Europaallee auch anders aussehen können: Im Jahr 2008 hatte der Verein Lares ein «Gendergutachten» zum Bauprojekt erstellt. «Viele Schwachpunkte, welche im heutigen gebauten Zustand offensichtlich sind, wurden von Lares schon damals identifiziert», so Tuggener. Die Verbesserungsvorschläge seien aber zu spät gekommen, da das Projekt in der damaligen Phase keine grösseren Anpassungen mehr zugelassen hatte.

Nutzer:innen dürfen mitreden

Um solche Situationen in Zukunft zu vermeiden, hat Lares zusammen mit den Kantonen Aargau, Genf und Solothurn einen Leitfaden erarbeitet. Im «Gender-Kompass Planung» wird beschrieben, welche Rolle die Beleuchtung im öffentlichen Raum und die Übersichtlichkeit eines Gebiets für das Sicherheitsempfinden der Menschen spielt, wie belebte Erdgeschossnutzungen zur sozialen Kontrolle beitragen können oder weshalb es divers zusammengesetzte Gremien braucht, um gendersensibel planen und bauen zu können.

Bei der Planung des Hunziker-Areals sei das Augenmerk genau auf solchen Punkten gelegen, erklärt Erny. Einerseits wurden die Bedürfnisse der künftigen Nutzer:innen wurden eingebracht und adaptiert, andererseits seit dem Bezug die Zufriedenheit evaluiert und im Rahmen der Möglichkeiten räumliche Anpassungen vorgenommen: «Ansprüche, wie man wohnen und leben möchte, können sich mit der Zeit verändern. Das ist ganz normal.»

Kein konfliktfreier Raum: In der Siedlung gab es auch schon Zoff wegen lautem Tischtennis-Spielen.

Sie öffnet die Eingangstüre zu einem der 13 Gebäude der Siedlung und steigt die Treppe empor in den ersten Stock. Dort angekommen wird sie von einem Kind beäugt, das breitbeinig auf einer halbkugelförmigen Glaskonstruktion hockt. Vier Papierflieger liegen verstreut am Boden, ein weiterer kommt von oben geflogen und landet wenige Meter vor Erny. Diese winkt dem älteren Herr im zweiten Stock freundlich zu und grüsst ihn mit Vornamen. Ein bisschen wirkt die Siedlung wie ein Dorf – in sich perfekt, aber abgekapselt vom Rest, wo andere Bedürfnisse stärker gewichtet werden.

Darauf angesprochen meint Erny: «Es müssen nicht alle so wohnen wie auf dem Hunziker-Areal. Aber das Quartier zeigt, wie die Stadt aussehen könnte, wenn wir die Interessen möglichst vieler Stadtbewohner:innen gleichermassen berücksichtigen würden.»

Der Begriff «Gender»

Das Wort «Gender» kommt aus dem Englischen und beschreibt das soziale Geschlecht. Anders als die biologischen Unterschiede zwischen Frauen und Männern, umfasst es die sozialen Rollen, welche die Menschen im Alltag einnehmen, ihnen zugeschrieben oder von ihnen erwartet werden. Merh dazu, findest du hier.

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