Gemeinderats-Briefing #8: Das grosse Dankesagen - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Steffen Kolberg

Redaktor

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30. Juni 2022 um 07:00

Gemeinderats-Briefing #8: Das grosse Dankesagen

Das Gemeinderats-Briefing ist das wöchentliche Update aus dem politischen Herzen Zürichs. Was diese Woche wichtig war: Emotionen ob der Klimaangst, Grüne Vorstösse von Julia Hofstetter und der SVP.

Illustration: Zana Selimi (Foto: Zana Selimi)

Sind Gefühle eine sinnvolle politische Diskussionsgrundlage? Oder sind sie stattdessen eher gefährlich für die Demokratie? Das ist eine durchaus interessante Fragestellung. Und eine, um die sich gestern heftig im Gemeinderat gestritten wurde.

Ausgangspunkt war eine Interpellation von Julia Hofstetter und Selina Walgis (beide Grüne), die diese im September an den Stadtrat überwiesen hatten. Darin zitierten sie eine Studie, die besagt dass die Klimaangst unter Jugendlichen weltweit stark zunehme. Und sie fragten, welche Angebote die Stadt habe und plane, um der Klimaangst in der Gesellschaft zu begegnen. Die Antwort des Stadrats «irritiert mich enorm», erklärte Interpellantin Hofstetter. Der Stadtrat hatte unter anderem geschrieben, dass es wenig bringe, Klimaangst zu «pathologisieren» und dass persönliches Engagement helfen könne, «optimistisch zu bleiben». Er sicherte auch zu, dass entsprechend reagiert werde, «sollte das Thema Klimaangst an Bedeutung gewinnen.»

Hofstetter fühlte sich dadurch nicht ernst genommen: «Ich kenne die Klimaangst und ich finde es schwierig, sie auszuhalten», erklärte sie. Es brauche Orte, an denen Menschen zusammen lernen könnten, mit Unsicherheit, Angst, Trauer und Wut im Zusammenhang mit der Klimakrise umzugehen. «Positive Suggestionen können Angst und Schmerzen reduzieren», erklärte daraufhin Patrick Hässig (GLP). Man brauche progressive Lösungen gegen die Klimaangst. Vertreter von SVP und FDP dagegen warfen den Grünen vor, die Angst mit apokalyptischen Szenarien selbst zu schüren und mit Gefühls-Argumentation Populismus zu betreiben. Tausche man nur ein Wort aus, könne man das Votum von Hofstetter mit dem eines SVP-Politiker tauschen, so Përparim Avdili (FDP). Wenn er vor etwas Angst habe, dann genau vor solch einer populistischen Politik. Klar ist nach diesem Schlagabtausch jedenfalls nur eines: Wenn Emotionen irgendwo einen sicheren Platz haben, dann hinter dem Redner:innenpult des Ratssals.

Gegen Hitze, für Bio

Wir bleiben beim Klima und damit vor allem bei der Grünen Julia Hofstetter, denn gestern wurden hauptsächlich Vorstösse zum Gesundheits- und Umweltdepartement (GUD) diskutiert. Darunter eine Motion von Hofstetter und ihrem Parteikollegen Jürg Rauser, die eine Verordnung zur Ausweisung der Treibhausgas-Bilanz bei städtischen Bau- und Beschaffungsprojekten fordert. Sie solle «regeln, wie für die verlangte Treibhausgas-Bilanz eine Lebenszklus-Betrachtung vorzunehmen ist, die Produktion, Betrieb und Entsorgung umfasst.» Walter Anken (SVP) äusserte die Befürchtung, dass damit keine Gebäude aus Beton mehr gebaut werden könnten (was zugegebenermassen ein herber Verlust für Betonfreunde wie mich wäre). Andreas Egli (FDP) fasste sein Misstrauen gegenüber dem Anspruch möglichst genauer Messungen in den Worten «Wer misst, misst Mist» zusammen. Und Tanja Maag (AL) erklärte, man vertraue der Verwaltung, hier sinnvolle Kriterien anzuwenden. Ausser SVP und FDP sagten schliesslich alle Ja zur Motion.

Etwas knapper wurde es bei einem Postulat von Hofstetter, ihrem Parteikollegen Roland Hohmann und acht Mitunterzeichnenden von SP und Grünen. Für ihre Forderung nach einer Wirkungsanalyse zur Eindämmung der Hitzebelastung in der Stadt gab es lediglich eine Mehrheit von Grünen, SP und GLP. Statt der in der bestehenden Fachplanung Hitzeminderung festgelegten elf Wirkungsanalysen für stark betroffene Gebiete soll es laut Postulat eine umfassende Analyse für das ganze Stadtgebiet geben. Walter Anken (SVP) stellte klar, dass es aus seiner Sicht völlig ausreichend sei, wenn nur die betroffenen Wärmeinseln Wirkungsanalysen durchführten. Elisabeth Schoch (FDP) erklärte, mit so vielen Unbekannten ergäben Wirkungsanalysen kein sinnvolles Resultat, es handle sich daher um eine reine Beschäftigungstherapie für die Verwaltung. Michael Schmid (AL) wiederum erklärte die ablehnende Haltung seiner Partei folgendermassen: «Das Postulat fühlt sich wie eine rhetorische Frage an. Die Wahrscheinlichkeit, dass die gefoderte Wirkungsanalyse zum Schluss käme, dass die vorgesehenen Massnahmen genügen, tendiert gegen Null.»

Mit Selina Walgis (Grüne) hatte Julia Hofstetter vor über einem Jahr ein Postulat eingereicht, das die Steigerung des Bio-Anteils bei städtischen Verpflegungsbetrieben auf mindestens 50 Prozent fordert. Bei der gestrigen Behandlung dieses Vorstosses führte Walgis die Biodiversitätskrise sowie weltweit steigende Zahlen von Pestizidvergiftungen ins Feld. Einen Textänderungsantrag von Martina Zürcher (FDP), nicht nur auf die Bio-Zertifizierung, sondern auch auf Saisonalität und Regionalität und in diesem Zusammenhang das IP-Suisse-Label zu setzen, lehnte sie ab. Einen entsprechenden Antrag von Sofia Karakostas (SP), der die Forderung in die bereits bestehende Ernährungsstrategie der Stadt einbettet, nahm Walgis an. Stadtrat Andreas Hauri sprach, wie schon bei den anderen beiden Klima-Geschäften, von einer sinnvollen Ergänzung der städtischen Bemühungen, die er begrüsse. AL, SP, GLP und Grüne sorgten für eine breite Mehrheit.

«Herzlichen Dank für Ihre Gedanken dazu. Sie kommen leider ein bisschen zu spät.»

Julia Hofstetter, Grüne, über die Forderung der SVP, energetische Sanierungen mit Steuer-Rückerstattungen zu fördern.

Flanieren geht über Studieren

Die SVP erstaunte gestern mit zwei ziemlich grün anmutenden Postulaten: Zum einen legten Walter Anken und Samuel Balsiger Vorschläge für einen zügigen Heizungsersatz und die Dämmung von Gebäuden vor. Hauseigentümer:innen, die entsprechende Massnahmen umsetzen, sollten demnach mit der Rückerstattung von Steuerbeträgen auf den Eigenmietwert und die Mieterträge belohnt werden. Stadtrat Hauri lehnte das Postulat mit dem Hinweis darauf ab, dass im Herbst zwei bereits beschlossene Förerprogramme starteten: «Schauen wir doch erstmal was die auslösen, bevor wir neue Ideen hier diskutieren.» Serap Kahriman (GLP) fand die «Stossrichtung korrekt», den Vorstoss jedoch überhaupt nicht bedarfsgerecht. Selbst Albert Leiser (FDP), seines Zeichens Direktor des Zürcher Hauseigentümerverbands, erklärte, sanierungswillige Eigentümer:innen gingen zuerst auf die Fördergelder zu und richteten sich weniger nach dem Eigenmietwert. FDP und Die Mitte/EVP enthielten sich, womit nur die SVP ihrem eigenen Postulat zustimmte und damit scheiterte.

Das zweite grün schimmernde Postulat der SVP fand zwar die Zustimmung von FDP und Mitte/EVP, scheiterte damit aber trotzdem an der linksgrünen Mehrheit. In dem Vorstoss forderten Reto Brüesch und Stefan Urech, den Limmatquai an vier Sonntagen im Jahr von jeglichem fahrenden Verkehr, also auch vom ÖV und von Velos, zu befreien. Mit den «Flanier-Sonntagen» solle «mehr Freiraum als Begegnungszone geschaffen werden» und das lokale Gewerbe und der Tourismus profitieren. Die Debatte darum war geprägt von manchen ernsten und weniger ernsten Dankesreden und Anerkennungen.

Reto Brüesch dankte Michael Schmid (AL), dass dieser seinen Textänderungsantrag, für diese Tage Pop-Up-Velowege als Umleitung für die über den Limmatquai führende Velovorzugsroute zu erstellen, so früh gestellt habe. So habe er Zeit für eine Abklärung dieser Option bei der Stadtpolizei gehabt. Die Einschätzung jener sei allerdings negativ gewesen, weshalb man die Textänderung ablehne. Michael Schmid wiederum erklärte in Anspielung auf ein AL-Postulat, er hoffe, dass man nun auch mit der SVP rechnen könne, wenn es um die Einrichtung permanenter Fussgängerzonen gehe. Markus Knauss (Grüne) bedankte sich bei der SVP, «dass man sich da mal Gedanken dazu macht» und Anna Graff (SP) erklärte, ihre Fraktion habe es sehr gefreut, dass die SVP in dem Postulat anerkenne, «dass verkehrsberuhigte Strassen nicht nur für Fussgänger:innen von Vorteil sind, sondern auch für Gastronomie und Gewerbe.» Geholfen hat der Dank der SVP am Ende trotzdem nicht.

(Foto: Steffen Kolberg)

Gemeinderätin der Woche: Martina Zürcher (FDP)


Zu Digitalisierung stehe eher wenig in dem umfangreichen Werk, erklärte Martina Zürcher gestern, als sie im Gemeinderat den Geschäftsbericht der Stadtkanzlei vorstellte. Das Wort «Velo» komme dagegen 311 Mal vor, bemerkte sie etwas spitz gegenüber der linksgrünen Ratsmehrheit. Als sie beim nächsten Geschäft noch einmal an das Redner:innenpult trat, legte sie nach: «Dass ich hier gleich nochmals rede, hat nichts mit einem Gender-Protokoll zu tun, sondern damit, dass ich Kommissionspräsidentin bin.»

Zürcher wird in der Regel nicht laut oder emotional, versteht es dafür aber umso besser, solche kleinen rhetorischen Seitenhiebe in ihre Reden einzubauen. Seit ihrem Eintritt in den Gemeinderat 2018 gehört sie der Geschäftsprüfungskommission an, ist seit dieser Legislaturperiode deren Präsidentin. Sie sei in die Kommission hineingerutscht, als sie in den Rat nachrückte, erzählt die 35-Jährige. Es sei eine sehr vielseitige Kommission, man bekomme einen Einblick in viele Verwaltungsbereiche. Gleichzeitig sei sie als Aufsichtskommission «etwas unpolitisch». Dass es ganz gut zu ihrem Job als Aktuarin bei dem Versicherer Swiss Life passt, findet sie zwar nicht unbedingt: «Aber da ich eher ein rationaler Mensch bin, passt das eigentlich schon zu mir.»

Zürcher wohnt seit ihrer Kindheit in Höngg. «Und ich werde hier wahrscheinlich auch bleiben», lacht sie. Hier wurde sie vor 14 Jahren Teil einer kleinen Rebbaugruppe, der sie inzwischen vorsteht. Als Mutter eines Kleinkindes äusserte sie sich Anfang des Jahres gegenüber Tsüri.ch zur Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Gemeinderatsmandat. Doch sie politisiere auch gern zu Themen wie Sicherheit und Verkehrspolitik, so Zürcher. Zu Letzterem aus einem etwas unerwarteten Blickwinkel: «Ich bin diejenige, die in unserer Fraktion am meisten Velokilometer abspult – und zwar mit Abstand.»

Warum sind Sie Gemeinderätin geworden?
Weil ich nicht nur am Stammtisch reklamieren wollte, was nicht gut läuft, sondern etwas dagegen tun will. Dazwischen lagen natürlich noch einige engagierte Wahlkämpfe und viel Herzblut für meine Kreispartei FDP 10.

Mit welche:r Ratskolleg:in der Gegenseite würden Sie gerne mal ein Bier trinken gehen?
Grundsätzlich mit allen. Ich versuche (meistens) Persönliches von Politischem zu trennen. In unserem politischen System ist es wichtig, dass man sich nach einem teils intensiven Schlagabtausch am Rednerpult am nächsten Apéro wieder unterhalten kann und vielleicht Gemeinsamkeiten in einem ganz anderen Bereich findet.

Welches Abstimmungsergebnis hat Sie bisher am meisten geärgert?
Als wir am 6. April 2022 nach Aufhebung sämtlicher Corona-Massnahmen über die Rückkehr vom «Corona-Exil» in der Messehalle zurück ins Rathaus abgestimmt haben und sich diejenigen durchgesetzt haben, die es in der Messehalle bequemer finden, weil man mehr Platz hat und einfacher zur Toilette gehen kann. Seit 1698 ist das Rathaus ordentlicher Sitzungsort und man könnte – so plötzlich wie man es im März 2020 verlassen hat – wieder zurückkehren.

Weitere Themen der Woche:

  1. Ein Postulat von Walter Angst (AL) und Marion Schmid (SP), das einen substanziellen Bericht zum Angebot an preisgünstigen Wohnmöglichkeiten und betreuten Einrichtungen für ältere Menschen fordert, ist gestern einstimmig vom Gemeinderat an den Stadtrat überwiesen worden.
  2. Gegen zwei Postulate aus der FDP und der SVP, die die Aufhebung des vom Stadtrat beschlossenen Verbots von Bierwerbung an Gaststätten fordern, hat Dominik Waser (Grüne) gestern einen Ablehnungsantrag gestellt. Sie werden somit nicht diskussionslos an den Stadtrat überwiesen, sondern an einer späteren Sitzung diskutiert.
  3. Anna Graff (SP) und David Garcia Nuñez (AL) haben gestern zwei Vorstösse zu einer 35-Stunden-Woche eingereicht. In einer Motion fordern sie den Stadtrat auf, ein entsprechendes Pilotprojekt in städtischen Betrieben aufzugleisen, das auch Berufsgruppen aus dem Care-Bereich, der Polizei und der VBZ umfassen solle. In einem Postulat fordern sie die Prüfung eines ähnlichen Pilotversuchs mit interessierten privatwirtschaftlichen Unternehmen.
  4. Der aktuell rekordhohe Frauenanteil im Zürcher Gemeinderat wird ab Sommer bereits wieder schrumpfen. Wie der Stadtrat in einer Medienmitteilung schreibt, haben Ursula Näf (SP) zum 31. Juli und Regula Fischer (AL) zum 31. August ihren Rücktritt eingereicht. Für beide sollen jeweils männliche Kollegen nachrücken. In der AL-Fraktion bleibt damit mit Tanja Maag nur noch eine Frau übrig.

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