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Gemeinderats-Briefing #43: Zürich, Mutter Theresa der Arbeitgeber:innen?

Das Gemeinderats-Briefing ist das wöchentliche Update aus dem politischen Herzen Zürichs. Was diese Woche wichtig war: Velosicherheit, Neuordnung der Goodies für Stadtangestellte, politische Rechte für Verbeiständete.

Ich bin froh, führt mein Arbeitsweg auf dem Velo zum grössten Teil an der Limmat entlang. So habe ich jeden Tag viel Grün, Wasser und frische Luft um mich herum. Zwar muss ich mir den Weg mit freilaufenden Hunden, Kindern und Jogger:innen teilen, aber als stärkster Verkehrsteilnehmer kann ich weitestgehend bestimmen, wie gefährlich eine Situation wird. Und wenn ich meine Geschwindigkeit und meinen Abstand dem Geschehen anpasse, ist es in den allermeisten Fällen recht ungefährlich.

Anders sieht es auf dem letzten Abschnitt des Wegs durch die Kreise 4 und 5 aus: Hier sind Autos und Trams die deutlich stärkeren Verkehrsteilnehmer und während ich bei letzteren wenigstens weiss, wo sie lang fahren können, muss ich bei ersteren einfach hoffen, dass sie ihrerseits Geschwindigkeit und Abstand dem Geschehen anpassen.

Illustration: Zana Selimi (Foto: Zana Selimi)

Zu den gefährlichsten Situationen auf dem Velo in der Stadt gehörten schnelles und enges Überholen von Autofahrenden, das Abschneiden des Wegs durch diese, das Dooring, also das Öffnen der Autotüre ohne über die Schulter zu schauen, sowie die häufig zunehmende Aggressivität von Autofahrenden, wenn man sich als Velofahrer:in an die Sicherheitsvorgaben hält, also zum Beispiel wegen der Gefahr des Dooring einen Abstand von einem Meter zu parkierten Autos einhält. So zählte es gestern Michael Schmid (AL) auf.

Schmid hatte mit Anna Graff (SP) ein Postulat eingereicht, das eine Sensibilisierung der Stadtpolizei zum Thema Veloverkehrssicherheit fordert. Diese hätten nämlich manchmal Schwierigkeiten, Gefährdungen für Velofahrende zu erkennen, gäben manchmal sogar Verhaltensempfehlungen an Velofahrende, die deren Sicherheit verschlechterten, zum Beispiel auf den Dooring-Abstand zu verzichten. Das habe sich in Gesprächen mit Betroffenen sowie Polizist:innen gezeigt, so Schmid. Auch ein Anreiz für Polizist:innen selbst mit dem Velo zur Arbeit zu fahren, könne das Bewusstsein für Sicherheitsprobleme erhöhen.

Bei der zuständigen Sicherheitsvorsteherin Rykart stiess der Vorstoss auf wenig Gegenliebe: Viele Polizist:innen führen bereits mit dem Velo zur Arbeit, das Bewusstsein für Velosicherheit sei bereits breit vorhanden, erklärte sie. Vorwürfe musste sie sich von der SVP-Autofraktion um Derek Richter und Stephan Iten trotzdem anhören: Unter der Grünen Polizeichefin dürften Zürcher Polizist:innen Velofahrende gar nicht für ihr Fahrverhalten büssen, raunten sie. Überhaupt seien vor allem die Velofahrenden, die die Verkehrsregeln missachteten, das Sicherheitsproblem und bedürften selbst Schulungen. Auch Caudio Zihlmann (FDP), der sich selbst als Velofahrer bekannte, befand: «Ich frage mich schon, ob nicht einige Velofahrende einen Kurs im Aufeinander-Rücksicht-Nehmen oder im Rechtsvortritt nehmen sollten.»

Die einstündige Debatte um Velosicherheit im Strassenverkehr umfasste noch zwei weitere Postulate. Die beiden Grünen Urs Riklin und Roland Hohmann forderten, an mindestens zehn Strassenkreuzungen mit Ampeln einen Testbetrieb mit der maximal zulässigen Grösse sogenannter Velosäcke zu starten. Diese zusätzlichen Veloflächen vor der Auto-Haltelinie sollen einen früheren Start der wartenden Velos ermöglichen und so die Sicherheit erhöhen. Durch den Testbetrieb solle ermittelt werden, ob der zusätzliche Platz im Vergleich zu den bisherigen Velosäcken einen Sicherheitsgewinn bringt und wie sich dieser wiederum im Vergleich mit der früheren Grünphase für Velos schlägt, die es mancherorts schon gibt. Tanja Maag (AL) fand, es brauche keinen Testbetrieb, sondern bereits jetzt die maximale Grösse an Velosäcken. Sie schlug vor, den «Testbetrieb» aus dem Postulat zu streichen, und fügte, wahrscheinlich schon mit Blick auf die breite Zustimmung im Rat, hinzu, andernfalls werde die AL das Postulat ablehnen.

In einem weiteren Velosicherheits-Vorstoss forderten Markus Knauss (Grüne) und Sven Sobernheim (GLP), angesichts der langsamen Umsetzung der Velovorzugsrouten, alle geplanten Routen bereits jetzt mindestens an ihren Anfangs- und Endstücken mit grünen Streifen zu markieren. Dies solle den Velofahrenden signalisieren, wo die für sie geplanten Velorouten liegen, unabhängig von ihrem jeweiligen Ausbaustand. Es schaffe zudem Transparenz über die Planungen und fördere durch zunehmenden Veloverkehr die Akzeptanz der Routen. Martina Zürcher präsentierte einen Textänderungsantrag ihrer FDP: Da sich die grüne Farbgebung noch in der Erprobungsphase befinde, solle die Markierung erst nach erfolgreicher Erprobung stattfinden. In eine etwas andere Richtung ging der Textänderungsvorschlag von Anna Graff (SP): Da es kontraproduktiv sein könnte, mit der Markierung die Sicherheit einer bereits umgesetzten Velovorzugsroute zu suggerieren, solle bei der Umsetzung durch den Stadtrat darauf geachtet werden, dass nicht der Eindruck entstehe, die Vorzugsroute sei bereits umgesetzt.

Knauss nahm die Textänderung der SP an und lehnte die der FDP ab, das Postulat wurde von AL, Mitte/EVP, FDP und SVP abgelehnt, die Stimmen von SP, Grünen und GLP reichten aber für eine Mehrheit von 68 zu 49 Stimmen aus. Über den Grünen-Vorstoss für einen Testbetrieb grösserer Velosäcke wurde ohne die Textänderung der AL abgestimmt, diese votierte dementsprechend als einzige Fraktion neben der SVP dagegen. Michael Schmids und Anna Graffs Forderung nach einer Sensibilisierung der Stadtpolizei kam mit der Mehrheit von SP, Grünen und AL aufgrund einiger Abwesenheiten auf der rechten Ratsseite locker durch.

Neuordung der Goodies für Stadtangestellte

In einer umfassenden Weisung legte der Stadtrat dem Gemeinderat eine Teilrevision des städtischen Personalrechts für Lohnnebenleistungen, sogenannte Fringe Benefits, vor. Während die bisherige Regelung zum Verpflegungsbeitrag – zum Beispiel in Form von Lunch Checks – darin übernommen wird, soll eine zusätzliche Angebotsmöglichkeit mit einem Moblitätsbeitrag geschaffen werden, der eine Beteiligung an den Kosten für öffentliche Verkehrsmittel, das Velo oder andere umweltfreundliche Verkehrsmittel vorsieht. Zudem soll es die Möglichkeit für ermässigten Eintritt zu städtischen Einrichtungen und Angeboten in Kultur und Sport geben.

So umfassend die Weisung, so umfassend waren auch die Änderungswünsche aus der gemeinderätlichen Finanzkommission: Ganze sechs Änderungsanträge umfassten unter anderem eine Erhöhung des Verpflegungsbeitrags, einen gegenseitigen Ausschluss des Bezugs des Mobilitätsbeitrags und der Nutzung von Personalparkplätzen oder eine Beteiligung an den Kosten für Car-Sharing, wenn nachgewiesen kann, dass öffentliche Verkehrsmittel aufgrund der Einsatzzeiten nicht genutzt werden können. Nur der Antrag, der die gleichzeitige Nutzung von Personalparkplätzen und Mobilitätsbeitrag verhindern will, wurde von einer Mehrheit des Rats unterstützt.

Ein Begleitpostulat von Martin Busekros und Yves Henz (beide Grüne) verlangte, in die Mobilitätsbeiträge auch Abonnements zur Nutzung stationsgebundener Veloverleihsysteme zu integrieren. Hans Dellenbach (FDP) kritisierte unter anderem, dass es mit Publibike in diesem Bereich nur einen einzigen, halbstaatlichen Anbieter gebe, der damit zum Nachteil von Wettbewerber:innen staatlich subventioniert werde. Verhindern konnte er damit aber nicht, dass eine Mehrheit von SP, Grünen, GLP und AL das Postulat unterstützte.

«Ich war selbst überrascht, wieviele Millionen hier Jahr für Jahr Mutter-Theresa-mässig verteilt werden.»

Martin Götzl (SVP) über die Lohnausgaben der Stadt Zürich

Hitzig wurde die Debatte bei zwei Postulaten von der bürgerlichen Seite des Rates, die an die Fringe-Benefits-Debatte anschlossen. Martin Götzl (SVP) forderte in einem gemeinsamen Vorstoss mit Isabel Garcia (FDP) eine Beschränkung des Anstiegs der städtischen Lohnkosten auf das Wachstum der Bevölkerung, zusammen mit Serap Kahriman (GLP) in einem anderen Postulat die Beschränkung des städtischen Stellenwachstums auf das Bevölkerungswachstum. Damit habe die linke Ratsseite die Wahl, auf welche Weise sie das steigende Wachstum der Personalkosten bremsen wolle, so Götzl.

Die Diskussion entwickelte sich schnell zu einem Zahlen-Pingpong. Götzl sprach von einem Plus der Lohnkosten zwischen 2011 und 2021 von 22 Prozent bei 11 Prozent Bevölkerungswachstum. «Ich war selbst überrascht, wieviele Millionen hier Jahr für Jahr Mutter-Theresa-mässig verteilt werden», sprach er über seine Zahlenrecherche. Deren Korrektkeit stellte Florian Blättler (SP) in einer scharfen Reaktion in Frage: Die präsentierten Zahlen seien irreführend und teilweise sogar falsch, behauptete er. So liege das Wachstum der Lohnkosten im fraglichen Zeitraum bei 18,5 und nicht bei 22 Prozent. Den mit Abstand grössten Anteil daran habe der Schulbereich, in dem die zusätzlichen Stellen auch dringend nötig seien.

Auch Patrik Maillard (AL) sprach von einer Milchbüchlirechnung, die verschiedenste Faktoren ausblende und dazu führen könne, dass man für zukünftige politische Vorhaben und Herausforderungen kein Personal mehr einstellen könne. Christian Traber (Die Mitte) sagte, seine Fraktion werde beiden Postulaten zustimmen, wenn auch «nicht euphorisch». Schliesslich formuliere man als Parlament ständig Wünsche an den Stadtrat, die zu Stellenwachstum führten. Doch bei einem Postulat handle es sich schliesslich lediglich um die Bitte der Prüfung von Massnahmen und nicht um eine Pflicht zur Umsetzung. Für das Postulat von Götzl und Garcia stimmten SVP, FDP und die Mitte/EVP, für das Postulat von Götzl und Kahriman zusätzlich noch die GLP. Beide fanden damit keine Mehrheit.

Politische Rechte für Verbeiständete

Wenig Widerspruch erntete der Beschlussantrag der SP-, Grüne-, AL-, GLP- und Mitte-Fraktion, der die Einreichung einer Behördeninitiative beim Kantonsrat verlangt, die eine Rechtsgrundlage schaffen soll für die Einführung eines Stimm- und Wahlrechts in den Gemeinden für Menschen mit einer Beistandschaft. Islam Alijaj (SP) verwies in seinem Votum auf die UN Behindertenrechtskonvention, die die Schweiz 2014 unterzeichnet habe und die sie dazu verpflichte, die Hürden für Menschen mit Behinderungen abzubauen. Nachdem ein ähnlicher Vorstoss im Kanton Genf bereits erfolgreich gewesen sei, «sollten wir ein starkes Signal an den Kantonsrat senden, damit sich unsere Kolleg:innen mit Beistandschaft politisch engagieren können», so Alijaj.

Michael Schmid (FDP) sagte dem Anliegen seine generelle Unterstützung zu, doch könne man dem Vorstoss nicht zustimmen, da er in einem Punkt zu weit gehe: Er fordere das politische Stimm- und Wahlrecht für Personen, die als dauernd urteilsunfähig beurteilt werden, und das sei de facto ein Mehrfachstimmrecht für deren Beistände. «Wenn Sie der Meinung sind, dass Menschen zu Unrecht als urteilsunfähig beurteilt werden, dann lassen Sie uns das gemeinsam ändern», sagte er: «Aber das ist eine andere Sache.» Stefan Urech (SVP) stimmte Schmid in seiner Begründung voll und ganz zu.

Karin Weyermann (Die Mitte) berichtete aus eigener Erfahrung, dass die Entscheide der KESB in manchen Fällen nicht so massgeschneidert seien, dass sie die Urteilsfähigkeit in Bezug auf das Stimm- und Wahlrecht berücksichtigten. Gerade im politischen Bereich gäbe es aber Menschen, die sich stark dafür interessierten und die das Stimm- und Wahlrecht bestimmt genauso gut wahrnehmen könnten wie der Rest der Bevölkerung. Tanja Maag (AL) fand, dass die Gefahr des Missbrauchs durch Beistände nicht höher sei als bei hochbetagten Senior:innen oder Blinden. Martina Zürcher (FDP) hielt dagegen, dass von den über 4000 verbeiständeten Menschen im Kanton nur 172 eine umfassende Beistandschaft hätten und diese jeweils einer Einzelprüfung unterzogen worden seien. FDP und SVP blieben mit ihrer ablehnenden Haltung allerdings allein.

Weitere Themen der Woche

  1. Der Stadtrat beantragte dem Gemeinderat mit einer Weisung Ausgaben von über 150 Millionen Franken für den Ersatzneubau der Schulanlage Triemli B und C sowie eine Erweiterung der benachbarten Schulanlage In der Ey. Mit der Vorlage wurden die bei Schulneu- und -umbauten inzwischen üblichen Begleitpostulate der Grünen mitdiskutiert: Urs Riklin und Balz Bürgisser forderten im einen Vorstoss eine attraktive Veloinfrastruktur inklusive genügender witterungsgeschützter Veloabstellplätze, die bislang nur für die Lehrkräfte vorhanden seien. Im zweiten Postulat forderten sie den Erhalt der Spielwiese vor dem Kindergarten In der Ey mittels Auslagerung der dort geplanten Pflichtparkplätze. Das dritte Postulat der beiden forderte eine Reduzierung der Parkplätze auf dem Schulareal beider Schulanlagen auf ein Minimum. Während die städtische Weisung nur von der SVP abgelehnt wurde, wurden die Postulate zusätzlich noch von der FDP abgelehnt. Beim dritten Postulat gesellten sich auch noch die Mitte/EVP zu den Nein-Sager:innen, gefährdeten die Mehrheit damit aber trotzdem nicht.
  2. David Garcia Nuñez verlas eine Fraktionserklärung seiner AL, die auf den angekündigten Bericht des Stadtrats zur Auslagerung des Stadtspitals aus der Stadtverwaltung einging. Das Defizit des Stadtspitals habe mehr mit unterdotierten Fallpauschalen als mit seiner Rechtsform zu tun, die Bedrohungen des Spitals sowie der gesamten Gesundheitsversorgung beruhten auf strukturellen und nicht verwaltungstechnischen Gründen. Die AL werde jeden Vorschlag, der zur Verschlechterung der medizinischen Situation führe, bekämpfen. Michael Schmid (FDP) wies in einer persönlichen Erklärung darauf hin, dass es im Rat eigentlich Usanz sei, Erklärungen zu Geschäften noch nicht abzugeben, wenn diese erst noch in die Kommissionen überwiesen und dort diskutiert werden. Nicolas Cavalli (GLP) betonte, man solle progressiv vorwärts machen und er fände es schade, dass die AL in dieser Frage schon so früh in die Fundamentalopposition gehe.
  3. Nach dem Ende der Fussballsaison kamen zwei Parlamentarier:innen in persönlichen Erklärungen auf den FCZ zu sprechen. Christine Huber (GLP) ging auf die Einschränkungen des öffentlichen Verkehrs nach Fussballspielen ein, die vor über einem Jahr als temporäre Massnahme aufgrund der Sicherheitslage eingeführt wurden und forderte, das Recht der Anwohner:innen von Albisrieden und Altstetten auf einen funktionierenden öV zu beachten. Johann Widmer (SVP) störte sich an den Graffitis von FCZ-Fans im Stadtgebiet und verkündete, dass er nach einer mit Martina Zürcher (FDP) eingereichten schriftlichen Anfrage nun auch einen Brief an FCZ-Präsient Canepa geschrieben und ihn um Stellungnahme gebeten habe.
  4. Vertreterinnen der gemeinderätlichen IG Frauen nutzten in Vorbereitung auf den feministischen Streiktag am 14. Juni persönliche Erklärungen, um in einer Serie Frauen aus der Zürcher Geschichte zu porträtieren. Während Carla Reinhard (GLP) die Gynäkologin und Frauenrechtlerin Betty Farbstein-Ostersetzer vorstellte, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für eine Fristenlösung beim Schwangerschaftsabbruch genauso wie für eine Zusammenarbeit des Arbeiterinnenvereins mit bürgerlichen Frauengruppen ausgesprochen habe, ging Anna-Béatrice Schmaltz (Grüne) auf die Pionierin der Lesbenbewegung Anna Vock ein, die mit ihrem «Damenklub Amiticia» ein wichtiges Refugium für queere Menschen in den 30er-Jahren geschaffen habe. Selina Frey (GLP) stellte die Ökonomin Elsa Felicia Gasser-Pfau vor, die eine der ersten weiblichen Führungsfiguren in der Migros gewesen sei und sich an der Seite Gottlieb Duttweilers unter anderem für das kulturelle Engagement der Migros und ihren Einsatz für das Frauenstimmreicht stark gemacht habe.

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