Gemeinderats-Briefing #40: Schlimme Erinnerungen - Tsüri.ch #MirSindTsüri
account iconsearch

Gemeinderats-Briefing #40: Schlimme Erinnerungen

Das Gemeinderats-Briefing ist das wöchentliche Update aus dem politischen Herzen Zürichs. Was diese Woche wichtig war: Politisch neutrale Schule, Auseinandersetzung mit und um Rechtsextremismus, Schulpsychologischer Dienst in Schwamendingen.

Illustration: Zana Selimi

Für einmal konnte ich gestern mit Stefan Urech (SVP) mitfühlen, als dieser in die eigene Biografie hinabstieg und davon erzählte, welchen Mut es gebraucht habe, um als Schüler mit einer bürgerlichen Meinung gegen eine vornehmlich linke Lehrer:innenschaft zu argumentieren. Er berichtete davon, wie Lehrkräfte sich nach Unterrichtsende versichert hätten, ob er denn wirklich der Meinung sei, Christoph Blocher nach dessen Abwahl verteidigen zu müssen, oder ob er denn wirklich sicher sei, nicht mit auf die Demo gegen den damaligen US-Präsidenten George W. Bush gehen zu wollen.

Ich ging etwa zur gleichen Zeit wie Stefan Urech aufs Gymnasium, doch weil es sich um eines der von ihm in der gestrigen Diskussion immer wieder hochgelobten Schulhäuser auf dem Land handelte, waren die Vorzeichen bei mir genau umgekehrt. Mit Grauen denke ich an die Ohnmacht zurück, die ich beispielsweise gegenüber einer Lehr- (und damit leider auch Autoritäts-)person empfand, die vor der ganzen Klasse schadenfreudig über die Wahlniederlage der ersten rot-grünen deutschen Bundesregierung frohlockte. Oder ein anderes Mal, in der so typisch ländlichen Mischung aus Konservatismus und Alkoholismus, Tiraden über die in seinen Augen ausufernde Zuwanderung ausstiess, die in der keineswegs ironisch gemeinten Prophezeiung gipfelten, in 20 Jahren heisse der deutsche Bundeskanzler «Döner» [sic!].

Doch zurück zum Gemeinderat und zu Stefan Urech. Der hatte sich zum Blick in die eigene Schulzeit veranlasst gefühlt, nachdem Balz Bürgisser (Grüne) dem Plenum eröffnet hatte, dass Urech früher sein Mathematikschüler gewesen war. Für Bürgisser ein Beweis, dass er als Grüner seine Schüler trotz seiner Überzeugungen nicht nachhaltig politisch beeinflusst habe. Die Vorstellung politisch neutraler Lehrkräfte sei eine Illusion, erläuterte er. Aber das bedeute noch lange keine politische Vereinnahmung.

Ausgang der Debatte war ein Postulat von Samuel Balsiger und Johann Widmer (beide SVP), die darin einforderten, dass der Stadtrat die uneingeschränkte Achtung einer politisch neutralen Volksschule gemäss Kantonsverfassung prüfen solle. Widmer sah in seinem Votum die geforderte Neutralität in Gefahr. «Linke Utopien, Klimawahn, Gender-Gaga, marxistische Theorien, Queerfeminismus sind Themen, die ihr heute politisch an die Schulen bringt», warf er einer nicht näher bestimmten Linken vor. Als Beweis diente ihm die Unterstützung aus dem links-grünen Lager für die Besetzung des Gymnasiums Enge Anfang des Jahres.

«Die Schüler werden mit marxistischem und sozialistischem Schlamm beworfen.»

Johann Widmer, SVP, sieht die neutrale Volksschule in Gefahr

Yasmine Bourgeois (FDP) pflichtete Widmer bei, wenn auch in weniger markigen Worten. Sie brachte Beispiele aus ihrem Alltag als Schulleiterin, wo speziell unterrichtsergänzende Lehrmittel und Angebote von städtischer Seite fast vollständig auf Umwelt- und Klimaschutz fokussierten und beispielsweise das Auto häufig schlecht darstellten.

Balz Bürgisser stellte klar, dass der Klimawandel keine Propaganda, sondern Bildung gemäss dem Lehrplan sei. Sven Sobernheim (GLP) wiederum fand, ein Postulat, das lediglich fordere, der Stadtrat solle sich an die Kantonsverfassung halten, sei für die Schublade und allein deshalb abzulehnen. Er bemerkte zudem, in diesem Zusammenhang könne man auch gleich über eine Beeinflussung des eigenen Fahrverhaltens durch den TCS diskutieren, schliesslich habe dieser ihm im Kindergarten einen Bändel gesponsert. Mit 45 Stimmen aus SVP, FDP und der Mitte hatte das Postulat kein Chance gegen die 75 Stimmen der Gegner:innen.

Auseinandersetzung mit und um Rechtsextremismus

Nur wenig knapper ging die Abstimmung zu einem anderen Postulat im Spannungsfeld Politik und Schule aus. Mit 68 zu 49 Stimmen stand eine Mehrheit aus SP, Grünen und GLP hinter der von allen drei Fraktionen eingereichten Forderung, regelmässig und wiederkehrend ab der Mittelstufe eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Themen Rechtsextremismus und menschenverachtende Ideologien einzuführen.

Das Thema liege ihm sehr am Herzen, erklärte Ronny Siev (GLP) in seiner Begründung. Er erzählte von Schulbesuchen, in denen er den Schüler:innen die Leidensgeschichte seiner Familie im Holocaust näherbringe. Rechtsextreme und andere menschenverachtende Ideologien seien heute allgegenwärtig und verbreiteten sich über soziale Medien genauso wie in Familien. Dominik Waser (Grüne) meinte, Sensibilisierung sei der wichtigste Hebel, um ein Abrutschen von Menschen in diese Ideologien zu verhindern.

Martina Zürcher (FDP) wollte per Textänderungsantrag erreichen, dass «Rechtsextremismus» durch «gewaltbereiter Extremismus» ersetzt wird. Ihr Fraktionskollege Michael Schmid erläuterte, es gehe genauso um rechtsextreme wie linksextreme und dschihadistische Gewalt. «Sie blenden das Thema Linksextremismus gezielt aus», fand auch Roger Föhn (EVP), der die Textänderung der FDP unterstützte.

Moritz Bögli wiederholte die bereits in früheren Diskussionen zum Rechtsextremismus vorgetragene Position seiner AL, dass der bürgerliche Staat kein verlässlicher Partner im Kampf gegen den Faschismus sei und bezeichnete den Vorstoss als «netten Versuch». Statt einer Sensibilisierung, die sich, wie von den Postulant:innen gefordert, mit dem Kleidungsstil «hipper» Rechtsradikaler auseinandersetzt, brauche es eine Bildung, die diskriminierungssensibel sei: «Wir brauchen einen strukturellen Wandel, unsere Lehrmittel sind zum Beispiel immer noch durchzogen mit rassistischen Inhalten.» Er forderte mit einer Textänderung die Umwandlung von «Rechtsextremismus» in «Neofaschismus» und befand, das Postulat sei ansonsten abzulehnen.

Da die Postulant:innen beide geforderten Textänderungen ablehnten, blieb die Unterstützung von FDP, Mitte/EVP und AL aus. Die SVP stellte sich von Anfang an gegen das Postulat: Jean-Marc Jung erkannte zwar die Singularität des Holocaust sowie die Gewalt, die vom Rechtsextremismus ausgeht, an. Der Linksextremismus sei aber aufgrund seiner Gewaltgeschichte auch ernst zu nehmen, meinte er mit Blick unter anderem auf den Holodomor, den durch stalinistische Zwangsmassnahmen herbeigeführten millionenfachen Hungertod von Ukrainer:innen in den 1930er-Jahren.

Schwamendingen soll Schulpsychologischen Dienst behalten

Dafi Muharemi (SP) bewies mit seinem ersten eingereichten Postulat ein glückliches Händchen. Der Schwamendinger fand nicht nur den inzwischen zurückgetretetenen Christian Monn (GLP) als Mitstreiter, sondern auch Unterstützer:innen mit Quartierbezug aus fast allen Fraktionen als Mitunterzeichner:innen. Sie forderten, dass der Schulpsychologische Dienst (SPD) Schwamendingen seinen Standort im Quartier behalten soll.

Muharemi erläuterte kurz die Ausgangssituation: Nachdem die städtische Strategie, die Standorte der Gesundheitsdienste auf vier Standorte zu konzentrieren, im letzten Jahr sistiert worden sei, hätte es eigentlich weiter einen SPD pro Schulkreis geben sollen. Doch in Schwamendingen steht das Verwaltungsgebäude, das ihn beherbergt, vor dem Abriss, die Gesundheitsdienste sollen mitsamt SPD nach Oerlikon zügeln. In eher bildungsfernen Familien sei die Bereitschaft bereits jetzt nicht sehr gross, den Schulpsychologischen Dienst in Anspruch zu nehmen, so Muharemi. Durch die weitere Anreise werde dieser Umstand noch erschwert.

Snezana Blickenstorfer (GLP), ebenfalls Schwamendingerin und Nachfolgerin von Christian Monn im Rat, bestätigte, dass die Hürde besonders gross sei, psychologische Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen: «Besonders stossend ist, wenn es die Schwächsten, die Schüler:innen trifft.» Auch Roger Föhn (EVP) hielt das Postulat für unterstützenwert. Stefan Urech (SVP) dagegen fand, beim ÖV einmal umsteigen zu müssen, sei nicht das Problem.

Stadtrat Filippo Leutenegger bekundete sein Beileid, doch der Zug sei mittlerweile abgefahren. Man habe nach einem Standort gesucht, doch nichts gefunden, der Stadt sei nichts anderes übrig geblieben, als das Angebot in Oerlikon anzunehmen. Andreas Kirstein (AL) pflichtete ihm bei, dass es nun wohl wirklich schon zu spät sei. Trotzdem gelte es, sich gerade bei solchen Anliegen zur Decke zu strecken. Stadtrat Leutenegger schob noch nach, dass in der Regel nicht die Eltern den Gang zum SPD initiierten, sondern die Schulen. Bis auf die SVP (deren Fraktionsmitglied Bernhard im Oberdorf den Vorstoss ursprünglich mit unterzeichnet hatte) überwiesen trotzdem alle Ratsmitglieder das Postulat an ihn. Es wird sich zeigen, wie viel Glück dem Anliegen beim Stadtrat beschieden ist.

Weitere Themen der Woche:

  1. Zwei Schulerweiterungen: Ohne Gegenstimme stimmte der Gemeinderat gestern einer Weisung des Stadtrats zu, die einen Bericht für einen Projektierungskredit zur Erweiterung des Schulhauses Milchbuck in Unterstrass beinhaltete. Kontroverser wurde eine Weisung über einen Projektierungskredit für die Erweiterung und Instandsetzung des Schulhauses Staudenbühl in Seebach diskutiert: SVP und FDP monierten die projektierten hohen Kosten, Grüne und SP wollten einen grösseren Mehrzweckraum sowie keine neuen Parkplätze auf dem Schulareal und setzten sich mit diesen Anliegen durch. Der Projektierungskredit wurde nur von der SVP abgelehnt, die FDP ging in die Enthaltung.
  1. Mit grosser Mehrheit stimmte der Gemeinderat gestern einem Postulat von Martin Götzl (SVP) und Anjushka Früh (SP) zu. Darin wird gefordert, die Fussballfelder der Sportanlage «Eichrain» in Seebach für eine optimalere Ausnutzung umzugestalten, um insbesondere für den Frauen- und Mädchenfussball zur Verfügung zu stehen. Dass dafür neben einer Beleuchtung bis 22 Uhr auch die Umwandlung eines Naturrasen- in ein Kunstrasenfeld gefordert wird, brachte einen Grossteil der Grünen dazu, als einzige im Rat dagegen zu stimmen. Balz Bürgisser begründete die Ablehnung mit der grösseren Hitzeentwicklung auf Kunstrasenfeldern sowie mit der Problematik des Mikroplastik, die mit diesen entstehe. Lisa Diggelmann (SP) widersprach Bürgisser: Die Hitzeentwicklung hänge auch stark von der Umgebung des betreffenden Felds ab, zudem baue die Stadt nur unverfüllte Kunstrasenplätze und umgehe damit das Mikroplastik-Problem.
  1. Islam Alijaj (SP) sprach gestern im Rahmen einer persönlichen Erklärung im Namen von Behindertenrechtsaktivist:innen deren Forderungen nach einem kantonalen Wahl- und Stimmrecht für Menschen mit kognitiven Behinderungen an. Er bedankte sich für die Unterstützung einer Mehrheit der Ratsmitglieder für eine entsprechende Behördeninitiative, die die Stadt gestern beim Kantonsrat einreichte.
  1. Stefan Urech (SVP) kam in einer persönlichen Erklärung auf ein gestern von der Stadt vorgestelltes Lehrmittel zum Kolonialismus und der Stadt Zürich zu sprechen. Man habe grosse Herausforderungen wie den Lehrpersonenmangel oder zuletzt die Möglichkeiten von ChatGPT, doch die rotgrün regierte Stadt habe völlig andere Prioritäten, monierte er.
  1. Neben Susanne Brunner hatte gestern auch Peter Anderegg (EVP) seine letzte Sitzung im Gemeinderat. Der 65-Jährige erklärte in seinem Rücktrittsschreiben, er wolle einer jüngeren Generation Platz machen. Die Aufgabe habe allerdings nichts an ihrem Reiz verloren und er könne noch ewig weitermachen. Ratspräsident Probst erinnerte daran, dass Anderegg, der mit Unterbrüchen schon sein 1992 im Rat sitzt, von Ratskolleg:innen auch schon als «alte Eiche» bezeichnet worden sei.
  1. Mit einer Schweigeminute ehrten die Ratsmitglieder den schon im letzten Dezember 93-jährig verstorbenen alt-Gemeinderatspräsident Alfred Messerli. Messerli, der zunächst als Schriftsetzer und später als Journalist gearbeitet habe, sei 1958 für den Kreis 4 in den Gemeinderat gewählt worden, erzählte Gemeinderatspräsident Matthias Probst. Für seine Wahl zum Gemeinderatspräsidenten 1968 habe das SP-Mitglied drei Anläufe gebraucht, da er dem bürgerlich dominierten Rat als zu links gegolten habe.

Willst du das Gemeinderats-Briefing direkt per Mail bekommen? Dann kannst du dich hier anmelden:

Das könnte dich auch interessieren