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Gemeinderats-Briefing #38: Basishilfen und Gendersterne

Das Gemeinderats-Briefing ist das wöchentliche Update aus dem politischen Herzen Zürichs. Was diese Woche wichtig war: Statements zur Gewalt, Geld für die Ärmsten, Gendergaga im Rat.

Illustration: Zana Selimi

Manche Dinge sind so sicher wie das Amen in der Kirche. Zum Beispiel, dass nach einer Demonstration, an der es zu Gewalt kommt, die Gemeinderatssitzung mit Statements und Fraktionserklärungen von allen Seiten beginnt. So beschäftigte sich der Gemeinderat in der ersten Dreiviertelstunde seiner gestrigen Sitzung mit dem, was am Samstag in der Langstrasse passiert ist (und was mein Kollege William in Teilen hautnah miterlebt hat).

Karin Rykart (Grüne) bekräftigte als Vorsteherin des städtischen Sicherheitsdepartements das, was sie bereits in der letzten Woche in der Debatte um Linksextremismus gesagt hatte: Die Polizei gehe konsequent gegen Gewalt vor, egal von welcher Seite. Es habe sie betroffen gemacht, dass bei den Vorfällen am Samstag sieben Polizist:innen verletzt worden seien: «Sie machen ihren Job und sie machen ihn gut. Es befremdet mich immer wieder, wenn unpersönlich über Polizist:innen geredet wird, als wären sie eine Staatsmacht und weit weg vom Persönlichen.» Sie und das ganze Departement verurteilten die Gewalt auf das Schärfste.

Für die SP verlas Fraktionspräsident Davy Graf die Fraktionserklärung. Man lehne jegliche extremistische Handlungen, Sachbeschädigungen und Gewalt, die sich gegen Personen richte, entschieden ab und verurteile sie, hiess es darin. Bevor man nun Forderungen aufstelle, lohne es sich aber, zuerst die Analyse der Ereignisse abzuwarten. In eine ähnliche Richtung ging die Fraktionserklärung der Grünen, die Luca Maggi verlas. Die Grünen hätten Gewalt immer verurteilt und täten dies auch weiterhin, sagte er. Doch man verfalle nicht in blinden Aktionismus. «Wenn hunderte oder tausende Personen ihrer Wut auf diese Art Raum verschaffen, sollten wir diese Zeichen ernst nehmen, ohne dabei einzelne Taten zu rechtfertigen», so Maggi. Die Grünen würden jedenfalls nicht nachgeben, wenn es darum gehe, Grundrechte wie die Demonstrationsfreiheit hochzuhalten.

Andreas Egli sprach in der Fraktionserklärung seiner FDP von «Hundertschaften» und einem «gewalttätigen Mob». Es sei ein Hohn, dass die linke Mehrheit im Gemeinderat nur im gewalttätigen Rechtsextremismus ein Problem sehe. Die FDP fordere, per sofort keine unbewillgten Demonstrationen mehr zu tolerieren, die gängige städtische Hausbesetzungspraxis aufzugeben und die Hardturmbrache sowie das Dunkelhölzli-Areal nicht an die Besetzer:innenszene zu «verscherbeln». Stephan Iten sprach für die SVP von der linken Ratsseite als einem «verlängerten Arm der Militanten» und fragte: «Braucht es Schwerverletzte oder gar Tote, dass der Stadtrat und die linken Parteien ihre Unterstützung für die militanten Linksextremen endlich aufgeben?» In der Fraktionserklärung von Mitte und EVP, verlesen durch Christian Traber, wurde die Frage aufgeworfen, weshalb die Kantonspolizei nicht beigezogen worden sei. Man appelliere an alle Parteien, bei kommenden Budgetdebatten der Stadtpolizei die nötigen Mittel für Stellenerhöhungen zur Verfügung zu stellen.

Als einzige Fraktion thematisierte die AL auch die von der Polizei an jenem Abend ausgehende Gewalt. Mischa Schiwow erklärte, die AL wehre sich gegen eine Strategie der Repression, die wie im Zürich der 80er-Jahre nur zu einer Spirale der Gewalt führen könne. Gleichwohl rätsele man über den Ursprung der Wut an jenem Abend und akzeptiere nicht, dass diese in Gewalt ausarte.

Die GLP verzichtete als einzige Fraktion auf eine Erklärung, dafür gab Fraktionsmitglied Patrick Hässig ein persönliches Statement ab. Er stelle fest, dass ein gewisser Teil des Rates solche Taten verharmlose, so Hässig. Namentlich nannte er Moritz Bögli und Luca Maggi, die mit ihren kritischen Vorstössen zur Polizeiarbeit den Polizist:innen «nur Knüppel zwischen die Beine werfen» würden. «Schlag' doch mal ein paar Lösungen vor», rief der sichtlich erregte Maggi dazwischen, der Hässig nach dessen Votum zu einem klärenden Gespräch nach draussen geleitete.

Geld für die Ärmsten

Nachdem die Ratsmitglieder die ausführlichen Stellungnahmen überstanden hatten, wurden sie mit einer Premiere belohnt: Zum ersten Mal wurden gestern nämlich Parlamentarische Intiativen im Rat behandelt. Das im letzten Jahr neu eingeführte Instrument ermöglicht es Parlamentsmitgliedern, Anliegen, die in die Beschlusskompetenz des Gemeinderats fallen, mit einem Drittel der Ratsstimmen im Rücken selbst an eine Kommission zu überweisen. Das hatten die Fraktionen von SP, Grünen und AL vor ziemlich genau einem Jahr genutzt, um zwei Vorstösse zu Hilfsgeldern für Ausländer:innen einzureichen. In der ersten Initiative geht es darum, ein dreijähriges Pilotprojekt zur Schaffung einer Überbrückungshilfe für Ausländer:innen ohne gültigen Ausfenthaltsstatus zu schaffen. Sie soll dazu dienen, diese Sans-Papiers in akuten Notlagen zu unterstützen, wenn diese zum Beispiel ihre Wohnung oder ihr Erwerbseinkommen verlieren.

Die zweite Initiative verlangt analog ein Pilotprojekt zur Schaffung einer wirtschaftlichen Basishilfe «für Ausländer:innen, die keinen risikofreien Zugang zur Sozialhilfe haben», weil sie zum Beispiel mit dem Bezug von Sozialhilfe ihren Aufenthatstitel verlieren würden. Beide Initiativen gehen auf das städtische Pilotprojekt einer wirtschaftlichen Basishilfe zurück, das 2021 im Angesicht pandemiebedingter Notlagen eine finanzielle Hilfe für Ausländer:innen sichern sollte. Nachdem aus FDP-Kreisen eine Aufsichtsbeschwerde gegen das Projekt eingereicht worden war, ordnete der Bezirksrat damals ein Ende des Projekts an. Weil die Stadtverwaltung versehentlich eine Rekursfrist verstreichen liess, wurde der Beschluss rechtskräftig (wir haben das bisherige Geschehen vor einem Jahr zusammengefasst).

Während Hannah Locher (SP) für die Mehrheit der Sachkommission Sozialdepartement erklärte, die Anliegen der Initiativen seien rechtmässig und widerspiegelten die verfassungsmässige Verpflichtung der Gemeinde, den vor Ort lebenden Menschen ein menschenwürdiges Leben in physischer und psychischer Integrität zu ermöglichen, wiederholte Mélissa Dufournet für die Minderheit die Haltung ihrer FDP, die auch schon zur ursprünglichen Aufsichtsbeschwerde geführt hatte: Die Vorhaben verstiessen gegen übergeordnetes Recht, dem Gemeinderat stehe es deshalb gar nicht zu, so etwas zu beschliessen. Das kantonale Recht sehe unter anderem vor, dass sich der Leistungsumfang für Menschen ohne Aufenthaltstitel auf die Nothilfe beschränke. Die Basishilfe gehe aber über diesen Betrag hinaus.

Fanny de Weck (SP), ihres Zeichens Menschenrechtsanwältin, erkärte dagegen, die Beträge seien zu tief und würden zu kurz ausbezahlt, um von einem Sozialhilfeersatz zu sprechen, es handle sich also durchaus eher um eine Nothilfe. Sie berief sich auf Artikel 12 der Bundesverfassung, der jedem Menschen ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen solle, und fragte an die FDP gerichtet: «Was ist euer Anliegen?» Sie verstehe nicht, wie man als Politker:in morgens aufstehen könne, um dann dafür zu sorgen, dass die Allerärmsten auch in Notsituationen bloss keinen Rappen bekommen.

Josef Widler (Die Mitte) erklärte, man habe nichts dagegen, dass die Ärmsten etwas bekommen, doch für seine Fraktion sei klar, dass man sich an das Gesetz hält: «Wenn man der Meinung ist, dass das Gesetz nicht richtig ist, muss man das Gesetz ändern.» Ronny Siev blies für die GLP in ein ähnliches Horn: Man halte sich an das geltende Recht und lehne deshalb ab. Patrik Maillard (AL) sprach von einem Abgesang auf liberale und christliche Grundwerte bei den jeweiligen bürgerlichen Parteien und erinnerte daran, dass in den 70er- und 80er-Jahren die Diskussion um das Recht auf Schulbildung für Kinder von Saisonniers zu einem breiten Bündnis von linken und freisinnigen Parteien sowie Kirchen geführt habe. Im jetzigen Fall bereite man sich dagegen auf langwierige Gerichtsverfahren vor. Die erste Hürde ist indes genommen: Bei beiden Initiativen setzte sich die linksgrüne Mehrheit gegen den Rest des Rates durch.

Gendergaga im Rat

Die letzte Ratsstunde stand gestern ganz im Zeichen des grossen Fetischs der Rechten: Dem Genderstern. Yasmine Bourgeois und Andreas Egli (beide FDP) wollten in einer Interpellation wissen, wie sich das städtische Reglement zur sprachlichen Gleichstellung, das seit letztem Jahr auch eine Rücksichtnahme auf trans und non-binäre Personen beinhaltet, mit Zielsetzungen einer leicht verständlichen Sprache und der Barrierefreiheit verträgt. Samuel Balsiger und Sebastian Zopfi (beide SVP) forderten in einem Postulat gar eine Rücknahme der Revision von 2022.

Stadtpräsidentin Corine Mauch (SP) fühlte sich bemüssigt, einige Dinge klarzustellen: Die Richtlinie bestehe bereits seit 1994 und werde eben alle paar Jahre den aktuellen Gegebenheiten angepasst. Die Richtlinien gälten ausserdem natürlich nicht für Dritte und auch nicht für das gesprochene Wort. Und bei Komposita und Personenbezeichnungen müsse man nicht komplizierte Konstruktionen basteln, sondern könne auf geschlechtsneutrale Formulierunge zurückgreifen. Also zum Beispiel «Teilnahmegebühr» schreiben anstatt «Teilnehmer:innengebühr». Das braucht am Anfang vielleicht etwas Übung, geht aber am Ende meistens ziemlich einfach. Ich muss das wissen, schliesslich schreibe ich für Tsüri.ch.

«Wie wir reden, vor allem auch, wie wir über andere reden, ist bedeutsam.»

Anna-Béatrice Schmaltz, Grüne, argumentiert für die Wichtigkeit gendersensibler Sprache

Die Eckdaten der Debatte sind schnell erzählt: Vertreter:innen von FDP und SVP beharrten darauf, dass gendersensible Sprache einer einfachen und leicht verständlichen Kommunikation im Wege stehe und monierten, dass der Stadtrat die neuen Vorgaben entgegen vorheriger Versprechungen verpflichtend eingeführt habe. Yasmine Bourgeois und Karin Weyermann (Die Mitte) übten sich jeweils zu Demonstrationszwecken am «-:innen», Samuel Balsiger sprach von trans und non-binären Menschen als «statistisch kaum erfassbarer Gruppe», wegen der die Linken nun einen Kulturkampf führten und mit der «Gendersprache» viel Leid verursachten.

Moritz Bögli (AL) verwies darauf, dass sich die Sprache mit der Zeit auch dann verändern werde, wenn manche Menschen nicht gendern wollten. Als Beispiel führte er an, dass Yasmine Bourgeois trotz ihrer Weigerung zu gendern von «deutschlernenden Personen» gesprochen habe. Serap Kahriman (GLP) erklärte, das generische Maskulinum bleibe ja weiterhin bestehen: «Wir nehmen euch gar nichts weg.» Aus der FDP war zu vernehmen, dass man das Verbot, das im SVP-Postulat gefordert werde, zwar eigentlich ablehne, aber dem Vorstoss trotzdem zustimme. SVP, FDP und die Mitte hatten mit ihrer Zustimmung zum Postulat allerdings keine Chance gegen den Rest des Rates.Unterhaltsam wurde es, als der Lehrer Stefan Urech (SVP) einen frauenfeindlichen Text der Rapper Drake und 21 Savage vortrug, der ihm zufolge gerade bei seinen Schüler:innen beliebt sei: «Das sind die Vorbilder, die Jugendliche in Zürich haben, nicht Sie, Frau Schmaltz, nicht Sie, Frau Kahriman.» Dass die Diskussion um frauenfeindliche Texte im Rap mindestens halb so alt ist wie jene um gendersensible Sprache in der Akademia, der Wandel also durchaus auch hier ansteht, mag ihm wohl entgangen sein.

Weitere Themen der Woche:

  1. Die Vorfälle in der letzten Gemeinderatssitzung, als Samuel Balsiger die Grünen mehrfach der Pädophilie bezichtigt hatte (wir berichteten), haben in der gestrigen Sitzung noch einamal für Redebedarf gesorgt. Gemeinderatspräsident Matthias Probst sagte, es sei «nicht gerade eine Glanzstunde in diesem Parlament» gewesen und entschuldigte sich dafür, nicht rechtzeitig in die Debatte eingegriffen zu haben. Tanja Maag (AL) fand, Balsiger ziehe mit seinen Provokationen die Arbeit des Rates ins Lächerliche, und dankte Michael Schmid (FDP) für dessen «deeskalierendes Votum» in der letzten Sitzung. Balsiger selbst dachte nicht an eine Deeskalation und legte noch einmal nach: Was er in der letzten Sitzung benannt habe, sei Teil der Geschichte der Grünen, auch wenn sich diese inzwischen davon distanziert hätten.
  2. Eine grosse Mehrheit der Ratsmitglieder stimmte gestern einer Weisung des Stadtrats zu, das städtische Drug-Checking mittels Zusatzkredit künftig deutlich auszubauen. Insbesondere am Wochenende soll das mobile Angebot ausserhalb von Clubsettings erweitert werden, um ein möglichst breites Zielpublikum zu erreichen. Die Weisung ging auf ein Postulat von Marcel Müller (FDP) und Marco Geissbühler (SP) aus dem Jahr 2020 zurück, das eine Ausrichtung des Drug-Checkings auf die «Ausgangs-Rush-Hour» gefordert hatte. Die SVP, in der Kommission noch in der Enthaltung, wechselte in die Ablehnung. Fraktionsmitglied Sebastian Zopfi erklärte, das Angebot sei durchaus sinnvoll, doch man könne einem Ausbau mit Blick auf einen sparsamen Umgang mit Steuergeldern leider nicht zustimmen.
  3. Ronny Siev (GLP) machte in einer persönlichen Erklärung darauf aufmerksam, dass demnächst Pink-Floyd-Mitbegründer Roger Waters im Hallenstadion auftritt. Dieser sei in der Vergangenheit immer wieder durch Israel- und Judenhass aufgefallen. Siev erklärte, er habe sich im Hinblick auf eine Absage des Konzerts oder zumindest einer Kontextualisierung des Künstlers mehr erwartet von der Stadtpräsidentin.

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