Gemeinderats-Briefing #33: Vornehme Stoffbahnen und heikle Grenzziehungen - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Gemeinderats-Briefing #33: Vornehme Stoffbahnen und heikle Grenzziehungen

Das Gemeinderats-Briefing ist das wöchentliche Update aus dem politischen Herzen Zürichs. Was diese Woche wichtig war: Ärger über die Koch-Demo, keine Wohnungen auf dem Kibag-Areal, Schutz für die Vernetzungskorridore

Illustration: Zana Selimi

Leuchtende Augen und offene Münder waren einige zu sehen am Anfang der ersten Gemeinderatssitzung nach den Sportferien. Der Grund: Der neue Sitzungssaal in der umgebauten Bullingerkirche macht so einiges her. Um so mehr, wenn man die marode und schlecht beheizbare Messehalle 9 gewohnt ist, in der die Sitzungen in den letzten drei Jahren stattgefunden hatten.

Nun also: Stoffbahnen in vornehmem Grau, die den Schall einfangen sollen, Zapfhähne für Trinkwasser statt Plastikflaschen, der Geruch frisch geschreinerter Holzbänke. Könnte man sich dran gewöhnen.

(Foto: Steffen Kolberg)

Allzu harmonisch stimmte das Interieur die Parlamentarier:innen aber nicht, keine Sorge. Stoff für Diskussionen bot den Anwesenden direkt zum Einstieg die Räumung des Koch-Areals und die darauf folgende unbewilligte Demo, bei der es vor gut zwei Wochen in grossem Ausmass zu Sachbeschädigungen gekommen war.

Michael Schmid (FDP) befand in einer Fraktionserklärung, die Vorgänge hätten einmal mehr die Behauptung, übertriebene Polizeipräsenz und «Provokationen» der Polizei seien für Gewalt an Demonstrationen verantwortlich, widerlegt. Die Einsatzkräfte hatten an dem Tag nicht eingegriffen und später erklärt, sie seien vom Gewaltpotenzial überrascht worden. Das verleitete Stephan Iten zur Aussage, der Stadtrat sei auf dem linken Auge blind. In der Fraktionserklärung seiner SVP forderte er unter anderem die Auflösung der Besetzung auf der Hardturmbrache und einen politischen Schwerpunkt auf die Bekämpfung des Linksextremismus in dieser Legislatur.

«Ich mache gerne mal wieder ein bisschen Unruhe. Vielleicht braucht das diese Stadt einfach.»

Moritz Bögli, AL, über den knapper werdenden Wohn- und Kulturraum und die Demonstration gegen die Räumung des Koch-Areals.

Sein Fraktionskollege Johann Widmer witterte linken Terrorismus und meinte direkt an Stalin erinnern zu müssen. Josef Widler von der Mitte verortete Führungsfehler bei Polizei und Sicherheitsdepartement. Dessen Vorsteherin Karin Rykart (Grüne) äusserte sich im Rat nicht zu der Angelegenheit, dafür nahm die Grüne Co-Fraktionspräsidentin Monika Bätschmann sie in einer Fraktionserklärung in Schutz: Rykart werde immer kritisiert, wenn es an Demonstrationen zu Gewalt kommt. Sie setze sich allerdings für die Sicherheit der Bevölkerung und die Arbeitsbedingungen der Mitarbeitenden ein und habe in der Kommunikations- und Fehlerkultur Erfolge vorzuweisen, wie die Kommunkation rund um die Demonstration zeige.

Zur Demonstration selbst befand Bätschmann, man solle jetzt «einen kühlen Kopf bewahren». Gewalt sei kein legitimes politisches Mittel. Doch es sei richtig, dass die Polizei aus Gründen der Verhältnismässigket keine massivere Gewalt angewendet habe. Moritz Bögli verlas eine Fraktionserklärung seiner AL, in der er das Verschwinden «eines wichtigen kulturellen Freiraums» beklagte. Zürich müsse eine Stadt sein, «in der Kultur auch ohne kommerziellen Erfolgsdruck und kulturbürokratische Vorgaben stattfinden kann». Es sei massgeblich der Besetzung zu verdanken, dass auf dem Areal nun Genossenschaftswohnungen und Kulturräume entstehen könnten. Der Klage über linke Gewalt stellte er die «ökonomische Gewalt» gegenüber, die Menschen aus ihren Wohnungen und ihrem Quartier dränge.

Keine Wohnungen auf dem Kibag-Areal

Um Wohnungen ging es auch bei dem am intensivsten diskutierten Vorstoss des Abends. Allerdings um welche, die nicht gebaut werden sollen. Schliesslich sei die Savera-Wiese am linken Seeufer ein wichtiger Freiraum, den es gerade in einer verdichteten Stadt brauche, so Luca Maggi (Grüne). Er stellte eine Motion von Grünen und AL vor, die die Umzonung des Gebiets zwischen der Werft Wollishofen und Roter Fabrik in eine Freihalte- sowie eine Industrie- und Gewerbezone fordert.

Zwischen der Werft und dem Kulturzentrum liegt das Kibag-Areal, wo momentan noch Beton hergestellt wird. Ab 2030 ist das vorbei, die aktuelle Zonierung könnte dort Wohnungen möglich machen und ein Kompromiss zwischen Stadt und Kibag aus den 2000ern sieht bislang eine Aufteilung zwischen Grünraum am See und Wohnungen vor.

Grüne und AL aber fürchten den Bau von Luxuswohnungen, wie er auf dem benachbarten Gelände der ehemaligen Franz-Garage inzwischen fast abgeschlossen ist. Aktuell werden dort Wohnungen ausgeschrieben: «Eine 3.5-Zimmer-Wohnung kostet unverschämte 4760 Franken, eine 4,5-Zimmer-Wohnung unverschämte 5310 Franken», listete Maggi auf. Der Quartierverein habe 8000 Unterschriften gegen neue Wohnungsbauvorhaben gesammelt, ein über zwei Jahre laufendes Projekt eines «Echoraums» mit Anwohner:innen habe eine ganz klare Ablehnung neuer Wohnungen ergeben.

Gefürchtet wird zum einen, dass die intensive Nutzung der Wiese bis in die späten Nachtstunden mit dem Ruhebedürfnis der neuen Bewohner:innen kollidiert. Zum anderen, dass dieses Ruhebedürfnis zu vermehrten Lärmklagen gegen die Rote Fabrik führt. «Der Bereich ist ein Paradebeispiel für städtebauliche Fehlplanung und vermeidbare Interessenskonflikte zwischen öffentlichen Freiräumen und Renditeprojekten», konstatierte denn auch Mischa Schiwow (AL). Die Umzonung sei nötig, um Fakten zu schaffen und sich «nicht ein weiteres Mal übers Ohr hauen» zu lassen.

Stadtrat André Odermatt verwies auf die erst kürzlich veröffentlichte Testplanung und meinte, dass die Motion in bereits in Gang gesetzte Verfahren eingreife. Als Postulat könne man den Vorstoss aber gerne entgegennehmen. Ihm folgten in dieser Auffassung auch Vertreter:innen der Mitte und der GLP. Michael Schmid (FDP) sprach von Maximalforderungen und einer linken Kompromisslosigkeit angesichts der Tatsache, dass die Wohnungen auf dem Franz-Areal ja bereits entstanden seien. Die SP folgte jedoch dem Anliegen, die linke Ratsmehrheit setzte sich damit mit der Motion mit 62 zu 55 Stimmen durch.

Schutz für Vernetzungskorridore

Auch in einer Motion von Brigitte Fürer und Sibylle Kauer (beide Grüne) ging es um Zonierungen. Sie forderten, dass der Stadtrat die Bau- und Zonenordnung so anpasst, dass die Grundstücke im Übergang zwischen Siedlung und Landschaft gesichert werden und zudem zur Sicherung der sogenannten «Vernetzungskorridore» beitragen.

Diese Korridore sind laut der Stadt «grossräumige Verbindungen, welche sich durch eine erhöhte Biodiversität auszeichnen» und wurden im regionalen Richtplan Siedlung und Landschaft festgelegt. Wie diese Korridore auszusehen haben, sei aber im kommunalen Richtplan nicht weiter ausgeführt, so der Motionstext. Brigitte Fürer erklärte, gerade angesichts der Biodiversitätskrise, die mit einem dramatischen Rückgang der Arten einhergehe, sei es wichtig, dem Raum zwischen Siedlung und Landschaft Beachtung zu schenken.

Wie schon beim Kibag-Areal befand Stadtrat André Odermatt auch hier, das Anliegen sei wichtig und unterstützenswert. Jedoch werde es im Rahmen der nächsten Revision der Bau- und Zonenordnung (BZO) sowieso umgesetzt. Statt einer Motion tue es also auch ein Postulat. Dem folgte wieder die Mitte, diesmal aber nicht die GLP: «Wir reden schon ewig über Vernetzungskorridore, da kann man jetzt durchaus mal eine Motion überweisen», befand Ann-Catherine Nabholz.

«Grenzziehungen sind immer heikel. Da wird eingegrenzt, ausgegrenzt, erlaubt oder auch verboten», meinte nicht etwa ein:e Vertreter:in der linken Ratsseite, sondern Jean-Marc Jung (SVP). Er befürchtete vor allem Verbote, diese Grundstücke bebauen zu können und meinte, der Vorstoss verstärke letztlich die Wohnungsnot. AL, SP und GLP allerdings fanden dies nicht und überwiesen die Motion zusammen mit den Grünen und einer Mehrheit von 76 zu 41 Stimmen.

Weitere Themen der Woche:

  1. In einem dringlichen Postulat forderten Anna Graff (SP) und Andreas Kirstein (AL) kostenlose Covid-Tests für symptomatische Personen oder solche mit Kontakt zu besonders gefährdeten Menschen. Da diese seit Januar nicht mehr vom Bund übernommen würden, falle ein niederschwelliges Angebot weg. Stadtrat Andreas Hauri (GLP) erklärte, das Postulat mache ihn «ratlos» angesichts der aktuellen Infektionslage, von der SVP bis zur GLP fand es wenig Anklang. Am Ende kam es zu einem Patt von 58 zu 58 Stimmen zwischen Linksgrün und dem Rest des Rats. Ratspräsident Matthias Probst (Grüne) führte den Stichentscheid zugunsten des Postulats herbei. Er sei zwar persönlich dagegen, aber seine Fraktion dafür, erklärte er.
  2. Der Gemeinderat folgte einstimmig einer Weisung des Stadtrats, in der dieser jährliche Ausgaben von maximal einer Million Franken für die Sicherheit von besonders schutzbedürftigen Minderheiten beantragte. Seit letztem Jahr beteiligt sich neu der Bund neben Kanton und Gemeinden an den Kosten für Sicherheitsmassnahmen, neu können nicht nur bauliche, sondern auch personelle Massnahmen finanziert werden. Ronny Siev (GLP) berichtete, wie er als Kind durch eine doppelte Sicherheitsschleuse in den Kindergarten ging und erinnerte daran, dass die beschlossenen Mittel bloss ein Drittel der Schutzmassnahmen finanzierten, die benötigt würden. Reis Luzhnica (SP) erklärte, er begrüsse zwar die Erhöhung und Ausweitung, allerdings sei für die Sicherheit von Minderheiten in erster Linie die Stadt zuständig und nicht private Sicherheitsfirmen: «Würde der Stadtrat hierfür eine Personalerhöhung bei der Stadtpolizei fordern, würde ich das unterstützen.»
     
  3. Dominik Waser verlas eine gemeinsame Fraktionserklärung von Grünen, GLP und SP zum kürzlich veröffentlichten Bericht des Stadtrats zum Thema Photovoltaik-Ausbau. Der Bericht grenze an Arbeitsverweigerung, heisst es darin, der zuständige Stadtrat Michael Baumer (FDP) lasse darin keine Anzeichen für ein ambitioniertes Ausbauziel erkennen. 2019 hatten Grüne, SP, GLP und EVP mit einer Motion ein Ziel von 300 GWh jährlich im Jahr 2030 gefordert, die Stadt hat nun wiederholt die Zielmarke von 120 GWh ins Feld geführt. Die zuständige Kommission industrielle Betriebe wird sich nun zum dritten Mal mit der Photovoltaik-Strategie der Stadt befassen.

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