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Gemeinderats-Briefing #3: Streit fürs Protokoll

Das Gemeinderats-Briefing ist das wöchentliche Update aus dem politischen Herzen Zürichs. Was diese Woche wichtig war: Debatte um Geflüchtete, Weichenstellungen bei Gas & Atom, Unzureichender Deutschunterricht

Illustration: Zana Selimi

Seit inzwischen fast drei Monaten herrscht Krieg in Europa, und im Lichte von Sommersonne und Alltagssorgen verblasst der Schock über die verstörenden Bilder aus der Ukraine bei vielen von uns allmählich. Wieder ins Gedächtnis gerufen hat sie gestern im Gemeinderat SVP-Fraktionschef Samuel Balsiger, der grausige Bilder der letzten Kriegswochen Revue passieren liess, um für ein Postulat von ihm und seinem Parteikollegen Walter Anken zu werben. Die beiden fordern darin vonseiten des Stadtrats «zusätzliche Unterstützung der ukrainischen Flüchtlinge an der Grenze zu ihrem Heimatland», also in Ländern wie Polen, Rumänien oder der Republik Moldau.

Heftige Debatte um Geflüchtete

Der Vorstoss führte zu einer heftigen Debatte im Parlament, schliesslich machen Vertreter:innen der Bundes-SVP eher mit Forderungen nach strikter Neutralität gegenüber Putins Russland und der Aufweichung des Schutzstatus S für ukrainische Geflüchtete auf sich aufmerksam. Entsprechend irritiert wurde Balsigers Rede von der «Entscheidung zwischen Demokratie und Diktatur in Europa» und seine Bezeichnung Putins als «Mafiaverbrecher» von Teilen des Rats aufgenommen. Lediglich die Mitte/EVP-Fraktion unterstützte das Postulat. Von der FDP bis zur AL stiess es dagegen auf Ablehnung aufgrund unkonkreter Formulierungen und der fehlenden Erwähnung ukrainischer Geflüchteter an anderen Orten als der Grenzregion.

Auf einen Textänderungsantrag von Nadina Diday (SP), die geforderte Unterstützung auf Geflüchtete in der Ukraine selbst auszuweiten und das Postulat so einer Mehrheitsunterstützung im Rat näherzubringen, ging Balsiger gar nicht erst ein. Stattdessen bezeichnete er die fehlende Unterstützung durch die anderen Parteien und deren Bemängelungen am Text als «schäbig». Die Vermutung, dass es ihm vorrangig um eine Profilierung seiner Partei gegenüber der links-grünen Mehrheit ging, nährte er am Ende gleich selbst: Es werde protokolliert, dass die anderen Ratsmitglieder Nein zu Flüchtlingen sagen, erklärte er: «und man kann nachlesen, dass die SVP der Ukraine helfen wollte.»

Wie umgehen mit Gas und Atom?

Wie so oft in diesen Tagen folgt auf das Thema Krieg das Thema Energie. Gleich zwei Vorstösse von Grünen und SP befassten sich mit dem Ausstieg aus nicht-regenerativen Energieformen und boten damit erstmals eine Bühne für den Gemeinderatsneuling und ehemaligen Stadtratskandidaten Dominik Waser von den Grünen.

Im Zusammenhang mit einem Postulat, das den Ausstieg der städtischen Energie 360° AG aus dem Verband der Schweizerischen Gasindustrie (VSG) fordert, erklärte Waser. Letzterer sei eine politische Lobby-Organisation. Den bürgerlichen Parteien warf er zudem vor, seit zehn Jahren Angst vor einem Blackout zu schüren und so ein Milliardengeschäft zu schützen.

Beat Oberholzer (GLP) gab sich diplomatischer: Der VSG sei einerseits ein klassischer Interessenvertreter, könne andererseits aber auch als Bindeglied dienen zwischen den Energieversorgern, die schneller machen wollten mit der Transformation und denen, «die etwas Nachhilfe gebrauchen können.» Die GLP entschied sich trotzdem für den Austritt und gesellte sich so zur links-grünen Mehrheit.

Auch beim Thema Atomenergie teilte Waser aus und erklärte, die FDP setze sich mit ihrer Wiederentdeckung des Themas für eine Technologie aus dem letzten Jahrtausend ein. Severin Pflüger (FDP) entgegnete daraufhin: «Meines Wissens sind alle Technologien, die wir aktuell zur Stromproduktion brauchen, aus dem letzten Jahrtausend.»

Ein Postulat, das die Gründung einer Tochtergesellschaft für städtische Beteiligungen an Kernkraftwerksgesellschaften fordert, wurde trotz der Differenzen mit einer grossen Mehrheit von 103 zu 12 (SVP-)Stimmen angenommen. Es soll zwischen der Stadt Zürich und anderen Aktionär:innen, die ihre Anteile auch über Tochtergesellschaften halten, gleich lange Spiesse schaffen und mögliche Veräusserungen in der Zukunft erleichtern.

«Vielleicht lese ich das nächste Mal vor wer anwesend ist, das geht schneller.»

Gemeinderatspräsident Matthias Probst, Grüne, nachdem er die Liste der entschuldigten Stadträt:innen vorgelesen hat.

Deutschunterricht reicht nicht aus

Einhellige Zustimmung gab es von ganz links bis ganz rechts für ein Postulat der Grünen-Fraktion, das sich für Unterricht in Deutsch als Zweitsprache (DaZ) für alle Kinder und Jugendlichen im erforderlichen Umfang einsetzt. Man sei durch einen Hilferuf einer Lehrerin wachgerüttelt worden, so Balz Bürgisser (Grüne): Durch die vielen Kinder von ukrainischen Geflüchteten verschärfe sich aktuell ein Problem, das sowieso schon lange bestanden habe.

Das Thema nutzte auch der neu in den Gemeinderat gewählte Handycap-Lobbyist Islam Alijaj (SP) für seine erste Rede, die von seiner Assistentin vorgetragen wurde: «Jedes Schulkind soll die Unterstützung bekommen, die es braucht, um jedes kommunikative Hindernis zu überwinden», hiess es darin. Das Postulat sei ein wichtiger Schritt in Richtung inklusiver Bildung.

(Foto: Steffen Kolberg)

Gemeinderat der Woche: Walter Anken (SVP)

Während sein Fraktionskollege Samuel Balsiger bei der gestrigen Parlamentsdiskussion zu Geflüchteten aus der Ukraine auf Frontalangriff schaltete (siehe oben), liess es Walter Anken etwas ruhiger angehen. Er sprach von einer «Zäsur in Europa» und von der dringenden Notwendigkeit, zu helfen. Anken verbindet gerne mal die Stadt- mit der Aussenpolitik. So reichte er vor zwei Jahren mit Bernhard im Oberdorf ein Postulat ein, das die Beendigung der Städtepartnerschaft mit der chinesischen Stadt Kunming aufgrund der dortigen Menschenrechtslage forderte (wir streiften das Thema schon im ersten Gemeinderatsbriefing).

Neben grossen aussenpolitischen Themen fällt Anken in Parlamentsdebatten vor allem mit praktischen Alltagsbeispielen auf. Bei der gestrigen Debatte über Haltestellenbegrünung (siehe unten) erzählte er den Ratsmitgliedern beispielsweise von seinen Erfahrungen mit der Ausbringung von Bitumen zur Abdichtung von Flachdächern. In der Debatte über den Erhalt der Triemli-Personalhochhäuser letzte Woche berichtete er davon, wie er selbst als Student dort gewohnt hatte. «Dass dort nicht jedes Zimmer über eine eigene Küche und eine eigene Toilette verfügte, hatte auch den Vorteil, dass ich diese nie selbst putzen musste», so der heute 60-Jährige im Gespräch mit Tsüri.ch.

Der Account Manager bei der Swisscom hatte damals an der Universität Zürich Jus studiert, nachdem er zuvor seine Matura auf dem zweiten Bildungsweg nachgeholt hatte. Aufgewachsen auf einem Bauernhof im Emmental, hatte er zunächst eine landwirtschafliche Lehre und dann eine kaufmännische Ausbildung gemacht, bevor er nach Zürich kam. Doch auch unabhängig von seinem Aufenthalt im 13. Stock des Triemli seien ihm die Spitäler der Stadt ein wichtiges Anliegen, dem er sich als Mitglied der Sachkommission Gesundheits- und Umweltdepartement widme, erzählt er: So kämpfe er unter anderem für das Ziel, die Spitäler der Stadt in eine öffentlich-rechtliche Gesellschaft auszugliedern.

Warum sind Sie Gemeinderat geworden?
Meine Eltern hatten sich immer schon politisch interessiert und engagiert. Politik war schon in meiner Kindheit immer wieder ein Thema an unserem Küchentisch. Mir war immer klar, die Faust im Sack machen und nur motzen kommt für mich nicht in Frage. Ich will mich engangieren für unser schönes Land und diese tolle Stadt Zürich. Die Direkte Demokratie der Schweiz ist so wertvoll, dass ich immer wieder erstaunt und auch enttäuscht bin, dass vielen Menschen dieses Bewusstsein völlig fehlt.

Mit welche:r Ratskolleg:in der Gegenseite würden Sie gerne mal ein Bier trinken gehen?
Gute Frage, so spontan fällt mir Judith Boppart von der SP ein. Es hat aber noch einige andere Damen, mit denen ich mich sicher gut unterhalten könnte.

Welches Abstimmungsergebnis hat Sie bisher am meisten geärgert?
Das knappe Ja zur «Züri City Card» hat mich schon sehr geärgert. Da werden wieder mehrere Millionen zum Fenster rausgeworfen, obwohl jetzt schon klar ist, dass dieser Ausweis gegen Bundesrecht verstösst und bei keinem Gericht durchkommen wird.

Weitere Themen der Woche

  1. Die Dächer und Wände der Zürcher Tram- und Bushaltestellen sollen begrünt werden. Bis auf FDP und SVP stimmten alle Fraktionen für ein Postulat von Matthias Renggli und Severin Meier von der SP. Die VBZ wollen nach einer aktuell laufenden Testphase neu erbaute Haltestellendächer begrünen. Das Postulat fordert, dieses Vorhaben auf bestehende Dächer und Wände auszudehnen.
  2. Winterschwimmer:innen haben im Gemeinderat eine grosse Lobby: Ein Postulat von Urs Riklin und Roland Hurschler (beide Grüne), das für diese eine bessere Infrastruktur an See-, Fluss- und Strandbädern fordert, wurde gestern von einer grossen Mehrheit bekennender winterschwimmender Parlamentarier:innen gutgeheissen. Nur eine Fraktion stimmte dagegen: «Wir als unsportliche AL lehnen das Postulat ab», so Gemeinderätin Regula Fischer. Ihre Begründung: «Das einzige, was es zum Schwimmen braucht, ist Wasser.»
  3. Die beiden Grünen Roland Hohmann und Jürg Rauser haben gestern ein Postulat zur Verbreiterung und Neugestaltung des Kloster-Fahr-Wegs zwischen Dammsteg und Wipkingerbrücke eingereicht. Neben mehr Platz für die vielen Spaziergänger:innen und Jogger:innen fordert es auch eine ökologische Aufwertung des Abschnittes.
  4. Am Montag bestritt der FC Gemeinderat im Letzigrund das Derby gegen den FC Kantonsrat und gewann 6:5. Zwei Tore schoss unter anderem Ex-Gemeinderat Roy Shaibal (GLP). «Das Lamm»-Redaktor Simon Muster hat die Highlights des Spiels auf Twitter zusammengefasst.

Was du schon immer über den Gemeinderat wissen wolltest


Heute: Die Motion

Letzte Woche ging es an dieser Stelle um das Postulat, die mit Abstand am häufigsten genutzte Möglichkeit für Parlamentarier:innen, ein Anliegen im Gemeinderat einzubringen.

Eine seltener genutzte Möglichkeit ist die Motion, und das hat einen einfachen Grund: Sie ist ein deutlich schärferes Instrument zur Durchsetzung eines Vorhabens. Denn während der Stadtrat mit dem Postulat laut Ratswebseite lediglich beauftragt wird, «zu prüfen, ob und wie er ein Anliegen oder eine Idee umsetzen kann», verpflichtet ihn die Motion bereits zum Entwurf der konkreten Umsetzung, zum Beispiel in Form einer Gesetzesänderung. Das macht es für Motionen wahrscheinlicher, abgelehnt zu werden oder keine ausreichenden Mehrheiten zu finden.

Eine Motion kann in so einem Fall aber zu einem Postulat «abgeschwächt» werden. So sah es gestern der Stadtrat und eine Ratsminderheit mit einem entsprechenden Anliegen der SP-, FDP- und Grüne-Fraktionen vor. In einer Motion verlangten diese die Ausarbeitung einer Verordnung, die die Betreuungsangebote der Volksschule im Rahmen der Einführung der Tagesschule regeln sollte. Der Stadtrat lehnte die Motion ab und forderte die Umwandlung in ein Postulat, unter anderem weil ein Neuerlass einen erheblichen Aufwand bedeuten würde und zunächst die diesjährige Abstimmung über die Tagesschule abgewartet werden solle. Doch die drei Fraktionen blieben bei der Motion: Der Stadtrat muss nun also liefern.

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