Gemeinderats-Briefing #1: Alles neu macht der Mai - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Steffen Kolberg

Redaktor

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5. Mai 2022 um 07:00

Gemeinderats-Briefing #1: Alles neu macht der Mai

Das Gemeinderats-Briefing ist das wöchentliche Update aus dem politischen Herzen Zürichs. Was diese Woche wichtig war: Grosse Reden und viele Fahnen zur konstituierenden Sitzung in der neuen Legislatur.

Illustration: Zana Selimi

Willkommen zum ersten Gemeinderats-Briefing von Tsüri.ch. An dieser Stelle fassen wir ab jetzt wöchentlich das Wichtigste aus der aktuellen Gemeinderatssitzung zusammen. Falls du dieses Briefing ab jetzt regelmässig per E-Mail erhalten möchtest, kannst du dich am Ende dieses Artikels per Link anmelden.

Knappe Mehrheit für die Linken

Gestern traf sich der Zürcher Gemeinderat zu seiner konstituierenden Sitzung in der neuen Legislatur. Du erinnerst dich wahrscheinlich noch: Am 13. Februar wurden Stadt- und Gemeinderat neu gewählt, und während vor allem die grünen Parteien zulegten, stürzte die SP in der Wähler:innengunst ab. Zudem hat Die Mitte nach vier Jahren Abstinenz den Wiedereinzug ins Parlament geschafft. Damit hat die linke Ratsmehrheit aus SP, Grünen und AL ihren bequemen Vorsprung eingebüsst und kommt nur noch auf 63 der 125 Sitze. Fehlt künftig ein:e Gemeinderät:in aus dem linken Lager, ist die Mehrheit somit dahin.

Doch in der ersten Sitzung geht es in der Regel nicht um enge Mehrheiten, stattdessen wird im Grossen und Ganzen Einigkeit zelebriert und manch eine:r nutzt die Gelegenheit, um etwas Aufmerksamkeit zu generieren. So fuhr die gesamte Grünen-Fraktion trotz Hagel und Gewitter mit dem Velo zur Sitzung und präsentierte sich am Eingang mit übergrossen Velowimpeln.

Es wurden vor allem feierliche Reden gehalten und wichtige Ämter gewählt: Die Geschäftsleitung, die Ratssekretär:innen und Stimmenzählenden, die Mitglieder und Präsidien der verschiedenen Kommissionen, die Ombudsperson, der Datenschutzbeauftragte, die Mitglieder der Sozialbehörde und vor allem und vorneweg: das Präsidium des Gemeinderats.

34 neue Gemeinderät:innen

Eröffnet wird die konstituierende Sitzung aber traditionell vom amtsältesten Ratsmitglied. Diese Ehre wurde gestern dem SVP-Politiker Bernhard im Oberdorf zuteil. Er begrüsste die Anwesenden zur 36. Legislatur des Zürcher Gemeinderats und freute sich, dass wieder Gäste im Ratssaal zugelassen sind, «jetzt wo Corona soweit vorbei ist.» Auch die bislang vor den Redner:innenpulten angebrachten Plexiglasscheiben sind inzwischen verschwunden.

Der Rat habe sich so stark erneuert, wie er das noch nie erlebt habe, so im Oberdorf. Unter den 34 Neuen finden sich auffällig viele Jungpolitiker:innen, die den Altersdurchschnitt des Gemeinderats sichtbar senken, darunter Anna-Béatrice Schmaltz, Dominik Waser und Yves Henz bei den Grünen, Sanija Ameti und Serap Kahriman bei der GLP oder Anna Graff bei der SP.

Wir haben ein glückliches Leben zu gewinnen und eine Welt zu verlieren

Yves Henz, jüngstes Gemeinderatsmitglied, in seiner Ansprache an das Parlament

Der 19-jährige Yves Henz durfte als jüngstes Ratsmitglied die erste Ansprache halten. Er tat es mit sichtbarer Anspannung und als einer von ganz wenigen Anwesenden mit Maske im Gesicht. Henz ging wie erwartet auf die Klimakrise ein und sprach davon, dass auch eine kleine Stadt wie Zürich in der Lage sei, Grosses zu vollbringen: «Ich stehe hier, um als Mensch über unsere gemeinsame Zukunft zu sprechen», erklärte er: «Wir rasen auf eine Klippe zu, doch vielen fehlt der Mut, eine Vollbremsung zu machen.» Manche hielten das für zu radikal, sagte er, obwohl sich Klima- und Biodiversitätskrise immer weiter verschlimmerten.

Der junge Grüne wagte sich an eine positive Vision für den Tag seines 80ten Geburtstags im Jahre 2083. Er erzählte von einer Gesellschaft, die den Klimawandel und das Artensterben gestoppt habe und die Digitalisierung «dank kluger Gesetzgebung» für eine Reduktion der Arbeitszeit genutzt habe, um mehr Zeit für die Pflege von Angehörigen, für Sport, Kultur und Freizeit zu haben. Henz erzählte von der Befreiung vom Patriarchat und den Ängsten des sozialen Abstiegs, von einem Gesundheitssystem, das erschwinglich für alle sei und psychische Krankheiten voll und ganz ernst nehme und anerkenne. «Der erste Schritt zur Veränderung ist die Vorstellung, dass sie möglich ist», schloss er.

Einigkeit im Angesicht des Krieges

Im Gegensatz zu manchen seiner Parteikolleg:innen, die Henz' Rede teilweise mit lautem Stöhnen und Gelächter kommentierten, zeigte sich im Oberdorf beeindruckt von seinem Vorredner. «Ich danke Yves Henz für die bewegenden Worte», erklärte er, dem als amtsältestes Ratsmitglied die zweite Ansprache der Sitzung zusteht. «Es tut mir fast ein bisschen leid, dass ich in meiner Rede nicht so eine schöne Welt skizzieren kann», eröffnete der SVPler.

Er blickte zurück auf sein Vierteljahrhundert im Rat und zog die grossen Linien dieser Zeit nach. Sei die Gesprächskultur in den Neunziger Jahren noch klassenkämpferischer geprägt gewesen, habe sie sich im Laufe der Zeit mit der Zunahme ökologischer und klimaaktivistischer Positionen in eine philosophischere Art der Auseinandersetzung bewegt. Während Bewegungen wie der Klimastreik wieder zu einem kompromissloseren und konfrontativeren Stil geführt hätten, habe im Oberdorf am Ende der letzten Legislatur den Eindruck gehabt, dass angesichts des Krieges gegen die Ukraine wieder eine grössere Einigkeit bestehe.

«Putinversteher» als Problem

Im Oberdorf ging explizit auf die Riege von «Putinverstehern» als Problem ein, was angesichts der Präsenz solcher Stimmen vor allem in seiner eigenen Partei durchaus beachtenswert ist. Er umging dieses heisse Eisen, indem er, «um helvetisch neutral zu bleiben», linke und rechte Parteien in Deutschland und Frankreich als Beispiele aufzählte. Der altgediente Parlamentarier plädierte für die Wichtigkeit einer neutralen Schweiz und erklärte gleichzeitig, dass eine radikale, «fundamentalistische» Neutralität dazu führe, Grundwerte wie Freiheit und Souveränität preiszugeben.

Er erinnerte an ein Postulat, das er zusammen mit seinem Parteifreund Walter Anken einmal eingebracht habe. In diesem hätten sie gefordert, die Zürcher Städtepartnerschaft mit der chinesischen Stadt Kunming so lange ruhen zu lassen, bis China demokratisch regiert werde. Damals sei dies von allen anderen Parteien ausser der EVP abgelehnt worden: «Ich frage mich, ob das heute immer noch so wäre», schloss im Oberdorf.

Pace-Fahne am Redner:innenpult

Auch der Grüne Matthias Probst, mit 75 Stimmen von 121 anwesenden Gemeinderät:innen frisch gewählter Gemeinderatspräsident, ging in seiner Ansprache auf den Krieg gegen die Ukraine ein. «In dieser Zeit bin ich nicht mehr sicher, ob alles richtig ist, wovon ich als überzeugter Pazifist bisher überzeugt war», erklärte er. Es sei angesichts der Ereignisse nicht mehr leicht zu erkennen, was richtig sei und was nicht.

Trotzdem bleibe er bei seiner pazifistischen Haltung, die sich bei ihm schon als Siebenjähriger in seinem Entschluss manifestiert habe, später einmal Zivildienst leisten zu wollen. Probst hängte eine Pace-Fahne an das Redner:innenpult, um die Anwesenden auf das anschliessende Gemeinderatspräsidentenfest einzustimmen, zu dem die frisch gewählte Gemeinderatspräsident:in im Anschluss an die konstituierende Sitzung traditionell in sein eigenes Quartier lädt. Der Quartierplatz im Hunzikerareal, Probsts Wohnort, stand später ganz im Zeichen dieser Fahne, die von fast allen Balkonen hing.

Die beiden Vizepräsident:innen Sofia Karakostas von der SP und Guy Krayenbühl von der GLP bekamen mit 111 beziehungsweise 102 Stimmen deutlich mehr Zustimmung als Probst. Dass das Ratspräsidium damit in linksgrüner Hand ist, hat übrigens nichts mit den Mehrheitsverhältnissen, sondern dem jährlichen Turnus zu tun.

Matthias Probst bei den Vorbereitungen zum Hunzikerfestival, bei dem auch seine Wahl zum Gemeinderatspräsidenten gefeiert wird. (Foto: Steffen Kolberg)

Gemeinderat der Woche: Matthias Probst (Grüne)

Das Amt des höchsten Zürchers sei eine neue Herausforderung für ihn, erzählt Matthias Probst, und schon sein Stimmenanteil scheint ihm dabei recht geben zu wollen: Die 75 Stimmen, mit denen der 39-jährige Umweltnaturwissenschaftler zum neuen Gemeinderatspräsidenten gewählt wurde, gelten als niedrigster Wert seit Jahrzehnten, wie der Tages-Anzeiger schreibt. Das könnte vor allem damit zusammenhängen, dass Probst bislang als radikaler Grüner wahrgenommen wurde. Erst im März hatte er in einem Postulat Netto-Null für die städtischen Bauernhöfe gefordert, was auf der rechten Ratsseite gar nicht gut ankam.

Als Gemeinderatspräsident hat Probst nun ein repräsentatives Amt inne und kann sich nicht so stark in die parlamentarischen Debatten einbringen. Als Präsident sei er nicht dafür da, dem Gemeinderat eine politische Richtung zu geben, erklärt er. Er wolle im Dialog sein und Brücken schlagen. Trotzdem könnte sein Einfluss bei den knappen Mehrheitsverhältnissen im Rat entscheidend sein: Als Gemeinderatspräsident obliegt ihm nämlich der Stichentscheid.

Vorgenommen hat er sich, den demokratischen Prozess transparent zu machen, erklärt Probst: «Ich will der Bevölkerung erklären, was da passiert, warum wir dieses riesige Brimborium machen.» Damit wolle er auch dazu beitragen, das demokratische System in diesen Zeiten zu stärken.

Warum sind Sie Gemeinderat geworden?
Ich habe vor ungefähr 20 Jahren in Zürich die Jungen Grünen mitgegründet und dann war klar, dass ich auch ins Parlament will. Mit der ersten Welle junger Grüner bin ich dann vor 16 Jahren in den Gemeinderat gekommen.

Mit welche:r Ratskolleg:in der Gegenseite würden Sie gerne mal ein Bier trinken gehen?
Ich trinke mit allen gern Bier, wenn es lustig ist. Zum Beispiel mit Mauro Tuena (SVP), denn er ist einfach witzig. Leider ist er jetzt nicht mehr im Gemeinderat.

Welches Abstimmungsergebnis hat Sie bisher am meisten geärgert?
National gesehen war das CO2-Gesetz ein herber Rückschlag für die Umweltpolitik. Im Gemeinderat passiert es ehrlich gesagt relativ selten, dass wir eine Abstimmung verlieren. Aber ärgerlich war zum Beispiel, als wir in der Richtplandebatte Bäume besser schützen wollten und uns damit nicht durchsetzen konnten.

Weitere Themen der Woche

  1. Der Gemeinderat hat die Geschäftsberichte 2021 der Stadtkanzlei und der Asyl-Organisation Zürich AOZ an die zuständige Geschäftsprüfungskommission zugewiesen. Die AOZ ist eine selbständige öffentlich-rechtliche Anstalt der Stadt Zürich. In der entsprechenden Weisung des Stadtrats heisst es unter anderem, 2021 seien «die unterschiedlichen Rollen von Eigentümerin und AOZ klarer ausgestaltet» worden: Der Stadtrat wird im Verwaltungsrat der AOZ inzwischen nicht mehr durch den Vorsteher des Sozialdepartements, sondern durch die Vorsteherin des Sicherheitsdepartements vertreten.
  2. Die Geschäftsleitung des Gemeinderats hat für die Amtsdauer 2022–2026 erneut Franco Magistris zum Direktor der Finanzkontrolle gewählt. Im entsprechenden Vorschlag des Stadtrats hatte es geheissen, mit Magistris verfüge die Stadt «über eine überzeugende Persönlichkeit mit ausgewiesener Fach- und Führungskompetenz an der Spitze der Finanzkontrolle».

Was du schon immer über den Gemeinderat wissen wolltest

Heute: Die Wahl von Sekretär:innen und Stimmenzählenden

Die Wahl der Sekretär:innen und der Stimmenzählenden ist die erste Amtshandlung während der konstituierenden Sitzung im neuen Amtsjahr. Eigentlich ist sie ein unspektakulärer Vorgang im rituellen demokratischen Ablauf. Im letzten Jahr aber kam es bei der Wahl der Sekretär:innen zu einem Eklat: Die linke Ratsmehrheit hatte dem SVP-Rechtsaussen-Politiker Derek Richter die erneute Ausführung seines Sekretärsamts versagt. Grund waren wiederholte Provokationen Richters gegenüber Ausländer:innen und Frauen und schliesslich seine Anzeige einer grünen Ratskollegin bei der Kesb, weil deren minderjährige Tochter am Klimacamp vor dem Berner Bundeshaus teilgenommen hatte.

Dieses Mal lief die Wahl der drei Sekretär:innen deutlich entspannter. Gewählt wurden Heidi Egger (SP), Simon Kälin-Werth (Grüne) und Ann-Catherine Nabolz (GLP). Sie sind unter anderem für die Protokollierung der Sitzungen zuständig.

Auch vier Stimmenzählende wurden gewählt. Doch was ist eigentlich deren Aufgabe, wenn die Stimmen der Ratsmitglieder heute doch längst elektronisch gezählt werden? Sie kommen zu Beginn der konstitutierenden Sitzung bei der Wahl des Gemeinderatspräsidiums zum Einsatz. Diese Wahl ist nämlich nicht öffentlich, sondern geheim. Die Stimmenzählenden gehen durch die Reihen, teilen die Stimmzettel aus, sammeln sie wieder ein und zählen sie durch. Laut Andreas Ammann, leiter der Parlamentsdienste, kommen die Stimmenzählenden auch dann zum Einsatz, wenn die Abstimmungsanlage einmal ausfallen sollte.

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