Fussballserie: In der Halle mit Elle Real - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Alice Britschgi

Praktikantin Redaktion

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5. April 2022 um 04:30

In der Halle mit Elle Real: «Die dritte Halbzeit ist die wichtigste»

In der Region Zürich könnte man jeden zweiten Tag im Jahr mit einem anderen Fussballclub trainieren. Wir haben mit vier Stadtzürcher Vereinen angefangen und sie auf dem Fussballplatz besucht. Heute: Elle Real von der Alternativen Frauenliga.

Bei Teamfotos gilt bei Elle Real eigentlich das Prinzip «Plattencover»: Nur jemand soll in die Kamera schauen. (Foto: Alice Britschgi)

«Baila, baila Morena, sotto questa luna piena, under the moonlight», tönt es durch die Sporthalle Sihlhölzli, wo die Turnschuhe über das Linoleum quietschen und der Filzball dumpf auf den Steinwänden aufschlägt. Durch die hohen Fenster der alten Halle fällt stechendes Sonnenlicht auf die blauen, roten und gelben Bodenmarkierungen, deren Bedeutungen sich nur ganz versierten Sportler:innen komplett erschliessen. Draussen sitzt ein heisser Frühlingstag in seinem Zenit, drinnen rinnen Schweissperlen über die Gesichter der Fussballerinnen. Gerade spielt Schwarz gegen Blau – präziser: Schwarztöne gegen Blautöne. Die Spielerinnen tragen Shirts in verschiedenen Schattierungen – was der Kleiderschrank gerade hergab. «In der Mensa gibt es Hotdogs und Kafi», schallt es zwischen den zwölfminütigen Matches aus den Lautsprechern. Danach geht’s weiter mit «Football’s coming home, it’s coming home, it’s coming home, it’s coming…»

An diesem Sonntag findet das Sihlhölzli Hallenturnier der Frauen des Fortschrittlichen Schweizer Fussball-Verbandes (FSFV), auch bekannt als Alternative Liga, statt. Normalerweise spielen dann die Teams der Frauenliga gegeneinander: der FC Blutgretchen gegen die Depordivas, MaraDonna gegen den FC St. Paula. Dieses Mal ist alles anders. Wegen Corona haben in den letzten zwei Jahren viele Spielerinnen aufgehört zu trainieren und so wären einige Teams zu klein gewesen, um am Turnier teilzunehmen. Kurzerhand entschied man sich, die Frauschaften wild durcheinander zu mischen. 

Fussball für die Staatsschutzakte

Das Durcheinandermischen, den Sport nicht ganz so ernst nehmen, das passt zum FSFV. «Revolutionäre Linke» gründeten die Alternative Liga in den 70ern. Zum einen, weil Fussball und insbesondere die Strukturen des Schweizerischen Fussball Verbandes unter den Links-Aktivist:innen verpönt waren; zum anderen, um die linken Ideale auf das Fussballfeld zu bringen, wie der Historiker Christoph Kohler schreibt. Kohler ist Autor des Dokfilms «Ein Tor für die Revolution», der die Geschichte des FSFV erzählt. In der Alternativen Liga wurden Ranglisten, Schiedsrichter:innen und einheitliche Trikots abgeschafft, dafür das Streikrecht auf dem Fussballplatz eingeführt. Das war damals tatsächlich so aufmüpfig, dass das Sportamt die Mitglieder des FSFV der Zürcher Stadtpolizei meldete. Weil diese die linken Aktivist:innen aus Gründen des Staatsschutzes ausspionierten, erhielten die damaligen Spieler:innen einen Eintrag in ihre Staatsschutzakte. Seither hat sich der Verband allerdings entpolitisiert. Die Schiedsrichter:innen sind zurück. Doch der Kodex der Alternativen Liga lautet noch heute: «Schöne Spiele gegen liebe Gegner:innen.»

In der Sporthalle Sihlhölzli ist man von oben bis unten umringt von Ringen. (Foto: Alice Britschgi)

Auch die Integration der Frauen in den Fussball war ein Ziel der Alternativen Liga, das jedoch zu scheitern drohte, bis im Jahr 2000 die Frauenliga entstand. Seit Beginn ist Anna Suter (49) dabei – als Verteidigerin im Team Elle Real und lange auch als eine der Verantwortlichen der Frauenliga. Noch leicht ausser Atem vom Spiel gegen die Blautöne erzählt sie in der gleissenden Sonne vor der Turnhalle, wie sie das Frauenteam vor 22 Jahren für ein Grümpi gründete und was es mit dem Namen «Elle Real» auf sich hat.

Real No Sport

Luis, ein Spanier, den Anna von ihrer damaligen Arbeitsstelle kannte, bot an, die frisch gegründete Frauschaft zu trainieren. Als ehemaliger Trainer der Barça-Junioren hatte er Erfahrung. Die Amateurfussballerinnen seien ihm dann allerdings zu unmotiviert gewesen, sagt Anna und lacht. Sie fanden sein Training zu anstrengend. Mit ihrem Namen wollten sie Luis ein Denkmal setzen und nannten sich Real No Sport. Real, weil sie die beiden Clubs FC Barcelona und Real Madrid verwechselten – eine Peinlichkeit, von der der «Ex-Trainer» zum Glück nie etwas erfuhr. No Sport erklärt sich von selbst. Später wurde aus Real No Sport durch die Fusionierung mit einem anderen Team Elle Real.

Anna, Yasemin und Nic spielen bei Elle Real. (Foto: Alice Britschgi)

«Mit Herz und ohne Trainer», lautete der Slogan der Frauschaft fortan. «Früher gab es in der Alternativen Frauenliga viele Trainer. Sie zeigten den Frauen, die neu im Fussball waren, wie man spielt. Wir wollten das nicht», erzählt Anna. Das habe sich allerdings gerächt. Sie seien jahrelang die Schlechtesten gewesen. Irgendwann habe das keinen Spass mehr gemacht. Nun hat Elle Real Carmen – eine ehemalige Mitspielerin, die das Team nicht Trainerin, sondern Coach nennt. Mit ihr stiegen die Spielerinnen ins Mittelfeld der Frauenliga auf.

Freundeskreis durch Fussball

Im Gegensatz zu anderen Teams ist Elle Real in den letzten zwei Jahren nicht geschrumpft, sondern gewachsen. «Weil wir wahnsinnig lässig sind», sagt Anna mit einem Zwinkern. Viele der Spielerinnen hätten durch den Fussball erst ihren richtigen Freundeskreis gefunden. Momentan sei der Zusammenhalt sehr eng, auch ausserhalb des Fussballs. Bei Elle Real spielen Frauen zwischen 22 und 49 Jahren. Lehrerinnen, eine Staatsanwältin, eine Journalistin, eine Architektin, eine Teilzeit-Älplerin, viele verschiedene Berufe finde man im Team. Anna ist Juristin und arbeitet in verschiedenen Teilzeitjobs: in einem Anwaltsbüro, im Tigel-Brocki, im Restaurant Jurablick auf dem Uetliberg und im Verband der Filmschaffenden. 

Drei Spielerinnen und ein Shirt: Nina, Dani und Phyllis tragen für das Foto dasselbe T-Shirt – ein und dasselbe. (Foto: Alice Britschgi)

Was das Team vereint, ist überraschend: «Fast niemand ist Fussball angefixt», sagt Anna, «wir spielen aus Spass an der Freude.» Und so schauen die Spielerinnen im Gegensatz zu vielen anderen Teams in ihrer Freizeit nicht gemeinsam Fussball. Es gibt genug anderes zu tun. Beispielsweise Besuche von Konzerten der Poshtrash-Punk-Band Riot Robin. Vier der fünf Musikerinnen spielen bei Elle Real. Im Zähringer finde am 8. Mai das nächste Konzert statt, erzählt Gitarristin Petra. Oder die Teamkolleginnen geniessen zusammen mit ihren lieben Gegnerinnen ein Bierchen nach dem Match. Denn: «Die dritte Halbzeit ist die wichtigste.»

«Wir luden die FIFA ein, statt auf dem schicken Kunstrasen am Hauptsitz auf unserer Holpertrainingswiese im Bungi zu tschutten.»

Anna Suter, Gründerin von Elle Real

Elle Real trainiert einmal die Woche. Im Winter in der Halle des Limmatschulhauses, im Sommer auf der Wiese der Tagesschule Bungertwies in Hottingen. Von Mai bis Anfang Juli findet zudem jedes Wochenende ein Match der Meisterschaft der Alternativen Frauenliga statt. Hinzu kommen der Herbst-Cup, das Hallenturnier im Frühling und das grosse Hallenturnier, wo auch die Männer der Alternativen Liga teilnehmen. «Nach Lust und Laune» nimmt Elle Real noch an verschiedenen Grümpis und Freundschaftsspielen teil.

8:0 gegen die FIFA

So wie damals, als Elle Real vom Hobby-Team der FIFA-Angestellten für ein Freundschaftsspiel angefragt wurde. Am Tag vor dem Spiel schickte die FIFA den Spielerinnen plötzlich mehrseitige Verträge zum Unterzeichnen. Als Teil der Alternativen Liga lehnte Elle Real natürlich ab. «Wir luden sie ein, statt auf dem schicken Kunstrasen am FIFA-Hauptsitz auf unserer Holpertrainingswiese im Bungi zu tschutten», erzählt Anna, «das wollten sie nicht.» Zwei Stunden vor dem Anpfiff habe die FIFA dann per SMS mitgeteilt, dass Elle Real doch nichts unterschreiben müsse. Und so kam es zum Spiel vor dem «FIFA-Palast». Elle Real gewann, «glaubs etwa 8 zu 0», wie sich Anna erinnert.

Lea, Daria und Coco tragen die Elle-Real-Krone auf der Brust. (Foto: Alice Britschgi)

Weil die eigentlichen Frauschaften der Alternativen Liga am heutigen Tag nicht von Bedeutung sind, haben es nur zwei hellblau-weiss gestreiftes Trikots von Elle Real aufs Sihlhölzli geschafft. Für die Panini-Bilder, die ich vom zusammengetrommelten Team vor der Sporthalle aufnehme, reicht das allemal; Eines der Shirts wandert von Spielerin zu Spielerin und macht aus den Blautönen, Schwarztönen, Gelb-, Grün-, Rot- und Weisstönen zumindest auf meiner Kamera wieder das eingeschweisste Team Elle Real. Nach dem Shooting schaue ich mir noch ein Spiel an. Diesmal spielen Schwarztöne gegen Rottöne. Die andern Farben wuseln kreuz und quer durch die Sporthalle, unterhalten sich, tupfen sich den Schweiss von der Stirn, nehmen einen Schluck Wasser aus ihren Trinkflaschen. Alle sind schon etwas müde, denn sie haben bereits an die fünf Spiele hinter sich. Bald stehen das kleine und das grosse Final an. Die Schwarztöne von Anna erreichen die Endrunde nicht. Wer genau im Final spielen wird, interessiert niemanden so richtig. Am Grande Finale sind sowieso alle dabei: «ab 15:15: gemütliches Beisammensein», heisst es auf dem Spielplan zum letzten Programmpunkt. Die dritte Halbzeit. Das erinnert mich an die Mensa. In meinem Kopf vermischen sich Würstchen-, Kaffee- und Turnhallenduft. Es ist Zeit zu gehen. Beim Verlassen der Halle überlege ich mir doch kurz einen Hotdog zu holen, entscheide mich dann aber für den schnellsten Weg nach draussen an die frische Luft – under the sunlight.

Elle Real

2002 gegründet

Schulhaus Bungertwies, Hottingen & Limmatschulhaus, Gewerbeschule

Alternative Frauenliga

Nur ein Team

100 Franken Jahresbeitrag

Fussballserie

1. Auf dem Rasen mit dem FC Kosova

2. In der Halle mit Elle Real

3. Auf dem Kunstrasen mit dem FC Hard

4. Auf dem Fussballplatz mit dem FC Wiedikon

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