Frauen* im Gemeinderat: «Idealismus wird es bei politischem Engagement immer brauchen» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Steffen Kolberg

Redaktor

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8. Februar 2022 um 14:30

Aktualisiert 08.02.2022

Frauen* im Gemeinderat: «Idealismus wird es bei politischem Engagement immer brauchen»

Zwei Politikerinnen: Die eine links, die andere bürgerlich. Die eine gibt die aktive Politik wegen Unvereinbarkeit mit Beruf und Familie auf. Die andere schätzt die Milizpolitik wegen der Freiheiten. Ein Streitgespräch.

Olivia Romanelli vor dem Zürcher Rathaus, in dem wegen Corona-Auflagen derzeit keine Gemeinderatssitzungen stattfinden. (Foto: Steffen Kolberg)

Im Dezember sprach Tsüri.ch mit jungen Gemeinderätinnen und Gemeinderatskandidatinnen über das Feierabendparlament, die strukturelle Doppelbelastung politischer Arbeit und die männlich geprägte Kultur im Gemeinderat. 

In der Folge erreichten uns viele Rückmeldungen, unter anderem von Martina Zürcher (FDP) und Olivia Romanelli (AL), beide Gemeinderätinnen seit 2018. Romanelli (47) setzte sich in der vergangenen Legislatur vergeblich für eine bessere Entlöhnung der Parlamentsarbeit ein. Sie tritt wegen dem Zeitaufwand der politischen Arbeit bei dieser Wahl nicht mehr an. Zürcher (35) wurde im letzten Jahr Mutter und findet die Struktur des Feierabendparlaments in ihrem Fall hilfreich. Tsüri.ch hat die beiden zum Streitgespräch gebeten.

Steffen Kolberg: Frau Zürcher, Sie haben mir als Reaktion auf die Tsüri.ch-Artikel «Frauen* im Gemeinderat» geschrieben, für Sie mit Kind seien die Gemeinderatssitzungen am Abend gut gelegen, da dann die Kinderbetreuung durch den berufstätigen Partner oder andere Verwandte oder Bekannte möglich sei. Muss sich aus Ihrer Sicht trotzdem etwas ändern, wenn es um die Vereinbarkeit von Familie, Beruf und politischem Engagement wie zum Beispiel Gemeinderatsarbeit geht?

Martina Zürcher (FDP): Ungelöst sind zurzeit längere «unverschuldete» Abwesenheiten, sei dies durch Mutterschaft, Krankheit, Unfall, aber auch Militär, Zivilschutz und so weiter. Mit ungelöst meine ich einerseits eine allfällige Stellvertretung im Parlament, andererseits eine entsprechende Versicherung. Weil einige ihr Pensum beim Arbeitgeber für den Gemeinderat reduziert haben, sind sie beispielsweise nicht mehr so gut gegen Invalidität und Tod versichert.

«Man muss es sich leisten können, Mitglied des Gemeinderats zu sein»

Olivia Romanelli (AL)

Olivia Romanelli (AL): Genau in dem Punkt, dass viele für das Gemeinderatsmandat ihr Pensum reduzieren, liegt das Problem des Zürcher Gemeinderats. Wir haben zu viele und zu lange Sitzungen für ein Milizparlament, unter dem man ein politisches Amt mit dem Beruf vereinbaren muss. Natürlich hängt es auch von der Fraktionsgrösse der Partei ab, wie viel Rats- und Kommissionsarbeit beim einzelnen Gemeinderatsmitglied hängen bleibt.

Umgekehrt ist beispielsweise bei Verbandspolitiker:innen das Gemeinderatsmandat ein Teil des Jobs. Andere erhalten Unterstützung von ihren Arbeitgeber:innen , indem sie Parlamentsarbeit auch während der Arbeitszeit erledigen dürfen. Wer aber einen Beruf hat, in dem das nicht möglich ist, wird  das Arbeitspensum reduzieren müssen. Das bedeutet weniger Einkommen und weniger Geld in der Pensionskasse. Man muss es sich also leisten können, Mitglied des Gemeinderats zu sein.

«Ein Milizparlament ist sehr wertvoll, weil die Mitglieder mehrheitlich nicht in einer ‹Bubble› leben»

Martina Zürcher (FDP)

Zürcher: Natürlich bedingt das Gemeinderatsmandat Idealismus und ehrenamtliches Engagement, weil das Sitzungsgeld kleiner als ein durchschnittliches Einkommen ist. Es gibt aber viele Formen von Engagement. Vorstandstätigkeiten in Vereinen beispielsweise sind sogar vollständig ehrenamtlich und dienen auch dem Wohlergehen der Gesellschaft. Ein Milizparlament ist sehr wertvoll, weil die Mitglieder mehrheitlich nicht in einer «Bubble» leben.

Die vielen und langen Sitzungen des Gemeinderats sind teilweise «selbstverschuldet». Beispielsweise wurden die langen Debatten zum bürokratischen Monster des kommunalen Richtplans  von Rot-Grün eingefordert, oder es gibt einige Gemeinderät:innen, welche sich in den Voten nicht kurzfassen. Als ich im 2018 in den Gemeinderat eingetreten bin, waren die Sitzungen noch kürzer.

Angenommen die Fragen der Stellvertretung und der Versicherung wären gelöst, würde sich dann an der Zusammensetzung des Gemeinderats viel ändern? Für Geringverdienende sind andere ehrenamtliche Tätigkeiten oft auch schwierig zu vereinbaren, doch wäre ihre Repräsentation im Parlament nicht auch wünschenswert, damit dieses nicht zu einer «Bubble» wird?

Romanelli: Wir müssen uns von der Illusion verabschieden, dass die Parlamentsarbeit in der basisdemokratischen Grossstadt Zürich nebenher in der Freizeit geleistet werden kann. Wir erleben laufend, wie engagierte Leute aus dem Parlament austreten. Es ist offensichtlich, dass junge Frauen und junge Männer zunehmend Schwierigkeiten haben, die zeitlich sehr intensive parlamentarische Arbeit mit Familie und Beruf zu vereinbaren. Dies wird auch oft als Rücktrittsgrund genannt. Ich bin sicher, dass ein Lohn und die Verlegung der Sitzungen in den Tag zu einer besseren Vereinbarkeit der parlamentarischen Arbeit mit Familie und Beruf führen und die Teilhabe im Parlament auch Geringverdienenden erleichtern würde. Idealismus wird es bei politischem Engagement immer brauchen.

Zürcher: Als Mutter eines Kleinkindes bräuchte ich bei tagsüber stattfindenden Sitzungen  mehr familienexterne Kinderbetreuung. Sitzungen am Abend können vom anderen, berufstätigen Elternteil abgedeckt werden. Auch in der Vereinbarkeit mit dem Beruf ist es etwas anderes, wenn man wie heute an zwei Tagen – einmal wegen der Gemeinderats- und einmal wegen der Kommissionssitzung – «früher weg muss», als wenn man den ganzen Tag nicht arbeiten kann. Dies würde dann einfach andere Berufsgruppen quasi ausschliessen. Übrigens, knapp die Hälfte der FDP-Fraktion hat kleine Kinder oder Kinder im schulpflichtigen Alter zuhause. Und diejenigen Freisinnigen, die in der ablaufenden Legislatur ausgetreten sind, hatten ein durchschnittliches Dienstalter von fast acht Jahren.

Frau Romanelli, Sie betonten in Reaktion auf die erschienenen Artikel, dass das Problem der Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Parlamentsarbeit nicht nur Frauen, sondern auch Männer betreffe. Nun ist der Frauenanteil im Zürcher Gemeinderat in den letzten Jahren immer weiter gesunken, Frauen treten weiterhin häufiger von ihrem Amt zurück als Männer. Wenn es nicht, oder nicht nur, die Doppel- oder Dreifachbelastung ist, was führt dann zu diesem Ungleichgewicht?

Romanelli: Der Frauenanteil im Gemeinderat beginnt mit den Kandidatinnen auf den Wahllisten. Schon in dieser Phase ist es schwierig, Frauen für ein Gemeinderatsmandat zu finden. Die Mehrfachbelastung ist ein grosses Thema. Frauen mit Familie überlegen es sich sehr genau, ob sie diese zusätzliche Belastung auf sich nehmen wollen. Noch immer sind es viel häufiger die Frauen, die unbezahlte Care-Arbeit leisten. Über die Gründe, warum Frauen häufiger zurücktreten, könnte ich nur mutmassen. Ich persönlich erlebe das Gemeinderatsmandat als 40%-Pensum. Das ist zu viel, um das über Jahre hinweg zusätzlich zu Beruf und Familie zu leisten. Ich trete deswegen auch nicht wieder an.

Zürcher: Gerade für Familien mit verschiedenen beruflichen und anderweitigen Engagements ist es wohl selten einfach, alles optimal aneinander vorbeizubringen, ganz unabhängig für welchen Elternteil. Das gilt natürlich auch, wenn ein Elternteil im Gemeinderat ist. Besonders jetzt während des Wahlkampfs, der viel zusätzliche Zeit benötigt. Trotz allem hat aber die FDP-Fraktion in der ablaufenden Legislatur ihren Frauenanteil erhöht. Bezüglich den Wahllisten kann ich nur für meinen Wahlkreis 10 sprechen: Nach meinem Kollegen Andreas Egli und mir sind auf den nachfolgenden beiden Ersatzplätzen gleich zwei Frauen, die sehr gerne gewählt werden möchten.

Martina Zürcher vor der Messehalle 9,die seit zwei Jahren für die Gemeinderatssitzungen genutzt wird. (Foto: Steffen Kolberg)

Als AL-Gemeinderätin Ezgi Akyol 2020 zurücktrat, lehnten die nächsten sechs Ersatzkandidat:innen auf der Liste, darunter fünf Frauen, das Mandat ab. Schliesslich rückte mit dem siebten Kandidaten Willi Wottreng ein über 70-Jähriger Mann in den Gemeinderat nach. Es scheint also nicht zu reichen, die Wahllisten diverser zu besetzen.

Romanelli: Es kann sogar der grössten Partei passieren, dass niemand von der Wahlkreisliste die Wahl annimmt. Von der Zusage für eine Kandidatur bis zum allfälligen, tatsächlichen Nachrutschen in den Gemeinderat können ein paar Jahre vergehen. Speziell bei jüngeren Kandidat:innen kann sich die Lebenssituation in dieser Zeit schnell verändern. Die FDP hatte – angesichts der Grösse ihrer Partei – mit rund 20% jahrelang eine sehr tiefe Frauenquote. Nur bei der SVP ist der Frauenanteil über die Jahre hinweg noch tiefer. Die AL bewegt sich eher um die 50%. Bei einer zehnköpfigen Fraktion können Rücktritte während der Legislatur das Geschlechterverhältnis jedoch sehr schnell verändern.

«Ich finde es wichtig, dass Diversität auch anderes umfasst als nur das Geschlecht»

Martina Zürcher (FDP)

Zürcher: Zuerst finde ich es wichtig, dass Diversität auch anderes umfasst als nur das Geschlecht. So ist Willi Wottreng aktuell der älteste im Gemeinderat und trägt meines Erachtens so auch zur Diversität bei. Die FDP stellte übrigens bei Legislaturbeginn den jüngsten Gemeinderat. Zum Frauenanteil: Zurzeit hat die FDP im Gemeinderat einen Frauenanteil von 30% und ich kann mir durchaus vorstellen, dass dieser nach den Wahlen weiter steigt. Die SP-Fraktion hat, zum Vergleich, einen Frauenanteil von knapp 40%.

«Die Sitzungen finden auch dann statt, wenn man einmal unvorbereitet ist»

Olivia Romanelli (AL)

SP-Gemeinderätin Marion Schmid erklärte in Reaktion auf die Artikel, dass Frauen eher zurücktreten, weil sie «oft höhere Ansprüche an ihre eigene Arbeit stellen und rascher ‹aufgeben›, wenn sie das Gefühl haben, diesen nicht genügen zu können.» Würden Sie dem zustimmen?

Romanelli: Ich habe solche Pauschalisierungen nicht so gerne. Eine Frau, die aus diesem Grund zurückgetreten ist kenne ich nicht. Höhere Ansprüche an die eigene Arbeit haben vermutlich viele Ratsmitglieder. Das ist in unserer zwinglianischen Stadt wohl eine weit verbreitete Charaktereigenschaft. In diesem Milizparlament lernen wir zwangsweise, zu priorisieren. Die Sitzungen finden auch dann statt, wenn man einmal unvorbereitet ist.

Zürcher: Dem habe ich nichts anzufügen.

Glauben Sie, dass wir bei der bevorstehenden Wahl noch einen weiter sinkenden Frauenanteil im Gemeinderat sehen werden, oder kommt nun die Trendwende?

Zürcher: Wenn die FDP Sitze dazugewinnt, dann wird ihr Frauenanteil wahrscheinlich weiter steigen. Es liegt also ganz in der Hand der Wähler:innen.

Romanelli: Ich hoffe sehr auf die Trendwende. Für einen nachhaltig höheren Frauenanteil muss der Gemeinderat in der kommenden Legislatur die Voraussetzungen für eine bessere Vereinbarkeit des politischen Amtes mit Beruf und Familie schaffen.

Das Interview wurde per E-Mail geführt.

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