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6. September 2017 um 07:05

Fotzelschnitte und Blutkuchen: Warum Reste-Essen ziemlich cool ist

Glutenfrei, regional, vegan: Heute jagt ein Ernährungstrend den nächsten. Die Workshop-Reihe «Vörigs» zeigt, dass wir uns deutlich weniger Gedanken darüber machen sollten, was auf den Esstisch kommt, als darüber, wie vieles davon danach direkt im Abfall landet.

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Wann hast du das letzte mal ein paar Scheiben Brot vom Vortag in Fotzelschnitten verwandelt? Oder daraus einen Auflauf gebacken? Oder noch exotischer: Eine Terrine daraus gemacht? Wie das Kochbuch «Knuspriges Brot und köstliche Brotgerichte» von Betty Bossi zeigt, gibt es noch diverse weitere süsse und herzhafte Speisen, die sich aus altem Brot zaubern lassen.

Das Buch und sein bereits vergriffener Vorgänger dokumentieren, wie sich das Verhältnis zu Nahrungsmitteln Anfang der Achtziger veränderte: Erstmals seit der Völlerei des Wirtschaftsbooms, welche damals auf die von Mangel geprägten Kriegsjahre folgten, war die Verwertung von Resten wieder ein Thema. Anstatt Übriggebliebenes bestenfalls für den Spaziergang zum Ententeich aufzuheben, war es plötzlich en vogue, alles bis auf den letzten Krümel zu verwerten.

Doch der Trend ebbte bereits in den 1990er-Jahren wieder ab. Heute landen in der Schweiz jährlich rund 250'000 Tonnen Nahrungsmittel in den Kehrichtsäcken der Privathaushalte. Das sind über 31 Kilogramm pro Kopf. Dabei wäre rund ein Sechstel noch grösstenteils geniessbar. Dieser Umgang mit Lebensmitteln ist nicht nur eine Verschwendung von Ressourcen, sondern bringt auch viele Kosten mit sich – für Private wie auch für den Staat.

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Auch vom Rüebli gibt es nur das Filetstück

Jetzt wird Betty Bossis Brotzauberei wieder aktuell. Was man alles Köstliches aus alten Backwaren zubereiten kann, lernt man unter anderem im Kurs «Vörigs Brot: Mehr als Entenfutter», der im Rahmen des Festivals «Food Zurich» von der Organisation «Slow Food Youth» angeboten wird.

Der Brotkurs ist einer von vielen Kursen, der sich um die Wiederverwertung von vermeintlich minderwertigen Esswaren dreht. Bei einem anderen Kurs zeigt Koch Pascal Haag den Teilnehmer*innen, was man aus Blüten, Blättern und Wurzeln zaubern kann: Er lässt sie beispielsweise Pesto aus Radieschenblättern degustieren. «Leaf to Root» nennt sich diese Verarbeitungsweise, bei der Zutaten wie Karottengrün oder Kohlrabiblätter im Kochtopf landen, welche in der zeitgenössischen Hausmannskost unbekannten sind .

In der Theorie klingt dies sehr sinnvoll, in der Praxis erweist sich diese Art zu Kochen dann aber doch als schwierig. Zwar hat sich Coop vor einigen Jahren auf die Fahne geschrieben die Schweizer Bevölkerung für die Launen der Natur zu sensibilisieren, indem der Detailhandelsriese unter dem Label «Ünique» krumme Rüben, siamesische Tomaten und sichelförmige Zucchetti verkauft. Doch Rüben, Kohlrabis oder auch Fenchel mit Blättern und Grün? Fehlanzeige.

Krummes Gemüse ist lustig – und ein Riesenaufwand für den Bauern

Das ist eigentlich paradox. Denn die Aussortierung dieser lustigen Knollen und Wurzeln für die «Ünique»-Reihe ist für den Bauern aufwändiger, als wenn er einfach Wurzeln und Blätter am Gemüse liesse. Bisher gingen alle Produkte, die es aus ästhetischen Gründen nicht in die Supermärkte schafften, zu einem kleinen Teil in die Gastronomie – oder sie wurden für Tierfutter verwendet. Für das Label «Ünique» aber müssen die qualitativ schlechteren Produkte jetzt nochmals sortiert werden. Der einzige Vorteil für die Bauern: Für das Gemüse, das im Supermarkt landet, erhalten sie mehr Geld als für die Reste, welche im Tierfutter enden.

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Foto: Coop

«Für ‹vollständiges› Gemüse muss man unter Umständen eine Vorbestellung auf dem Markt machen oder mal in den Bio- und Hofläden in der Umgebung fragen», räumt Mareike Biegert ein, welche ein aktives Mitglied von «Slow Food Youth» und Mitorganisatorin der «Vörigs»-Anlässe ist. Der Gang zum Markt oder Bio-Hofladen kann jedoch teurer und weniger komfortabler sein als der schnelle Einkauf im Supermarkt. Für Biegert lohnt sich der Aufwand dennoch aus mehreren Gründen: «Kochzutaten wie Blätter und Stiele bekommt man hier gratis zum Gemüse dazu. Zudem ist es ungemein bereichernd, wenn man sich mit Ungewohntem konfrontiert, anfängt Rezepte zu recherchieren und dabei feststellt, dass auch diese Produkte gar nicht so schwer zuzubereiten sind.»

«Wenn man überlegt, was ein Ei genau ist – warum ist Blut dann so eklig?»

Wo sich die Frage nach der Resteverwertung noch viel dringender stellt, ist natürlich bei tierischen Produkten – aus Kostengründen und ethischen Überlegungen. Natürlich landen nicht alle Schlachtabfälle im Kübel: Während ein Grossteil der Häute zu Leder verarbeitet und ein Teil der Innereien zu Tierfutter verarbeitet wird, finden Blut und Fett auch in der Kosmetik, für Zigarettenfilter oder Medikamente Verwendung. Dennoch: Vieles wird nach wie vor kostenpflichtig entsorgt, aus Mangel an passenden Abnehmern.

Bereits Anfang Jahr wollten die Initiant*innen von «Slow Food Youth» daher mit einem «Nose to Tail»-Kochkurs, bei dem das ganze Tier verarbeitet wird, mehr Leute für dieses Thema sensibilisieren. Auch ein Kurs zum Kochen und Backen mit Blut wurde angeboten, der laut Organisator*innen grossen Anklang fand. Es zeigte sich: Wer sich nicht ziert, mit ungewohnten Zutaten zu hantieren, dem eröffnen sich auch kulinarisch ganz neue Möglichkeiten.

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«Berührungsängste haben wir, weil wir es uns nicht gewöhnt sind, beispielsweise mit Blut zu kochen», sagt Laura Schälchli, Gastronomin und Präsidentin von «Slow Food Youth». «Wüssten jedoch die Konsumenten, dass die gesundheitlichen Risiken beim Vorbereiten und Essen von Geflügel höher ist, als mit Blut zu kochen, würden sie sich vielleicht eher trauen.» Gerade beim Backen, wo als Bindemittel vor allem Eier verwendet werden, könne man sich schon überlegen zu Blut zu greifen. Es besässe dieselben Eigenschaften wie Ei und sei reich an Eisen, erklärt Schälchli weiter. Und sie fragt: «Wenn man sich überlegt, was ein rohes Ei genau ist, ist dann Blut wirklich so eklig?»

«Butcher Steak» – In den USA eine Delikatesse, bei uns Katzenfutter

Der Kurs «Nose to Tail» war so erfolgreich, dass ihn «Slow Food Youth» im Rahmen der «Vörigs»-Reihe wieder anbietet. Die Teilnehmer*innen probieren sich in der Zubereitung von 13 Rezepten. Neben altbekannten Gerichten wie Rindszunge oder Ochsenschwanz und Leberli stösst man hier auf Exotisches wie das «Butcher Steak» – ein in den USA sehr geschätztes Stück, das hierzulande bekannt ist als «Leistenfleisch» und nur für den Fressnapf der Katze oder den Abfall bestimmt ist. In einem anderen Kurs werden Interessierte mit der Geschichte und Theorie der Wurst vertraut gemacht, bevor es selber ans Wursten geht – schliesslich eine der bekanntesten Resteverwertungen.

Wiederholt stellt sich hier die Frage nach der Verfügbarkeit der Produkte im Alltag. «Blut, Knochen und andere vermeintliche Abfallprodukte kann man in der Regel beim Metzger bestellen», sagt Mareike Biegert. Kalbszunge, Nierli und Läberli wiederum erhält man auch fertig abgepackt oder tiefgefroren in konventionellen Supermärkten. Doch hier sollte man das Etikett studieren, bevor man zugreift. Denn viele Innereien kommen nicht aus der Schweiz. Das hängt einerseits damit zusammen, dass in einigen EU-Ländern Fleisch so billig produziert wird, dass sich nicht einmal mehr die Kühlung und der Transport von gewissen Innereien hiesiger Tiere lohnen. Andererseits gehen immer mehr Produkte wie Lunge, Herz und andere Innereien nach Asien, wo längst nicht nur Filet, Gehacktes und Steaks gegessen werden. Der Gang zum Metzger lohnt sich also ebenso wie der zum Bauern. Ausser beim Brot: Davon hat meist jede*r genug zu Hause – und wirft die harten Reste viel zu häufig weg.

Die Übersicht aller «Vörig»-Kurse von «Slow Food Youth», die zwischen dem 9. Und 17. September stattfinden.

Fotos: Sobre-Mesa/Lucas Kaspar

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