Zürcher Wohnungssuche: Zwischen Notschlafstelle und dem Sofa von Freund:innen - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Rahel Bains

Redaktionsleiterin

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26. September 2022 um 04:00

Zürcher Wohnungssuche: Zwischen Notschlafstelle und dem Sofa von Freund:innen

Eine Familie zieht mit ihren Töchtern von einer befristeten Wohnung in die nächste. Mit der Geschichte ihrer verzweifelten Wohnungssuche werfen sie die Frage auf, wer in der Stadt wohnen darf und wer verdrängt wird. Die grösste Genossenschaft und die Stadt bestätigen zwar die Schwierigkeit, bezweifeln aber die Wohnungsnot.

Martin Jonas sucht mit seiner Familie seit zwei Jahren verzweifelt eine neue Bleibe. (Foto: Elio Donauer)

Die Nachfrage nach Wohnungen in den Städten ist ungebremst hoch, die Mieten ebenfalls. Derzeit sorgt ein Inserat einer 2-Zimmer-Wohnung mit Terrasse im Kreis 4 auf Social Media für Empörung. Der Grund: Die Miete kostet monatlich 5350 Franken. Walter Angst, AL-Gemeinderat und Leiter Kommunikation beim Mieter- und Mieterinnenverband, kritisiert gegenüber 20 Minuten vor allem den Quadratmeterpreis: «60 Franken pro Quadratmeter im Monat – das ist ein Mondpreis.» Obwohl es in Zürich eine sehr zahlungskräftige Kundschaft gebe, sei die Zahl der Mieter:innen, die bereit und in der Lage sind, mehr als 3500 Franken für eine Wohnung zu bezahlen, klein. 

Wie es ist, in Zürich verzweifelt eine bezahlbare Wohnung zu suchen, wissen Frederike Dengler (38) und Martin Jonas (44). Seit einem Jahr wohnt das Paar mit seinen beiden Töchtern (3 und 6 Jahre alt) zur befristeten Untermiete in einer 4-Zimmer-Wohnung im Seefeld. Das Mietverhältnis wurde bereits um ein Jahr verlängert, spätestens im kommenden Sommer müssen sie raus. Frederike und Martin sind beide Kulturschaffende, sie arbeitet in Zürich in der Theater-Programmation, er ist in München als Eventplaner tätig. Ihre Geschichte ist eine unter vielen und zeigt exemplarisch auf, wie schwierig es ist, in Zürich günstigen Wohnraum zu finden.

«Ich bin noch nicht fertig mit dieser Stadt, deshalb suchen wir unermüdlich nach Optionen. Doch langsam verlässt uns der Mut.»

Frederike Dengler

Für die Geburt ihres ersten Kindes zieht Frederike von Zürich, wo sie studiert hat, nach München zu Martin. Als drei Jahre später die zweite Tochter unterwegs ist, beschliesst die Familie, ihren gemeinsamen Lebensmittelpunkt nach Zürich zu verlegen. «Für mich ist es einfacher zu pendeln als für Frederike», erzählt Martin. 

Die beiden sitzen am Frühstückstisch ihrer grosszügigen Küche mit Blick auf die sonnige Wiese vor dem Haus. Diesen Sommer kam ihre älteste Tochter in die erste Klasse. Dass sie spätestens in einem Jahr die Schule wechseln muss, war so nicht geplant. Geplant war, bis zum jetzigen Zeitpunkt eine passende und vor allem unbefristete Wohnung in der Stadt gefunden zu haben. «Ich habe hier eine berufliche Basis und viele Möglichkeiten. Ich bin noch nicht fertig mit dieser Stadt, deshalb suchen wir unermüdlich nach Optionen, doch langsam verlässt uns der Mut», so Frederike. 

Eine befristete Wohnung nach der anderen

Bereits der Beginn ihres gemeinsamen Lebens in Zürich findet in einem befristeten Mietverhältnis statt, und zwar in der Genossenschaftswohnung einer befreundeten Künstlerin an der Kanzleistrasse. 60 Quadratmeter für 850 Franken, was will man mehr? Frederike: «Die Wohnung war nicht gross, aber es reichte. Von Mai bis Mai durften wir dort wohnen. Es war schön: Die Kinder spielten oft im Innenhof.» 

Standen schon fast auf der Strasse: Martin Jonas und Frederike Dengler. (Foto: Elio Donauer)

Nach einem halben Jahr steht fest, dass ihre Freundin nicht mehr nach Zürich zurückkehren wird und ihnen die Wohnung übergeben möchte. Aber die Genossenschaft ABZ lehnt ab: «Aufgrund einer neuen Klausel in ihren Mietverträgen, die besagt, dass sie keine befristeten Verträge mehr an Familien ausstellen dürfen», erklärt Martin. Befristet in diesem Fall, weil die Seebahn-Höfe schon bald einem Ersatzneubau weichen sollen.

Doch Frederike und Martin wollen nicht «für immer» in der Wohnung bleiben, sondern nur so lange, bis die ältere Tochter den zweiten Kindergarten abgeschlossen hat. Also bitten sie um eine Verlängerung des Mietvertrags. Aber von allen Seiten heisst es: «Tut uns leid. Ihr seid kein Härtefall.» 

Auch Nachbar:innen aus der Siedlungskommission, die ein gutes Wort für sie einlegen, können nichts ausrichten. Frederike fragt sich verzweifelt: «Kann uns mal jemand erklären, was ein Härtefall ist, wenn nicht eine Familie mit zwei Kindern, die bald auf der Strasse steht?» Es sei schon sinnvoll und grundsätzlich richtig, wenn man sage, Familien sollten nicht befristet leben. Doch sie hätten sich gewünscht, dass nicht alle Fälle pauschal bewertet werden. Frederike: «Die Siedlung ist übrigens noch immer nicht abgerissen.» 

«Ich habe das Innerste unserer Familie preisgegeben und das nur, weil wir ein Dach über dem Kopf möchten.»

Frederike Dengler

Keine Chance auf dem privaten Wohnungsmarkt

Auf die Frage, ob sie ihr Glück auch auf dem privaten Wohnungsmarkt versucht haben, antworten die beiden mit einem müden Lächeln: «Klar. Freund:innen schickten uns jeweils Anzeigen. Zum Beispiel von einer Wohnung in Wipkingen. 120 Quadratmeter für 2800 Franken. Das mag auf den ersten Blick verhältnismässig günstig scheinen, doch wir können uns das nicht leisten.» 

Und obwohl Genossenschaften und die städtische Liegenschaftenverwaltung oftmals Paaren mit Kindern den Vorrang geben, klappt es auch auf diesem Weg nicht: Die Familie meldet sich bei allen – wenigen – Genossenschaften, die noch eine Warteliste führen. Und bei den anderen wartet sie auf die Online-Ausschreibungen, die aufgrund der hohen Nachfrage jeweils nur wenige Stunden aufgeschaltet werden.

Einmal scheint eine Wohnung zum Greifen nah: Eine andere Genossenschaft lädt zur Besichtigung ein, um dann aber eine andere Partei zu wählen, die «noch besser passt». Sie versuchen es auch bei der städtischen Liegenschaftenverwaltung – und schaffen es bei einer 3-Zimmer-Wohnung gleich neben der Fritschiwiese durch den Zufallsgenerator an den Besichtigungstermin. 

Sie kommen unter die letzten drei und erklären der zuständigen Verwalterin, dass sie in zwei Wochen auf der Strasse stehen. Trotzdem erhalten sie eine Absage. «Manchmal hilft es, wenn man persönlich mit den Leuten spricht, doch mit der dafür zuständigen Person war nicht zu diskutieren», erzählt Martin und Frederike fügt hinzu: «Ich habe so viele Briefe geschrieben an so viele Menschen hinter Schreibtischen, die ich nicht kenne. Ich habe dort das Innerste unserer Familie preisgegeben und das nur, weil wir ein Dach über dem Kopf möchten. Wenn du dann merkst, dass du einfach so abgewiesen wirst, tut das schon weh.»   

Frederike und Martin wollen einen Ort finden, an dem sie ankommen können. (Foto: Elio Donauer)

Wegzug keine Option

Die Verwalterin verweist Frederike an das Amt für Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Diese nimmt Kontakt mit der zuständigen Person auf, überlegt es sich in letzter Minute aber anders und wählt statt der Notunterkunft die das Sofa von Freund:innen. «Es ist absurd, wenn man bedenkt: Ich lebe schon so lange hier, verdiene mein eigenes Geld, kann mir mein Leben organisieren und trotzdem zwingt mich der Wohnungsmarkt dazu, solche Diskussionen führen und zwischen Notschlafstelle und dem Sofa von Freund:innen entscheiden zu müssen.» 

Aus der Stadt wegzuziehen kommt derzeit nicht infrage: «Wir sehen nicht ein, nur aufgrund einer Notsituation in die Agglomeration zu ziehen», so Martin. Sie wollen nicht aufgeben, weiterhin in Zürich leben – und werfen mit ihrer Geschichte die Frage auf, wer in der Stadt wohnen kann und wer verdrängt wird. 

«Der Druck ist enorm und während der letzten fünf Jahre stark angestiegen.»

Martin Müller, Kommunikationsspezialist der ABZ Genossenschaft

Wer in dieser Stadt ein geringes Einkommen hat, ist wie Frederike und Martin auf preisgünstige Genossenschaftswohnungen oder städtische Liegenschaften angewiesen. Von einer Wohnungsnot möchte man bei Liegenschaften Stadt Zürich aber nicht sprechen. Es sei schwierig zu beurteilen, sagt Mediensprecher Kuno Gurtner. Er weiss: Je weiter die ausgeschriebenen Wohnungen vom Stadtzentrum und den beliebten Kreisen 3, 4, 5 und 6 entfernt sind, desto geringer das Interesse. «Deshalb zweifle ich manchmal ein wenig daran, ob man wirklich von einer Wohnungsnot sprechen kann.» Für die Erstvermietung der Siedlung Eichrain in Seebach habe man neulich – bei etwa gleich vielen ausgeschriebenen Wohnungen – nur einen Sechstel der Anzahl Bewerbungen erhalten, die zum Beispiel für die Siedlung Hornbach im Seefeld eingingen. 

Mehr als 500 Bewerbungen für eine Wohnung in Opfikon

Auch Martin Müller, Kommunikationsspezialist der ABZ Genossenschaft, bestätigt: Je zentraler die Wohnungen, desto beliebter. Und doch habe man neulich für eine 1,5-Zimmer-Wohnung im Glattpark in Opfikon mehr als 500 Bewerbungen erhalten. Im Schnitt gehen pro freie Wohnung 300 bis 400 Bewerbungen ein. «Der Druck ist enorm und während der letzten fünf Jahre stark angestiegen», weiss Müller. Dies ist auch ein Grund, weshalb die ABZ seit einem Jahr den gleichen Zufallsgenerator verwendet wie die Stadt Zürich. 

Diese hat übrigens die Zahl der Glücklichen, die eine Wohnung besichtigen dürfen, von ursprünglich 30 auf 50 bis 70 erhöht, weil immer wieder Leute nicht zu den Terminen erschienen sind. Nicht fair, findet Gurtner: «Diese Menschen nehmen anderen den Platz bei den Besichtigungen weg.» 

Ein Zufallsgenerator eigens für Notfälle wie Frederike und Martin, die es fast zwei Jahre lang nicht durch den Joker geschafft haben, ist nicht geplant. Es sei schwierig abzugrenzen, was ein Notfall sei und was nicht. Wenn man droht, auf der Strasse zu landen, solle man sich an das Sozialdepartement wenden, wo die einzelnen Fälle geprüft werden. 

Bei der Stadt werden wohl ab dem Jahr 2024 mehr Wohnungen – vor allem grössere – als bisher üblich auf den Markt kommen. (Foto: Elio Donauer)

Bei der ABZ wählt der Generator 30 Personen aus. Der Genossenschaft ist wichtig, bei der Zusammensetzung der Mieterschaft einen heterogenen Mix aus allen Bevölkerungsschichten herzustellen, was in den meisten Fällen gut gelinge. Müller weiss von Kolleg:innen aus der Vermietung, dass es immer wieder mal zu dramatischen Situationen mit Wohnungssuchenden kommen kann: «Es wird dann individuell gehandelt, das kann in alle Richtungen gehen.» 

Weshalb die Chancen auf bezahlbaren Wohnraum bald steigen werden

Die Genossenschaft würde gerne weiter wachsen und noch mehr Wohnraum schaffen, doch das fehlende Land sei das Problem. Immerhin: Dank dem nächsten grossen Projekt auf dem Koch-Areal werde es zu vielen internen Wechseln kommen, wodurch auch Externe wieder grössere Chancen auf eine ABZ-Wohnung erhalten würden. 

Auch bei der Stadt werden wohl ab dem Jahr 2024 mehr Wohnungen – vor allem grössere – als bisher üblich auf den Markt kommen. Dann gilt nämlich auch für ältere Mietverträge, die vor 2019 abgeschlossen wurden, die neue Vermietungsverordnung, die der Gemeinderat Anfang 2018 beschlossen hat. Unterschreitet ab diesem Zeitpunkt die Personenzahl die Zahl ganzer Zimmer um mehr als eins, gilt eine städtische Wohnung als unterbelegt. Zahlreiche dieser «unterbelegten» Wohnungen werden deshalb ab diesem Zeitpunkt frei. 

Einige Mietparteien haben sich laut Gurtner bereits auf Eigeninitiative mit einem Tauschgesuch gemeldet, um in eine kleinere Wohnung zu ziehen. Bis dann bleiben wohl vielen verzweifelten Wohnungssuchenden nur die Worte Müllers: «Schreibt euch für die jeweiligen Newsletter der Genossenschaften ein und bleibt dran.» 

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