ETH-Forscherin: «In Zürich haben zusätzliche 300’000 Menschen Platz» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Simon Jacoby

Co-Geschäftsleitung & Chefredaktor

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24. März 2023 um 05:00

«Nur weil der Staat baut, gehen die Mieten nicht automatisch runter»

Vorkaufsrecht, Verbot von Airbnb, mehr Genossenschaftswohnungen – Ideen gegen die Wohnungsnot gibt es viele. Doch was nützt tatsächlich? ETH-Forscherin Sibylle Wälty ist überzeugt: Mit Verdichtung haben in Zürich locker zusätzlich 300’000 Menschen Platz.

Sibylle Wälty: «Um die Wohnungsnot zu bekämpfen, ist Verdichtung der einzige Weg.» (Bild: Sophie Stieger)

Wenn die Wirtschaft wächst, steigt auch die Nachfrage nach freien Wohnungen. Doch Arbeitsplätze entstehen schneller, als Wohnraum gebaut werden kann. Deshalb kennt die Stadt Zürich bereits seit Jahrzehnten eine eklatante Wohnungsnot – derzeit liegt die Leerstandsziffer bei 0,07 Prozent. Schweizweit sieht es noch leicht besser aus, doch auch da sind nur 1,3 Prozent aller Wohnungen auf dem Markt. 

Wie kann diese Wohnungsnot gelindert werden? Was nützt ein Vorkaufsrecht der Gemeinden? Inwiefern sind starre Regeln an der behäbigen Bautätigkeit schuld und wie kann verdichtet werden, ohne dass Menschen aus der Stadt vertrieben werden? 

Die Forscherin Sibylle Wälty vom ETH-Wohnforum fordert, dass mehr gebaut und vor allem mehr verdichtet wird. Denn nur so könne die Wohnungsnot gelindert werden. 

Simon Jacoby: Zum Start eine persönliche Frage: Wie und wo wohnen Sie?

Sibylle Wälty: In Baden in einer städtischen Wohnung ohne Lift und ohne Balkon. Zu dritt haben wir eine Fläche von 75 Quadratmeter, also 25 pro Kopf. Das ist weit unter dem Durchschnitt von 46,6 Quadratmeter, doch wir wohnen auf so wenig Fläche sehr gut.

So wie Ihnen geht es nicht allen. Eine bezahlbare Wohnung zu finden wird immer schwieriger. Vor allem in den grossen Städten. Was ist Ihren Erkenntnissen nach die Ursache für die Wohnungsnot?

Wegen der Nähe zur Arbeit würden wir auch lieber in Zürich wohnen, doch das ist bekanntlich chancenlos. Und die Wohnungsmangellage in der Stadt Zürich ist längst kein neues Phänomen: Seit den 40er-Jahren waren nie mehr als zwei Prozent der Wohnungen leer und seit den 60er-Jahren bewegt sich der Leerstand sogar meist im Promillebereich. Die Hauptursache ist das Wirtschaftswachstum. Die Anzahl Vollbeschäftigte hat sich seit 1960 fast verdoppelt und dadurch auch die Nachfrage nach Wohnraum. Doch die Wohnungsproduktion ist unflexibel und konnte der Nachfrage nie folgen, weil wir ein Regelwerk geschaffen haben, das die adäquate Produktion von Wohnraum verunmöglicht. 

«Das Ziel muss Verdichtung ohne Verdrängung heissen.»

Schuld ist also nicht die Zuwanderung, sondern zu starre Regeln?

Selber haben wir nicht genügend Arbeitskräfte und unsere Wirtschaft ist so stark gewachsen, dass wir auf Zuwanderung angewiesen sind. Diese Menschen brauchen auch ein Dach über dem Kopf. Darum wird in zehn Jahren mit zehn Millionen Menschen in der Schweiz gerechnet. Die Frage ist also: Wo schaffen wir den zusätzlich benötigten Wohnraum?  

Im vergangenen Jahr sind in der Stadt Zürich 1151 Wohnungen abgerissen und 2556 neu gebaut worden. Gleichzeitig ist die Bevölkerung um rund 7000 Personen gewachsen. Das Bauen kommt den Menschen nicht nach.

Das 1980 vom Souverän angenommenen und 2013 revidierte Raumplanungsgesetz wird durch die kantonalen und kommunalen Richtplänen und in den Nutzungsplänen schlecht umgesetzt. Die letzte richtige Aufzonung in der Stadt Zürich geschah in den 90er Jahren. Es gibt zwar scheinbar viel Potenzial, aber es kann von der Immobilien- und Baubranche nicht ausgeschöpft werden.

Warum?

Weil die Grundordnung zu wenig Dichte zulässt und mit den Gestaltungsplänen zu wenig Rechtssicherheit vorliegt. Wer baut, tut dies meist nur noch innerhalb der Grundordnung, weil das Risiko, dass keine Baubewilligung erteilt wird, sonst zu hoch ist. Dies führt dazu, dass zwar häufig abgerissen und neu gebaut wird, um energetisch zu erneuern oder das Verdichtungspotenzial der Grundordnung zu nutzen. Oft leben danach kaum 50 Prozent mehr Menschen auf dem Areal als vorher, dafür zum doppelten Preis. 

Trotzdem können so mehr Menschen in der Stadt leben. 

Aber immer noch nicht genügend. Das Ziel muss Verdichtung ohne Verdrängung heissen. Darum müssen wir uns sehr gut überlegen, wo Weiterbauen im Bestand reicht und wo es Ersatzneubauten braucht. Sonst entstehen an peripheren und weniger gut mit dem ÖV erschlossenen Lagen mehr Wohn- und Verkehrsflächen. Dann braucht es das Auto, und was ist die Folge? Noch mehr Stau. Umso mehr müssten an zentralen Lagen in der Stadt Zürich doppelt oder dreifach so viele Leute leben dürfen. Ein Anteil der Wohnungen kann dann auch gemeinnützig sein, wie das der Paragraph 49b bei Aufzonungen einfordert. Und es braucht dafür Mindestbelegungsvorschriften, Wohnflächenbeschränkung und Vergabekriterien, so dass benachteiligte Personen Platz finden.

Sie wollen zwar nicht um jeden Preis verdichten, aber es scheint Ihr Hauptrezept zu sein. Reicht dies wirklich gegen die Wohnungsnot?

Gemeinnütziger Wohnraum macht für wenige Wohnraum günstiger, löst aber nicht die Wohnraummangellage. Um die Ursache des Mangels zu bekämpfen, ist Verdichtung der einzige zielführende Weg. Dann wären auch die weitere Zersiedlung, der zunehmende Autoverkehr, die Gentrifizierung und der steigende CO2-Austoss eingedämmt. Eine Stadt Zürich mit verdichtet gebautem Wohnraum an zentralen Lagen sollte nicht nur Platz für ein Plus von 100'000 Personen haben, wie es im kommunalen Richtplan steht, sondern für 300’000. 

Denken Sie wirklich, in Zürich haben 300’000 Menschen mehr Platz als heute, wenn nur genug verdichtet wird?

Ich nenne Manhattan gerne als Beispiel: Etwa gleich grosse Fläche wie die Stadt Zürich, aber mit 1,7 Millionen Menschen, die dort wohnen, und mit viel mehr Arbeitsplätzen. Selbst wenn Zürich um 300’000 Personen wächst, sind das noch nicht einmal die Hälfte von Manhattan. 

Sie sprechen von Sondernutzungen und von Regeln, die schnelles Bauen verhindern. Damit argumentieren Sie wie der Hauseigentümerverband und bürgerliche Politiker:innen, die weniger Regulierung und weniger Einsprachemöglichkeiten fordern. Ist denn beispielsweise der Lärmschutz derart hinderlich? 

Der Lärmschutz ist nicht das Problem. Deswegen sind aktuell rund 1000 Wohnungen blockiert, und auf die 300’000 Menschen, die Zürich für «eine Stadt der kurzen Wege» braucht,  ist das nicht signifikant. Wir haben den Verkehrslärm, weil die Leute zwar in Zürich arbeiten, aber nicht hier wohnen können. Mobilität statt Nähe ist das Problem! Einsprachen gegen Baugesuche wegen dem Lärmschutz werden vielfach deshalb gutgeheissen, weil bei der Erstellung der raumplanerischen Grundlagen respektive im Baubewilligungsprozess Fehler gemacht wurden. Oftmals ist die Interessenabwägung fehlend oder mangelhaft. Die Gerichte können sodann gar nicht anders, als zu Gunsten der Einsprecher zu entscheiden.

«Die Stadt soll endlich Stadt werden.» (Bild: Sophie Stieger)

Sie sagen also, dass es mit besseren Bauprojekten schneller gehen würde? 

Nein, die Bauprojekte sind nicht das Problem. Es braucht eine zielführende Verdichtungsstrategie in den Richt- und Nutzungsplänen. Zudem muss der Lärm an der Quelle beseitigt werden, soweit verhältnismässig ist da der Staat verantwortlich. Erst dann können Baugesuche so gestaltet werden, dass sie bewilligungsfähig sind.

Es könne zu wenig gebaut werden, sagen Sie, dabei ist die Stadt voller Baustellen. 

Diese Wahrnehmung täuscht, denn im Verhältnis wird viel zu wenig Wohnraum geschaffen. Wenn ein Bürohochhaus für 2000 Vollbeschäftigte gebaut wird, müssten gleichzeitig vier bis fünf Wohnhochhäuser mit 2000 Wohnungen für die generierte Wohnraumnachfrage gebaut werden. Die Produktion von Geschäftsflächen ist eben viel einfacher als von Wohnraum und so hinkt man seit Jahrzehnten hinter dem Bedarf her. Dass der Flächenkonsum pro Kopf beim Wohnen zugenommen und beim Arbeiten abgenommen hat, macht es nicht einfacher. 

Eine kantonale Volksinitiative will, dass Gemeinden ein Vorkaufsrecht auf Grundstücke bekommen. Könnte dies den Wohnraum verbilligen? 

Für wenige kann damit Wohnraum verbilligt werden. Gesamtgesellschaftlich wird die Wohnungsmangellage aber nicht gelöst. Die Regeln, was gebaut werden darf, sind für alle gleich – egal ob das Land dem Staat oder Privaten gehört. Mit schlechten raumplanerischen Rahmenbedingungen kann darum auch auf Staatsland nicht mehr gebaut werden. Um die Ursache des Problems zu lösen, sollte der Staat aufgefordert werden, den Vollzug des Raumplanungsgesetzes umzusetzen. 

«Ich verstehe, dass man nicht zulassen will, dass die Rendite in die Tasche von Einzelnen fliesst.»

Aber der Staat müsste mit den Mieten keine Rendite verdienen, dadurch wären günstige Wohnungen möglich. 

Nur weil der Staat baut, gehen die Preise nicht automatisch runter.  Mit der geltenden Raumplanung kann auch der Staat bei hoher Nachfrage weiterhin nur wenig bauen. Es braucht also mehr Wohnungsbau, damit die Mieten sinken.

Die Mieten sinken also nur ohne Regulierung? 

Alle Einschränkungen haben ihren Preis. Beim Wachstum der Arbeitsplätze gibt es keine Beschränkungen, beim Bauen aber sehr restriktive. Das treibt den Preis in die Höhe. Im Moment führt der «Einschränkungseffekt» in der Stadt Zürich dazu, dass der Wohnraum mehr als dreimal zu teuer ist, als wenn genug gebaut werden könnte. Ohne Regeln gäbe es an Orten mit viel Arbeit und Freizeit auch viel Wohnraum. Aber selbstverständlich braucht es eine Regelung, denn Bauen verursacht Kosten, die alle tragen müssen. Ähnlich zum Verkehr sollten aber die Verursacher:innen dafür geradestehen. 

Dies ist aber nicht der Fall. 

Eine gemeinsame Lösung wäre schön. Die einen wollen unbegrenzt Profit, die anderen wollen, dass alles dem Staat gehört. Ich verstehe, dass man nicht zulassen will, dass die Rendite in die Tasche von Einzelnen fliesst. Wenn aber verhindert wird, dass richtig viel Wohnraum entstehen kann, dann führt es leider genau dazu. Jede Eigentümerschaft von Wohnraum, institutionell oder privat, profitiert von der Verknappung. Es müsste also im Interesse aller Mietenden sein, in der Schweiz sind das 58 Prozent, dass mehr Wohnraum geschaffen wird. 

Neben der Verdichtung setzen Sie sich stark für die 10-Minuten-Nachbarschaft ein. Also wohnen, arbeiten und Freizeit im Quartier. Wie würde dies die Wohnungsnot lindern?

Ja, und auch hier gilt: Es muss konsequent dort Wohnraum gebaut werden, wo ÖV-Anbindungen gut und Alltagsversorgungsgrad bereits hoch sind und ein Nachfrageüberhang nach Wohnraum herrscht. Dies führt zu tieferen Mieten. Ausserdem sind 10-Minuten-Nachbarschaften auch ökonomisch und ökologisch sinnvoll, weil die Abhängigkeit durch den motorisierten Individualverkehr markant abnimmt und damit weniger Emissionen und Infrastrukturkosten entstehen. Das heisst aber nicht, dass wir einfach überall verdichten, denn nicht jeder Ort eignet sich dazu. Im Gegenteil: Das Dorf soll Dorf und die Landschaft intakt bleiben. Doch die Stadt soll endlich Stadt werden.

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