«Aktivismus ist für mich keine aktive Entscheidung, sondern eine Konsequenz» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Rahel Bains

Redaktionsleiterin

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16. Mai 2021 um 10:35

Aktualisiert 24.01.2022

«Aktivismus ist für mich keine aktive Entscheidung, sondern eine Konsequenz»

Annika Lutzke (18) hilft Menschen auf der Flucht. Anfang Jahr war sie deshalb zwei Monate lang in Bosnien. Lutzke: «Die Verletzungen, welche diese Menschen erleiden, sind nicht nur gebrochene Arme, Beine und Rippen, schwere Kopfverletzungen und unzählige Hämatome. Die schwersten Verletzung finden mental statt.»

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Annika Lutzke. Bilder: Elio Donauer

Aktivismus ist ein Teil der Demokratie. Es braucht ihn, um Aufmerksamkeit zu generieren, auf Missstände hinzuweisen und die Politik voranzutreiben. Wir haben in dieser Serie verschiedene Zürcher Aktivist:innen zu ihrem Engagement befragt.

Manchmal kostet der Aktivismus Annika Lutzke mehr Energie, als er ihr gibt, denn er umfasst nicht nur einen, sondern gleich mehrere Bereiche. Die 18-jährige Zürcherin ist im kollektiven Aufbau von autonomen Strukturen der humanitären Hilfe für Menschen auf der Flucht aktiv. Anfang Jahr war sie dafür zwei Monate in Bosnien und hat dort Nothilfe geleistet. Zu Beginn bestand diese aus Essensausgaben und später aus der Unterstützung von Menschen, die von sogenannten Pushbacks betroffen waren. Sie engagiert sich zudem für die Klimagerechtigkeitsbewegung und arbeitet Teilzeit in der Landwirtschaft sowie in der food cooperative rampe21.

Auf die Frage, ob ihr manchmal alles zu viel wird, sagt sie: «Es ist immer schwer, wenn dein Leben darauf beruht, dass du keine Ignoranz empfindest. So bleiben auch die all die schrecklichen Dinge, welche unser kapitalistisches System mit sich bringen immer präsent. Mich begleitet Tag für Tag ein unglaublicher Weltschmerz, den ich nur überwinden kann, indem ich alles mögliche unternehme, um unser jetziges System zu ändern.»

Tsüri.ch: Wie, wann und weshalb bist du Aktivistin geworden?

Annika Lutzke: Aktivismus ist für mich keine aktive Entscheidung, sondern eine Konsequenz. Es ist die Konsequenz, die schädlichen Mechanismen unseres Systems zu erkennen und dementsprechend zu Handeln. Man widersetzt sich der Ignoranz und Handlungsunfähigkeit, in die man so schnell verfallen kann. Für mich gab es keinen spezifischen Zeitpunkt, Ort oder Rahmen, in dem ich Aktivistin geworden bin. Doch meine Politisierung durch die Klimagerechtigkeitsbewegung hat mich in der Entwicklung sicher stark beeinflusst.

Wo kann man in Aktivist:innenszenen/-gruppen einsteigen? Was empfiehlst du Neulingen und weshalb sollte man sich nicht einschüchtern lassen?

Ich empfehle allen, sich in ihren Quartieren, Schulen und Arbeitsplätzen zu organisieren. So schafft ihr ein Gefäss, in dem ihr euch organisieren, diskutieren und gemeinsam Utopien kreieren könnt. Auch wenn dieses Organisieren sich oft auf einen kleinen Rahmen begrenzt, trägt auch dies einen wichtigen Teil zum Wandel bei. Sobald sich in all unseren Lebensbereichen Menschen zusammenschliessen und Kollektive gründen, haben wir eine alternative Gesellschaftsstruktur geschaffen, die eine reale Alternative zu unserem heutigen System bietet.

Wie engagierst du dich konkret?

Ich engagiere mich in der Klimagerechtigkeitsbewegung. Zudem arbeite ich momentan Teilzeit in der Landwirtschaft und in einer food cooperative, der rampe21, denn es ist Zeit unser ganzes Ernährungssystem neu zu denken – vom Feld bis auf den Teller. Wenn ich nicht gerade am Mulch auslegen bin für die nächste Mischkultur auf dem Hof in Mönchaltorf oder Menschen das Prinzip der food cooperative näher bringe, engagiere ich mich im Klimastreik und der Strike for Future Bewegung. Dort stehen wir für eine soziale, ökologische, feministische und antirassistische Zukunft ein und versuche alternative Lebensstrukturen zu unserem kapitalistischen System zu schaffen.

Seit diesem Februar bin ich auch aktiv im kollektiven Aufbau von autonomen Strukturen der humanitären Hilfe für Menschen auf der Flucht. Anfang Jahr war ich zwei Monate lang in Bosnien und habe dort vor allem Nothilfe für all die Menschen geleistet, welche durch unsere Abschottungspolitik in menschenunwürdigen Situationen überleben müssen.

Im bosnischen Winter fehlte es vor allem am Lebensnotwendigsten, wie regelmässige Lebensmittelversorgung. Später richteten sich unsere Aufgabenbereiche vor allem an die Unterstützung von Menschen, die von Pushbacks betroffen waren. Diese Form der Nothilfe ist jedoch in keinster Weise nachhaltig, sie ist ein reinster Materialverschleiss. Wenn die Menschen auf der Flucht versuchen die Grenze zu Kroatien zu überqueren, werden fast alle von ihnen von den Dronen und Helikoptern der Spezialeinheit der kroatischen Grenzpolizei aufgespürt.

Danach werden sie von Kampfhunden gejagt, von meist mehreren Polizisten gleichzeitig brutal zusammengeschlagen, bis auf die Unterhose ausgezogen, von ihrem Hab und Gut enteignet, welches anschliessend vor ihren Augen verbrannt wird und schlussendlich werden sie mitten im bosnischen Winter durch einen Fluss und auf einen elendigen Fussmarsch von circa 25 km zurück in die nächste Stadt geschickt.

Die Verletzungen, welche diese Menschen erleiden sind nicht nur gebrochene Arme, Beine und Rippen, schwere Kopfverletzungen und unzählige Hämatome. Die schwersten Verletzung finden mental statt. Sie haben keine Chance, ihr Ziel zu erreichen und müssen die Zeit in den verlassenen Ruinen der bosnischen Grenzstädte verbringen, bis die Wetterlage passt und sie wieder Sportschuhe, Rucksack, Schlafsack, Kleidung, Handy und Geld für Essen haben, um einen erneuten Versuch zu starten. Nachts leben sie in der ständigen Angst, dass die Polizei das Gebäude stürmt, sie zusammenschlägt und in das nächste Camp bringt. Wenn sie doch einmal einschlafen, wachen sie manchmal mitten in der Nacht auf und schreien panisch «Police! Sit down! Sit down!», so wie sie es an der kroatischen Grenze erlebt haben.

Politische Prozesse sind viel mehr als das Handeln von Parlamentarier:innen in Bundesbern.

Annika Lutzke

Wie bringst du deine sonstigen Verpflichtungen und dein aktivistisches Engagement unter einen Hut?

Meine sonstigen Verpflichtungen beschränken sich auf das Ausfüllen der Steuererklärung und das Zahlen von Krankenkassen- und Mietrechnungen. So viel Zeit kann ich auch nebst meinem aktivistischen Engagement aufbringen.

Trennst du Arbeit und Privates – oder verschmilzt das mit der Zeit?

Für mich existiert die in unserer Gesellschaft breit vertretene Definition von Arbeit nicht. Ich bin in einer solch privilegierten Situation, dass ich keiner Lohnarbeit nachgehen muss, da ich nie in eine Situation kommen werde, in der ich keinen sicheren Ort zum leben oder keinen Zugang zu gesundem Essen und sauberem Wasser haben werde.

Ich muss nicht arbeiten um leben zu können und muss keiner Aktivität nachgehen, die meinen Werten und Lebenseinstellungen widerspricht, nur um meine Miete zahlen zu können. So haben wir durch unsere food cooperative rampe21 ein Gefäss kreiert, welches uns ermöglicht, Löhne aus unserem Engagement zu generieren. Doch natürlich geht diese Lebensweise auch mit einer starken Reduzierung auf die Grundbedürfnisse einher und ist ein Kampf gegen unser Konsum förderndes System.

Wird dir manchmal alles zu viel?

Es ist immer schwer, wenn dein Leben darauf beruht, dass du keine Ignoranz empfindest. So bleiben auch die all die schrecklichen Dinge, welche unser kapitalistisches System mit sich bringt immer präsent. Mich begleitet Tag für Tag ein unglaublicher Weltschmerz, den ich nur überwinden kann, indem ich alles mögliche unternehme, um unser jetziges System zu ändern. Dadurch reproduziere ich jedoch den Leistungsdruck unseres Systems, welchen ich eigentlich bekämpfen möchte.

Weshalb ist es so wichtig, sich aktiv in politische Prozesse einzumischen?

Politische Prozesse sind viel mehr als das Handeln von Parlamentarier:innen in Bundesbern. Politische Prozesse sind die Art und Weise wie wir unser Leben gestalten. Deshalb ist es so wichtig, diesen Begriff neu zu definieren. Mit unserem Handeln können wir das gesellschaftliche Bild von was politisch ist und was nicht auf den Kopf stellen.

Plötzlich mischen wir uns aktiv in politische Prozesse ein, indem wir unsere eigenen Lebensmittel produzieren, uns genossenschaftlich organisieren und unsere Zeit nutzen um zu leben und uns nicht mit dem Strom der Gesellschaft treiben zu lassen. Jeder Schritt mit dem wir uns von dem heutigen System entkoppeln, ist ein Tritt gegen die schädlichen Mechanismen des Kapitalismus.

Unsere Leserschaft wollte in der Umfrage zum Thema Aktivismus wissen: «Was bringt Aktivismus, wenn schlussendlich sowieso alle bewegenden Entscheidungen über die (langsame) Politik laufen?»

Wenn sich Aktivismus nur auf die Symptombekämpfung reduziert, kann man dies natürlich in Frage stellen. Doch sobald es sich um Menschenleben handelt, bedeutet jeder auch noch so kleiner Schritt, der das Leben von den Menschen in irgendeiner Form verbessert, enorm viel. Zudem trage ich die Hoffnung in mir, dass wir mit unserem Aktivismus hier in der Schweiz die Ursachen für diese menschenunwürdigen Verhältnisse an den EU-Aussengrenzen langfristig bekämpfen können.

Der Aktivismus kostet mich nun oft mehr Energie als dass er mir gibt.

Annika Lutze

Was läuft in der Stadt Zürich so richtig falsch?

Sehr vieles, da Entscheidungen, die unser alltägliches Leben beeinflussen, von den Menschen und Konzernen getroffen werden, die von den immer stärker werdenden Ungleichheiten profitieren. Ich finde es schrecklich, dass Menschen in Asyl-Lagern untergebracht werden. Ganz konkret ist es beschämend, dass in Zürich Asylsuchende in einen Bunker gesperrt werden, in dem sie nur unter menschenfeindlichen Bedingungen leben können.

Hast du einen Verbesserungsvorschlag?

Kapitalismus und das Patriarchat zerschlagen.

Wie hat sich der Aktivismus durch Corona verändert?

Der Aktivismus kostet mich nun oft mehr Energie als dass er mir gibt. Früher war dies nicht so. Doch wenn sich alle Menschen versammeln, die sich für eine lebenswerte Zukunft einsetzen, gewinnt man enorm an Energie und Motivation. Das Führen von kollektiven Prozessen ist weitaus erfüllender als das selbstständige Engagement.

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Mit welchen Aktionen haben du und deinen Mitstreiter:innen einen sicht- und messbaren Erfolg verzeichnet?

Der meiste Erfolg, den wir erzielen konnten ist nicht messbar. Er geschieht und geschah in den Köpfen der einzelnen Menschen. Durch unser Engagement haben wir Menschen dazu gebracht, sich und ihre Lebensweise kritisch zu hinterfragen. Wir haben sie bestärkt und ihnen gezeigt, dass sie sich als mündige Subjekte wahrnehmen müssen, um diese Welt zu verändern. Natürlich konnten wir nicht ansatzweise jeden und jede in unserer Gesellschaft erreichen, doch jeder Mensch bildet einen Teil des Wandels.

Was habt ihr/hast du für Pläne für die kommenden Monate?

Am 21. Mai findet der Strike for Future statt. An diesem ersten Aktionstag der Strike for Future Bewegung werden wir gemeinsam auf die Strasse gehen und für eine ökologische, gerechte und solidarische Zukunft einstehen. Im August werde ich zudem für einen Monat wieder nach Bihac, Bosnien, reisen. Dort werde ich ich versuchen längerfristige und nachhaltige autonome Strukturen der humanitären Hilfe aufzubauen, welche einen Schritt weiter als die von uns bisher geleistete Nothilfe gehen sollen.

Serie «Zürcher Aktivist:innen»
Aktivist:innen bewegen mit ihrem Engagement eine Stadt. Für diese Serie haben wir sechs Aktivist:innen getroffen und sie gefragt, wieso sie sich für etwas einsetzen und was es für Schwierigkeiten gibt.

1. Matteo Masserini – Vélorution
2. Anna-Béatrice – Aktivistin.ch
3. Yuvviki Dioh – Netzwerk Bipoc.woc
4. Cyrill Hermann – Klimastreik
5. Annika Lutzke – Klimagerechtigeitsbewegung, humanitäre Hilfe für Menschen auf der Flucht

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