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Von Jessica Sigerist

Gründerin untamed.love

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27. November 2021 um 07:00

Es geht nur um Sex

Unsere Kolumnistin lebt nicht monogam und betreibt beruflich einen Sex Shop. Kein Wunder, dass es bi ihr immer nur um Sex geht.

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Illustration: Artemisia Astolfi

«Dir geht es nur um Sex!», bekomme ich immer wieder zu hören, wenn ich Menschen von meiner offenen Beziehung erzähle. Wahlweise auch «Ihm geht es nur um Sex!», wenn die Menschen derart stereotype Rollenbilder im Kopf haben, dass für sie nur der Mann die treibende Kraft hinter einer sexuell nicht monogamen Beziehung sein kann.

In dieser Lesart bin ich dann jeweils die arme Frau, die die Eskapaden ihres Mannes akzeptiert, um nicht verlassen zu werden. Seit ich als Sex Shop Besitzerin in der Öffentlichkeit stehe, werde ich seltener so wahrgenommen. Die Leute scheinen akzeptiert zu haben, dass ich einfach eine Slut bin. Es geht mir offensichtlich wirklich immer nur um Sex, beruflich wie privat.

Sexualität ist nicht das einzige Bedürfnis

Sex mit verschiedenen Partner:innen haben zu können, ist für mich ein Grund in offenen, polyamourösen und beziehungsanarchistischen Beziehungen zu leben. Aber es ist nicht der einzige Grund und vielleicht nicht mal der Wichtigste. Ich lebe schlichtweg wahnsinnig gerne in intensiven Beziehungen zu anderen Menschen, ganz egal welche Art Beziehungen das sind. Ich pflege gerne Beziehungen.

Ich rede gerne über Beziehungen. Ich leiste gerne Beziehungsarbeit. Ich mag das Gefühl von emotionaler Verbundenheit zu ganz vielen Menschen. Ich möchte nicht, dass ein Mensch für alle meine Bedürfnisse verantwortlich ist und im Umkehrschluss möchte ich nicht alleine für alle Bedürfnisse meines Gegenübers verantwortlich sein. Sexualität ist eines dieser Bedürfnisse, aber nicht das einzige. Verschiedene Partner:innenschaften zu haben, ermöglichen mir, viele meiner Bedürfnisse befriedigt bekommen.

Sexuelle Exklusivität kann ein Merkmal einer Beziehung sein, muss aber nicht.

Jessica Sigerist

Oder umgekehrt formuliert: Beziehungen zeichnen sich durch ganz Vieles aus. Durch emotionale Verbundenheit, durch Zuverlässigkeit, durch gegenseitig geleistete Carearbeit, durch gemeinsam verbrachte Momente, durch ökonomische Gemeinschaft, durch Zukunftspläne. Sexuelle Exklusivität kann ein Merkmal einer Beziehung sein, muss aber nicht. In meinen Beziehungen ist sie es nicht.

In dieser Betrachtungsweise steht Sexualität in meiner Beziehungsform viel weniger im Zentrum, als in monogamen Beziehungen, wo es ja ein Kernmerkmal der Beziehung darstellt. Sexualität ist für mich eine Aktivität unter vielen anderen, die ich mit meinen Partner:innen, aber auch mit anderen Leuten ausüben kann, wenn ich Bock drauf habe.

Ich möchte Beziehungen gerne frei von Schubladen denken. Nur weil ich mit jemanden in die Schublade «Liebesbeziehung» gehe, heisst das nicht, das wir Sex haben müssen, während ich mit Leuten aus der Schublade «Freundschaft» kein Sex haben darf.

Als wäre Sex nicht so wichtig

Es gab und gibt einige Menschen in meinen Leben, mit denen ich Sex habe. Mit den meisten habe ich aber nicht «nur» Sex. Mit einigen bin im um die Welt gereist und mit anderen immerhin bis in die Badi. Mit einigen habe ich Wände gestrichen und mit anderen nachts Graffiti gemalt. Wir haben gekocht, gegessen, gelacht, geweint, Party gemacht und uns gemeinsam um Hunde, Kinder und andere Beziehungsmenschen gekümmert.

Und mit einigen, mit denen hatte ich einfach nur Sex. Aber warum tönt dass dann immer so abwertend? Wenn ich ein Bekanntschaft habe, mit der ich alle zwei Wochen Squash spielen gehe, betone ich ja auch nicht bei jeder Gelegenheit, dass ich mit dieser Person nur Squash spiele. Es ist einfach mein:e Squash-Partner:in. Punkt. Aber wenn es um Sex geht, ist da immer dieses «nur». Als wäre Sex an sich nicht so wichtig, als wären Beziehungen, bei denen es nur um Sex geht nicht so richtig.

Als wäre es etwas Schlechtes, wenn es vorrangig um Sex geht. Diese Erfahrung teile ich mit Freund:innen, die sich wie ich beruflich, aktivistisch oder künstlerisch auf Themen rund um Sex fokussieren. Oft werden ihre Projekte belächelt und nicht nur einmal als «pubertär» bezeichnet. Als wären Menschen, die sich intensiver und öffentlicher mit Sexualität auseinander setzen als der Durchschnitt, in der Bisi-Fudi-Gaggi-Phase stecken geblieben: Ein bisschen ist es vulgär und unangebracht was sie machen, auf jeden Fall aber nichts Ernstzunehmendes.

Manchmal geht es mir ausschliesslich um Sex und das ist gut so.

Jessica Sigerist

Bleibt zu sagen, dass Menschen, die diese Kritik erreicht, meist FLINTA Personen sind. Dahinter steckte eine patriarchale, christlich geprägte Sexualmoral: Sexualität als niederer Trieb, den es zu überwinden gilt. Nur wer die eigene sexuelle Lust zu zügeln vermag, kann geistig höhere Sphären erreichen. Halleluja.

Ich mag gerne Sex. Ich praktiziere ihn gerne, ich lese gerne darüber, ich rede gerne darüber. Ja, manchmal geht es mir nur um Sex. Aber dieses «nur» ist nicht abwertend. Ich meine es im Sinne von «ausschliesslich». Manchmal geht es mir ausschliesslich um Sex und das ist gut so.

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Kolumnistin Jessica Sigerist
Jessica Sigerist ist Zürich geboren und aufgewachsen. Sie wusste schon früh, woher die Babys kommen. In ihrer Jugend sammelte sie schöne Notizbücher, alte Kinokarten und Zungenküsse. Sie studierte Ethnologie (halbmotiviert) und das Nachtleben Zürichs (intensiv). Nach vielen Jahren in der Sozialen Arbeit hatte sie die Nase voll, nicht vom Sozialen, aber von der Arbeit. Sie packte wenig Dinge und viel Liebe in einen alten Fiat Panda und reiste kreuz und quer durch die Welt. Sie ritt auf einem Yak über das Pamirgebirge, überquerte das kaspische Meer in einem Kargoschiff und blieb im Dschungel von Sierra Leone im Schlamm stecken.

Auf ihren Reisen von Zürich nach Vladivostock, von Tokio nach Isla de Mujeres, von Tanger nach Kapstadt lernte sie, dass alle Menschen eigentlich dasselbe wollen und dass die Welt den Mutigen gehört. Wieder zurück beschloss sie, selbst mutig zu sein und gründete den ersten queer-feministischen Sexshop der Schweiz. Seither beglückt sie Menschen mit Sex Toys und macht lustige Internetvideos zu Analsex, Gleitmittel und Masturbation. Jessica liebt genderneutrale Sex Toys, Sonne auf nackter Haut und die Verbindung von Politik und Sexualität. Sie ist queer und glaubt, dass Liebe grösser wird, wenn man sie teilt. Mit ihrem Partner und ihrem Kind lebt sie in Zürich.

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