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Von Seraina Kobler

Freie Autorin

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29. März 2021 um 11:39

Flüsterer der Bäume

Es gibt Bäume, die sind praktisch unsterblich. Sie stammen aus der Jungsteinzeit. Es sind Eiben, heilige Bäume die vorzugsweise an megalithischen Kultstätten zu finden sind. Ernst Zürcher, emeritierter Professor für Holzwissenschaften, widmete ihnen ein ganzes Forscherleben. Autorin Seraina Kobler hat ihn am Hönggerberg zu einem Spaziergang getroffen.

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Ob in der Natur der Schweizer Berge, in jahrhundertealten Ritualen zen-buddhistischer Mönche, in abgeschiedener Isolation eines kanadischen Trappers oder im ekstatischen Sufi-Tanz der Türkei – es gibt viele Wege sich selbst und seinen natürlichen Wurzeln wieder ein bisschen näher zu kommen. Vergangene Woche hat der Kultursender arte eine Dokumentation über eine spirituelle Weltreise mit dem französischen Philosophen und Soziologen Frédéric Lenoir gestartet. Im ersten Teil der Serie «Was uns heilig ist» kommt auch ein Schweizer vor: Ernst Zürcher, emeritierter ETH Professor, der die Chronobiologie der Bäume erforscht. Autorin Seraina Kobler hat mit ihm über sein Leben und seine Arbeit, die dicht miteinander verwoben sind, gesprochen.

Als Treffpunkt schlägt er, zu einer Zeit, als das noch möglich war, eine studentische Bar an der Eidgenössischen Technischen Hochschule am Hönggerberg in Zürich vor. Drinnen schallt elektronische Musik aus Boxen, die Leute sitzen auf Industriepaletten und orangen Eames-Stühlen. An der Bar gibt es «Cold-Brew-Lattes» und vegane Mittagsmenüs. Mittendrin sitzt Zürcher an einem Tischchen und trinkt einen einfachen Tee – ohne Zucker. Er erzählt von seiner Kindheit in einem kleinen Dorf im Waadtland. Rückblickend war das vielleicht die einzige, sehr kurze Zeit in seinem Leben, in der er sich nicht ganz als Aussenseiter gefühlt hat. Seine Eltern waren aus dem Emmental zugezogen und führten eine Käserei.

Die Kilometer nach Bern waren vergleichsweise wenige, dennoch prallten Kulturen aufeinander, erinnert sich Zürcher: «Manchmal wusste ich nicht mehr, in welcher Sprache ich nachts träumte.» Er wuchs zusammen mit seinen Geschwistern auf. Auch wenn sie fliessend Französisch sprachen, blieb doch immer eine Barriere zu den anderen Kindern aus dem Dorf. Nicht nur, aber auch wegen der geringen sprachlichen Finessen, kaum hörbar für einen nicht Muttersprachler. Dennoch gross genug, um die Kinder des Käsers von den anderen zu trennen. Ausser sie waren im Wald. Dort war nur wichtig, wer sich beim Verstecken schnell im Gehölz verstecken konnte – oder hoch oben in den Baumwipfeln schaukelte. Und wer die grösste Forelle aus dem Bach zog. «Je älter ich wurde, umso tiefer wurde der Graben zum Ort meiner Herkunft», sagt Zürcher.

Im Rhythmus der grünen Gezeiten

Kaum erwachsen, ging er weg zum Studieren. An die ETH, die noch heute so etwas wie eine Mutterinstitution für ihn ist. Zuerst nach Lausanne, später nach Zürich. Auch dort sollte er wieder einer Minderheit angehören: Den Romands. Wenn er seine Eltern im Welschland besuchte, hatte er oft das Gefühl, dass die Leute im Dorf denken «der arbeite ja gar nicht richtig». Rückblickend scheint es ihm, als hätte ihn seine Jugend gelehrt, was er später auf seinem Weg gut brauchen konnte: Gleichmut. Er weiss, was es heisst, nicht zur Mehrheit zu gehören. «Einmal, da ist eine jahrealte Sammlung von Mondhölzern an einem Forschungsstandort im Wald abgebrannt», sagt Zürcher. Sein damaliger Chef sagte ihm ins Gesicht, «dass er darüber froh sei». Das mag an der Forschungsrichtung gelegen haben, die zwar exotisch erscheint, im Grunde aber nichts anderes beinhaltet wie die Kraft der Zyklen. In diesem Fall: dass der Mond einen Einfluss auf die Bäume hat. In diesen existiert, ähnlich wie das Meer auch, ein Rhythmus von «grünen Gezeiten» bei dem der Wassergehalt je nach «Ebbe» oder «Flut» ab oder zunimmt.

Für uns war immer klar, wir machen Wissenschaft – und keine Politik.

Ernst Zürcher

Später im Hönggerwald, hoch oben über den Dächern von Zürich, zeigt Zürcher anhand von Beispielen, was er in seinem Buch «Die Bäume und das Unsichtbare» theoretisch erklärt. Er hebt den Zapfen einer Kiefer auf, dreht ihn um und zeichnet dessen Struktur mit der Fingerkuppe nach. «Auch die dem reinen Denken zugeordneten Wissenschaften wie Geometrie oder Mathematik erschliessen erstaunliche Zusammenhänge», sagt Zürcher. «Diese Spiralform steht in ihrer Anordnung exakt im goldenen Schnitt». Bekannt ist dieser seit der Renaissance dank Malern wie Leonardo da Vinci. Doch auch das Kerngehäuse eines Apfels ist, in der Mitte durchgeschnitten, mit seinem fünfzackigen Stern ein Musterbeispiel für den goldenen Schnitt. Ebenso wie ein Querschnitt durch die menschliche DNA.

«Klimatisches Herz» droht zu verwüsten

Forscher haben herausgefunden, dass die Flüssigkeitsströme im menschlichen Körper ähnlich verlaufen wie bei den Bäumen: spiralförmig. Für Zürcher sind die Gemeinsamkeiten ein deutliches Zeichen dafür, dass «diese Wechselwirkungen von Spiritualität und Polarität dem Charakter der Bäume eine neue Dimension verleiht». Und er fragt: «Wenn wir nach denselben mathematischen Verhältnissen strukturiert sind wie Pflanzen und insbesondere Bäume und nach denselben hydraulischen Gesetzen funktionieren – heisst das dann nicht, dass wir viel mehr voneinander abhängen als bisher angenommen?» Die Fakten aus der Wissenschaft geben Anlass zu Schweissausbrüchen angesichts der dramatischen Leichtfertigkeit, welche die Menschheit im Umgang mit der Natur an den Tag legt, sagt Zürcher. Das «klimatische Herz der Erde» droht zu verwüsten. Schwarzmalen möchte Zürcher dennoch nicht. Obwohl er in seinem Leben Zeuge grauenhafter menschlicher Zerstörung war.

Zusammen mit seiner Frau und seinen beiden Kindern lebte er vor über 25 Jahren in Afrika. Ruanda befand sich bereits in den Wirren des Bürgerkrieges. Zürcher arbeitet zusammen mit lokalen Forschern in einem wissenschaftlichen Projekt, ein Arboretum inmitten von Jahrtausende alten Bäumen. Er wusste schon als Kind, dass er einst den Urwald kennenlernen musste. Später schlachteten sich dort, wo heute die letzten Berggorillas dieser Erde unter Schutz leben, Hunderttausende von Menschen ab. «Für uns war immer klar, wir machen Wissenschaft – und keine Politik», erinnert sich Zürcher. «In unserem Team arbeiteten Angehörige der Tutsi und der Hutu harmonisch zusammen, sie baten mich: Bleib! Solang ihr hier sind, hat die Welt uns noch nicht vergessen. Solange sind wir sicher.»

Monatelang schliefen Zürcher und seine Familie mit einer Schweizerfahne und der gepackten Reisetasche neben dem Bett. «Im Notfall hätten wir mit der Fahne den Konvoi der internationalen Gemeinschaft anführen müssen für die paar Kilometer hinüber zur Kongolesischen Grenze.» Dennoch sei die Zeit in Afrika eine der besten Zeiten in ihrem Leben gewesen. Sie haben in der Savanne übernachtet – Nilpferde, Elefanten und Löwen beobachtet. Und viel von der Lebenseinstellung mit in die Schweiz mitgenommen. Irgendwann kam dann die Anordnung zur Ausreise. Schweren Herzens verliessen sie das Land. «Danach wurden viele Familien ausgelöscht mit denen wir gut befreundet waren», sagt Zürcher.

Das Gleichnis der goldenen Fichte

Sein Buch widmet er neben den «First Nations», den indigenen Völkern und auch seinem Bruder im Geiste, Bruno Manser, Ethnologe und Verfechter der Menschenrechte. Er erlitt ebenfalls ein tragisches Schicksal und verschwand im Äquatorialwald auf der Insel Borneo spurlos. Heute geht Zürcher mit seinen Enkeln in den Wald und zeigt ihnen dessen Wunder. Und manchmal, da bauen sie einfach nur kleine Zwergenhöhlen im Moos. Am Ende des Spazierganges ist klar: Zürchers Blick auf die Wissenschaft und die Natur offenbart unzählige Geschichten. Über Bäume und über die Menschen.

Eine schmerzhaft treffende Parabel findet sich in seinem Buch. An der Küste von British Columbia stand ein heiliger Baum. Der Haidas. Er war ein einmaliges Exemplar der Sitka-Fichte, 300 Jahre alt, 50 Meter hoch und komplett mit leuchtend goldenen Nadeln bedeckt, vermutlich aus einer speziellen Mutation entstanden. In einer paradoxen Geste wurde der Baum, den es auf der ganzen Welt nur einmal gab, von einem Holzfäller mit Motorsäge gefällt. Diese wollte damit gegen die Vernichtung der Regenwälder protestieren.

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