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Von Michael Schallschmidt

Praktikant Redaktion

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11. Januar 2022 um 22:35

Aktualisiert 28.01.2022

«Nonbinär zu sein, ist keine Leidensgeschichte, sondern etwas Schönes»

Eneas Pauli ist Co-Präsident:in von Transgender Network Switzerland und setzt sich für eine Welt ein, in der alle so sein dürfen, wie sie möchten. Dafür informiert der:die Aktivist:in die Öffentlichkeit über trans Themen und das Leben als nonbinäre Person. Ein Gespräch über verzerrte Vorstellungen, volle Terminkalender und Müll, der sich selbst entsorgt.

Eneas Pauli (Bild: Janette Vogel)

Aus dem Hintergrund sind Klopfgeräusche an der Tür hörbar. «Das ist nur der Hund, der in mein Zimmer möchte», erklärt Eneas Pauli. Eneas befindet sich zum Zeitpunkt des Gespräches in Quarantäne, meldet sich über einen Videochat direkt aus der WG in Winterthur.

Dort lebt Eneas zusammen mit zwei Mitbewohner:innen sowie zwei Katzen und zwei Hunden. Durch den Bildauschnitt der Webcam sind blau-schwarze Papierschmetterlinge an der Wand zu sehen. Ursprünglich sollte das Treffen in einem Kaffee stattfinden, das für Eneas so etwas wie ein Safe-Space ist.

Du kannst eine Person nicht aus einer Toilette werfen, die für alle zugänglich ist.

Eneas Pauli

Generell sei es für trans Personen wichtig, Safe-Spaces im öffentlichen Raum zu haben. Das beinhalte auch genderneutrale Toiletten: «Vor allem transfeminine Personen leiden unter Diskriminierung, wenn sie auf die Damentoilette gehen möchten.

«Aber du kannst eine Person nicht aus einer Toilette werfen, die für alle zugänglich ist.» Eneas macht es sich zur Aufgabe, die Menschen über solche Themen aufzuklären. Angefangen habe es mit einem Privat-Account auf Instagram: «Meine Social-Media-Arbeit ist aus reiner Faulheit entstanden», erklärt Eneas und wischt sich dabei über die blau gefärbten Haare.

Der Schritt in die Öffentlichkeit

In der Vergangenheit habe Eneas immer wieder die gleichen Fragen zu Transthemen beantwortet. «Trans Personen werden häufig regelrecht ausgequetscht deswegen», sagt Eneas und zieht die Ärmel des schwarzen Pullovers zurecht, den hen trägt. Dies habe auch damit zu tun, dass es im deutschsprachigen Raum kaum Informationen darüber gebe: «Ich wollte das Thema besser zugänglich machen, hatte aber auch Respekt davor, an die Öffentlichkeit zu treten».

Eneas Instagram-Account zählt mittlerweile über 5000 Follower:innen. Bevor das aktivistische Engagement begann, arbeitete Eneas als Grafiker:in und Illustrator:in, wie zahlreiche selbst animierte und illustrierte Erklärvideos und Bilder auf dem Account verraten.

Auf dem Kanal erklärt Eneas beispielsweise den Unterschied zwischen Geschlecht und Geschlechterrolle, wie Pronomen – Eneas selbst verwendet die Pronomen «er und hen» – funktionieren oder welchen Einfluss Hormontherapien auf den Körper ausüben: «Ich will mit meinen Inhalten auch ‹Allies› erreichen und nicht nur trans Personen».

Als Ally versteht Eneas cis Personen, die trans Personen unterstützen. Beispielsweise indem mehr von ihnen ihre Pronomen deklarieren und damit helfen, dies zu normalisieren. Eneas sei es ohnehin wichtig, nicht nur mit trans und nonbinären Personen zu tun zu haben, sondern auch mit cis Menschen: «Ich will in der Realität bleiben und mich nicht von der Welt abkapseln. Ich setze mich jedoch auch für eine Welt ein, in der alle so sein können, wie sie möchten.»

Das «hen-Pronomen»

Eneas benutzt für sich kein er oder sie, sondern das Pronomen hen. Das ist ein schwedisches Pronomen, das seit 2015 teil des Wörterbuches der Schwedischen Akademie ist. Es bezieht sich auf eine Person, ohne dabei das Geschlecht zu definieren.

Da es in der deutschen Sprache neben den Personalpronomen «sie» und «er» keine geschlechtsneutrale Alternative gibt, wählen auch immer mehr nicht binäre Menschen im deutschsprachigen Raum dieses Pronomen. Es handelt sich daher um ein «Neopronomen», das sich nach den Regeln der deutschen Grammatik beugen lässt: Für den Genitiv wird «hens» und für den Dativ «hem» gebildet. Im Akkusativ und Nominativ gilt «hen».

Es ist keine Leidensgeschichte

Eneas outete sich selbst vor einigen Jahren, ist nonbinär, wurde bei der Geburt jedoch dem weiblichen Geschlecht zugewiesen. Bereits als Kind und später auch als Teenager ist Eneas nie als Mädchen angesehen worden: «Die anderen sagten mir meistens ich sei wie ihr Bruder oder ihr bester Freund.» Damit habe Eneas nie ein Problem gehabt und hat sich zu keinem Zeitpunkt wie ein Mädchen oder eine Frau gefühlt.

«Für mich ist das aber keine Leidensgeschichte, sondern etwas Schönes», betont Eneas mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Oftmals würden die Medien trans Menschen in eine Opferrolle zwingen, was ein verzerrtes Bild abliefere: «Wenn jemand trans ist, muss das nicht immer schwierig oder belastend für die Person sein, auch wenn die Öffentlichkeit das schnell annimmt.»

Ich war bereit dafür und die Welt war eher bereit für mich.

Eneas Pauli

Mit Anfang 20 wurde sich Eneas darüber bewusst, trans zu sein. Andere Menschen, die sich auf Social Media ebenfalls als trans outeten und über das Thema informierten, spielten dabei eine wichtige Rolle. Jedoch war es für Eneas noch nicht der richtige Zeitpunkt, sich voll und ganz mit der eigenen Geschlechtsidentität auseinander zu setzen.

Dieses und letztes Jahr wählte Eneas seinen neuen Namen, liess sich die Brüste entfernen und erhält regelmässig Testosteron. Eneas ist rückblickend froh darüber, sich in den vergangenen Jahren Zeit gelassen zu haben: «Die Entscheidung konnte auf diese Weise in mir reifen, ich hätte manche Schritte sonst im Nachhinein bereut.» Eneas Hände ruhen auf der Computertastatur: «Ich war bereit dafür und die Welt war eher bereit für mich.»

Müll der sich selbst entsorgt

Eneas Umfeld reagierte unterschiedlich auf das Outing: «Ich erhielt von den Menschen am meisten Verständnis, von denen ich es am wenigsten erwartet hätte.» Eine Person, mit der Eneas vor dem Outing eng befreundet war, habe versucht das Ganze herunterzuspielen. «Solche Menschen sind für mich wie Müll, der sich selbst entsorgt», findet Eneas.

In der eigenen Familie erfuhr Eneas vor allem durch die Mutter grosse Unterstützung. Sie sei sich über trans Themen bereits früh bewusst gewesen und habe Eneas deshalb auch nie stark weiblich sozialisiert: «Ich durfte kurze Haare haben und konnte die Kleider tragen, die mir gefielen.» Im Hintergrund miaut eine Katze, während sich Eneas an die Vergangenheit erinnert.

Kein Mensch hat mich dazu gezwungen an die Öffentlichkeit zu gehen, das war meine eigene Entscheidung.

Eneas Pauli

Mittlerweile ist Eneas 26 Jahre alt und Co-Präsident:in von Transgender Network Switzerland, einer Organisation, die sich mit Petitionen und Kampagnen für die Interessen von trans Personen einsetzt – zum Beispiel für eine genderneutrale Sprache. Der Aktivismus gebe Eneas sehr viel und der grösste Teil der Leute reagiere positiv darauf.

Die Aufklärungsarbeit, die Eneas verrichte, bringe aber auch einen vollen Terminkalender und manchmal Stress mit sich: «Doch kein Mensch hat mich dazu gezwungen an die Öffentlichkeit zu gehen, das war meine eigene Entscheidung.» Wie lange Eneas noch Aktivismus betreiben möchte, ist noch unklar: «Aber im Moment tut es mir sehr gut und möglicherweise bleibe ich noch jahrelang aktiv.»

Talkreihe «Feuchter Januar»

Der «Feuchte Januar» ist eine Zusammenarbeit von Tsüri.ch mit dem queerfeministischen Sexshop untamed.love. Was dich dabei erwartet? Vier Gespräche mit untamed.love-Gründerin Jessica Sigerist im «Das Gleis» im Kreis 5. Ob die Anlässe live oder digital stattfinden, steht noch nicht fest. Sicher ist jedoch bereits, wer teilnehmen wird: Nach dem Eröffnungsgespräch zwischen Jessica Sigerist und Tsüri-Redaktionsleiterin Rahel Bains wird die Tsüri-Kolumnistin mit Eneas Pauli über Non-binäre Geschlechtsidentitäten, mit Brandy Butler über Body-Positivity und mit Sidonia Guyer und Michelina Fuchs von Zwischenwelten über BDSM & Kink-Praktiken diskutieren.

Vergangene Talks:

  1. Talk vom 4. Januar mit Rahel Bains und Jessica Sigerist: «Sex-Positivity bedeutet nicht einfach mehr Sex für alle»
  2. Talk vom 11. Januar mit Jessica Sigerist und Brandy Butler: «Fat Acceptance ist noch lange nicht am Ziel»

Save the Date:

  1. 18. Januar, 20 Uhr: Talk mit Jessica Sigerist und Eneas Pauli (Online oder live mit Gästen) 
  2. 25. Januar, 20 Uhr: Talk mit Jessica Sigerist und Sidonia Guyer und Michelina Fuchs (Online oder live mit Gästen)

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