«Unser Planet ist kein zu warm gewordenes Gerät» – ein Gastkommentar - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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9. November 2022 um 14:00

«Unser Planet ist kein zu warm gewordenes Gerät»

Sonja Wolfensberger von Empathie Stadt Zürich findet es manchmal schwierig, nicht in Hass zu verfallen, wenn sie sieht, was die Menschen unserem Planeten antun. Ein Gastkommentar über die Frage, wie wir wieder zu Wohltäter:innen der Erde werden können.

Sonja Wolfensberger möchte das System verändern: «Es ist keine Entweder-Oder-Frage. Das eine befruchtet das andere.» (Foto: zVg)


Vergangenen August herrschte in meinem lokalen Ökosystem Dürre. Peripher war ich umgeben von Waldbränden. Ich war tieftraurig. Darum schreibe ich heute über die Regeneration unserer Welt und darüber, worin ich die grösste Hoffnung unserer Zeit sehe.

In der Konfliktlösung gilt folgendes Prinzip: Konflikte können dann gelöst werden, wenn die Gruppenmitglieder anerkennen, dass sie eine Gemeinschaft sind. Im Konflikt geschieht es oft, dass Gruppen in binäres Denken verfallen. (Das Wort «binär» kommt vom Lateinischen «binarius», was zweifach oder aus zwei bestehend heisst.) In einem Konflikt binär zu denken bedeutet, sich in zwei Gruppen zu trennen: In die eine, die im Recht ist, und die andere, die schuld ist. Dabei herrscht keine Einigkeit über die korrekte Zuteilung. Es wird darüber gestritten, wer in die zweite Gruppe der Schuldigen gehört. Diese Art des binären Denkens vergiftet den Zusammenhalt. Ein Konfliktgespräch auf Augenhöhe ist nicht mehr möglich.

Gruppen, die daraus ausbrechen – indem sie aufhören, sich in zwei Lager zu trennen, und anerkennen, dass kein Mensch perfekt ist und dass es für eine Lösung nötig ist, dass alle Mitglieder zusammenhalten – das sind Gruppen, die ihre Konflikte lösen können. 

«Ich wünsche mir eine globale Gemeinschaft, in der jede Ameise, jeder Wald, jeder Bach, ja sogar der Wind als gleichwertig angesehen wird, wie der Mensch.»

Sonja Wolfensberger

Wenn ich mit Gruppen arbeite, die Unterstützung für einen Konflikt brauchen, dann beginne ich deshalb nicht mit der Suche nach Lösungen, sondern etabliere zuerst ein Gemeinschaftsgefühl der Zusammengehörigkeit. Lösungen sind in den meisten Fällen bereits vorhanden, sie werden allerdings nicht umgesetzt, solange  die Gruppe aus zwei oder noch schlimmer, mehr als zwei Lager besteht. Ist der Zusammenhalt aber restauriert, so ergeben sich die Lösungen fast wie von selbst.

Die globale Ökosystem-Krise können wir als Konflikt betrachten, innerhalb derer wir diesen Schritt noch nicht getan haben. Wir sitzen mehr oder weniger unbewusst in einem binären Denken in den Kategorien Mensch und «Natur» fest. Wir erleben diese Krise nicht in einer Gemeinschaft auf Augenhöhe mit den nicht-menschlichen Bestandteilen des Ökosystems Erde. Noch nicht. Übrigens: Wenn ich «wir» schreibe, meine ich alle Menschen, die in einer ähnlichen Kultur leben wie ich. Es gibt Kulturen, die in einer vollumfänglichen Ökosystem-Gemeinschaft leben. Leider sind es nicht die mächtigen Kulturen dieser Welt. Und «Natur» schreibe ich in Anführungszeichen, weil ich der Ansicht bin, dass der Mensch nicht getrennt von der Natur, sondern Teil von ihr ist. Ich beobachte allerdings die Verwendung des Wortes im Sinne einer Abgrenzung. Mit «ich gehe in die Natur» beziehen wir uns auf einen Waldspaziergang oder eine Bergwanderung und nicht auf einen Ausflug in die Menschenmasse der Bahnhofstrasse. 

Ich befürchte, dass wir unseren Ökosystem-Konflikt nicht lösen werden, wenn wir unser  binäres Denken beibehalten. Darin vermute ich die vielleicht grösste Hoffnung unserer Zeit. Ich mag mich täuschen – versteht diesen Text daher bitte nicht als vollendetes Manifest, sondern als Grundlage für ein Gespräch mit mir, in dem ich gerne dazulerne – aber momentan tendiere ich dazu, zu denken, dass es auf planetarer Ebene nicht anders ist, als in den Gruppenkonflikten, die ich begleite.

Konkret gibt es zwei Arten von binärem Denken, die ich im Ökosystem-Konflikt beobachte und die ich beide transformieren möchte. Hier ist die erste: 

Binäre Abwertung der «Natur»

Ich bin skeptisch gegenüber allen Öko-Lösungen, die auf der binären Einteilung in Mensch und «Natur» gründen, besonders wenn die «Natur», sprich die nicht-menschliche Welt zur Maschine objektifiziert wird. Solange wir denken, dass der Planet ein etwas zu warm gewordenes Gerät ist, das wir durch High-Tech Engineering flicken müssen, mache ich mir Sorgen, dass wir an den lebensnotwendigen Bedürfnissen des Ökosystems vorbeizielen. Maschinen haben keine Bedürfnisse. Sie wurden gemacht, um menschliche Bedürfnisse zu erfüllen. Die nicht-menschliche Welt ist aber mehr als das. Sie ist nicht bloss hier, um menschliche Bedürfnisse zu stillen. Was braucht der Wald? Was braucht das Meer? Was braucht der Biber? Was braucht der Wind? Solche Fragen möchte ich ins Zentrum der ökologischen Debatte stellen und mit gleicher Ernsthaftigkeit behandeln, wie die Frage, was der Mensch braucht. Paradoxerweise glaube ich, dass es auch uns Menschen auf der Erde besser gehen wird, wenn wir anfangen, diese Fragen zu stellen.

Ich weiss, ich beschreibe eine extreme Position und es kostet mich Mut, sie zu vertreten, weil ich dafür oft verniedlicht und manchmal sogar angefeindet werde. Ich möchte mich aber nicht zensieren, weil ich darin die vielleicht grösste Hoffnung unserer Zeit sehe.

Im Moment denke ich, dass wir den Ökosystem-Konflikt nicht lösen werden, ohne ein globales Ökosystemverständnis, in dem die menschliche und die nicht-menschliche Welt ebenbürtig vereint sind. Ich wünsche mir eine globale Gemeinschaft, in der jede Ameise, jeder Wald, jeder Bach, ja sogar der Wind als gleichwertig angesehen wird, wie der Mensch.

Es gibt zwei Arten von binärem Denken, die ich gerne auflösen würde: Die Objektifizierung der «Natur» und die Pathologisierung der Menschheit.

Wenn wir das binäre Denken in den Kategorien Mensch und «Natur» transformieren und uns von der Haltung befreien, dass es auf eine gewisse (manchmal subtile) Weise nur um die Menschen geht, dann wird ein Systemwandel möglich werden, der heute noch undenkbar ist. 

Versteht mich nicht falsch. Ich schlage nicht vor, dass wir die aktuelle Arbeit am System einstellen und nur noch still da sitzen und nonbinäres Denken kultivieren. Ich möchte das System verändern, während wir unser Denken transformieren und umgekehrt. Es ist keine Entweder-Oder-Frage. Das eine befruchtet das andere.

Und nun zur zweiten Art des binären Denkens, die ich gerne transformieren würde.

Binäre Abwertung der Menschheit

Ich befürworte auch nicht die umgekehrte Form der Ausgrenzung. Manchmal begegne ich der Ansicht, dass die Welt besser dran wäre ohne uns Menschen. Diese Aussage stellt uns nicht mehr über die «Natur», sie grenzt uns jedoch als minderwertig aus der Ökosystem-Gemeinschaft aus. Das ist immer noch keine Begegnung auf Augenhöhe. Wenn wir so denken, dann verpassen wir unser regeneratives Potential. So schwer es zu glauben ist – auch ich finde es manchmal schwierig, nicht in Hass zu verfallen, wenn ich sehe, was die Menschen auf unserem Planeten tun – wir Menschen sind keine böse Krankheit. Auch wir haben einen Beitrag zu leisten ans Ökosystem Erde.

Das ist die vielleicht tiefste Frage, die wir uns in der heutigen Zeit stellen können: Was ist die Funktion der Menschheit fürs Ökosystem Erde und wie können wir diese wieder vollumfänglich einnehmen? In anderen Worten: Wie werden wir wieder zu Wohltäter:innen der Erde?

Zur Person

Sonja Wolfensberger ist Co-Gründerin des Projekts Empathie Stadt Zürich und der Empathie Initiative. Sie studierte Psychologie und Philosophie. Heute setzt sie sich ein für gesellschaftlichen Zusammenhalt und für eine Welt, in der die nicht-menschliche Natur gleichwertig behandelt wird wie der Mensch.

  1. «Empathie Stadt Zürich»: Wie ein Zürcher Projekt Psychologie und Aktivismus vereint

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