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26. November 2018 um 14:18

Aktualisiert 26.01.2022

Eine Woche ohne Sucht überstanden – Ein Plädoyer für den Genuss

Eine Woche hat Redaktor Timothy Endut ohne jegliche Suchtmittel überstanden. Unnötige Ablenkung hat er trotzdem in einer anderen Sucht gefunden. Gedanken über ein suchtfreies Leben und ein Plädoyer für den Genuss und fürs Chillen.

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Es ist geschafft. Eine ganze Woche habe ich mich allen Suchtmitteln verweigert. Ich hatte Mühe – vor allem mit dem Nikotin-Entzug. Der Verzicht auf das Smartphone und damit auf’s Internet und Social Media, ja gar auf jegliche Messenger-Apps, all das war halb so schlimm.

Wenn man mein Suchtverhalten einige Wochen zuvor betrachtet, ist dieses gesamte Selbstexperiment jedoch mehr als nur kontraproduktiv. Seit dieser Woche habe ich heftig Bock auf mehr von allem!

Die radikale Suchtmittel-Diät

Zuvor hatte ich keinerlei Probleme, auf Alkohol zu verzichten. Ich hatte nicht einmal Lust, zu trinken. Mit dem Beginn des Verzichts wurde das Verlangen jedoch immer grösser. So dass ich gar am zweitletzten Tag ein alkoholfreies Bier getrunken habe. Das würde ich sonst nie machen.

Es hat sich angefühlt wie eine Diät, bei der man auf alles verzichten muss, das man gerne isst. Plötzlich fallen einem all jene Dinge ein, die man gerne noch einmal gegessen hätte und genau damit werden sie zur Belohnung nach der Diät. Man wartet. Ich habe bloss noch gewartet: auf meine nächste Zigarette, mein nächstes Bier. Ja gar meinen nächsten Kaffee zu trinken, konnte ich kaum noch erwarten.

Verbote nützen nichts. Im Gegenteil. Sie machen das Verbotene noch attraktiver. Man überlegt sich tausendmal: Weshalb auch nicht? Weshalb kein Bier trinken? Weshalb keine Zigarette rauchen? Eine befriedigende Antwort findet man nicht.

Vom Genuss- zum Suchtmittel

Suchtmittel belohnen uns. Sie helfen uns, den Tag, die Woche oder das ganze Jahre zu überstehen. Genau dort schlummert das Suchtpotenzial. Dort werden Genussmittel zu Suchtmittel.

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Und so sitze ich jetzt hier – kaum eine halbe Stunde nach dieser suchtfreien Woche – trinke ein Bier, rauche meine ersten Zigaretten und schreibe diesen Artikel. Denn die Belohnung ist dermassen süss, dass mir die Worte flott von den Fingern fliessen. Und nach Belohnung habe ich nur so gelechzt.

Das Schreckliche an diesem Selbstexperiment war, dass mir keinerlei Ablenkung vergönnt war. Während ich Entzugserscheinungen vom fehlenden Nikotin hatte, konnte ich mich nicht einfach ins Bett legen und Serien bingen. Im Moment, in dem ich routinemässig zur Zigarette gegriffen habe, konnte ich nicht einfach als Ersatzhandlung einen Kaffee trinken. Obwohl es genau das war, was ich wollte. Alles, was mir blieb nebst dem steten Verlangen nach Nikotin, war die Arbeit.

Und wenn die Arbeit zur Belohnung wird, hast du entweder den besten Job auf Erden oder ein ganz miserables Leben. Ich mag meinen Job. Doch wenn ich ihn missbrauchen muss, um andere Süchte zu überwinden und um mich zu belohnen, dann ist die Arbeit auch nichts weiter als eine Sucht.

Arbeit-Konsum-Wechselwirkung

An diesem Punkt muss man sich ernsthaft fragen, wer man noch ist zwischen Arbeit und Konsum. Unser Leben scheint furchtbar binär zu sein. Entweder sind wir produktiv oder wir konsumieren. Währenddessen zeigt uns die Leistungsgesellschaft, welches der beiden wichtiger ist. Wir rackern uns ab, bis wir nicht mehr wissen, was wir neben der Arbeit sind.

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Also suchen wir Ausgleich. Den suchen wir in Genussmitteln. Sei dies beim Shoppen, Essen oder Drogenkonsum. Ist man dann nicht vorsichtig und versucht aus den Tiefen des Moments den Genuss zu spüren, ja dann geht man einen Schritt auf ein Suchtverhalten zu, das sich nicht so bald wieder verabschieden wird.

Sei gechillt und geniesse

In dieser Zeit des konstanten Leistungsdruck, der Überforderung und des vergessen gegangenen Chillens sehe ich das Problem nicht im Genussmittel. Viel eher frage ich mich, weshalb ein Genussmittel zu einem Suchtmittel werden kann.

Hat man keine Zeit, dann tendiert man dazu, ein Genussmittel als Belohnung für den überstandenen Alltag, die geleisteten Überstunden oder die zu überstehende quälende Phase zu missbrauchen. Und damit geht man nur allzu schnell verloren im Kreislauf von Überlastung und Ausgleich.

Hat man jedoch Zeit, um achtsam zu konsumieren, dann ist es ein Leichtes, dies alleine für den Genuss zu machen. Eine Zigarette zu rauchen, während die Sonne hinter den Wäldern untergeht. An einem Bier zu nippen und mit den besten Freund*innen über alte Zeiten zu quatschen. Ja gar LSD zu schmeissen an einem lauen Spätsommertag, einfach weil die Vögel noch zwitschern. Und das muss doch etwas Schönes bleiben.

Wenn mich dieses Selbstexperiment eines gelernt hat, dann dies, dass ich wieder genussvoll und ohne Stress meine Zigarette geniessen kann.

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