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14. Juni 2021 um 07:31

Aktualisiert 24.01.2022

Ein:e Aktivist:in fragt: «Wie kann unser Kollektiv feministischer werden?»

Wer spricht bei euch in den Plenas? Wer ist in den entscheidenden Momenten vor Ort? Wer lädt wen zum informellen Bier ein? Wer hütet die Login-Daten vom gemeinsamen Server? Wer wird zum Podium geschickt, zu dem ihr als Kollektiv eingeladen seid?… Sind es vor allem Männer? Oder anders gefragt: Wie feministisch ist eure Organisation? – eine Plädoyer für die Unsicherheit.

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Illustration: Anna Brückmann

Text: Urban Equipe

Liebe Aktivisten, Vereinsfunktionäre und Weltverbesserer,

wir müssen reden.

Normalerweise schreiben wir über Aktivismus. Heute schreiben wir über feministischen Aktivismus. Also natürlich nicht heute, sondern letzte Woche. Heute streiken wir. Aber ein solidarischer Mann hat heute diese Kolumne für uns online gestellt.

Neben dem feministischen Kampf, also dem Kampf für mehr Rechte, mehr Geld, mehr Macht und vieles mehr für FLINT*-Personen, gibt es viele weitere Kämpfe: Organisationen und Initiativen, denen es nicht explizit um feministische Themen geht, aber bei denen genauso wichtig wäre, dass FLINT*-Personen gleichberechtigt beteiligt wären. Sind sie aber allzu oft nicht. Sexistische oder patriarchale Strukturen überleben leider beharrlich – auch in NGOs, zivilgesellschaftlichen Initiativen oder aktivistischen Kollektiven. Das erschwert es FLINT*-Personen, sich dort wohl zu fühlen und mitzumachen. Und das nervt.

FLINT*? Keine Panik vor neuen Begriffen: gemeint sind Frauen, Lesben, Inter Menschen, Nichtbinäre Menschen, Trans Menschen und alle Mitgemeinten.

Die gute Absicht reicht nicht. Veränderung ist aufwändig.

Vermutlich wollt ihr uns gar nicht aktiv ausschliessen – zumindest ist es das, was wir so oft hören: «Ich hab doch nichts gegen Frauen, im Gegenteil! Ich fände es toll wenn mehr Frauen mitmachen würden und sage das auch oft!!». Aber gute Absicht reicht nicht. Veränderung ist aufwändig. «Change requires intent and effort. It really is that simple.» schreibt Roxane Gay in Bad Feminist. Und sie schreibt auch: «The solutions are obvious».

Ja, die Lösungen sind offensichtlich. Hört also auf mit Ausreden. Hört auf zu sagen, «Sie wollen halt nicht, sie bleiben nie lang, sie sind halt eher ruhig, sie bewerben sich nicht für die verantwortungsvollen Ämter, sie melden sich nicht freiwillig für den öffentlichen Auftritt...» Hört damit auf und fangt endlich an euch zu fragen: Warum? Fragt euch das und fragt SIE das, und glaubt ihnen ihre Antworten, auch wenn sie euch nicht passen. Und handelt entsprechend. Und macht euch schlau. Das Internet ist voller guter Tipps, weil sehr, sehr viele FLINT*-Personen sich schon die Zeit genommen haben aufzuschreiben, was sie anders haben wollen. Lest feministische Texte, folgt Feminist:innen in den Sozialen Medien... Euer Algorithmus zeigt euch das nicht an? Dann trainiert euren Algorithmus besser.

Ihr wisst nicht, wonach suchen? Hier ein paar mögliche Anfänge: Fragt euch, wie ihr grundsätzlich inklusiver sein könnt, für FLINT*-Personen, aber auch für schüchterne Menschen, für Menschen, die eine andere Sprache sprechen, für Menschen die anders sind als ihr selbst.... Reflektiert bestehende Macht-Strukturen und Normen in eurer Organisation und baut sie um, wo nötig. Führt eine Quote ein. Setzt auf Co-Präsidien, Teilzeitstellen, Task-Sharing und überhaupt auf mehr Kollaboration statt Einzelkämpfertum und Konkurrenzkampf.

Besteht nicht darauf, dass alles so weitergehen muss wie bisher. Hört auf andere Meinungen. Seid sorgfältig und empathisch miteinander. Hört nicht nur auf die Lautesten, die Schnellsten, die Selbstsichersten. Implementiert Methoden, dank denen alle gleichwertig Raum und Gehör bekommen. Plant Termine so, dass sie nicht an den Tages- und Wochenrhythmus eines typischen 9-to-5-Cis-Mannes angepasst sind. Sprecht über Geld. Sprecht über Sicherheit.

Um Himmels Willen: Gendert eure Sprache und eure Texte – das kann doch nicht so schwer sein und tut auch nicht weh. Fühlt euch zuständig für die Care-Arbeit, übernehmt Kinderbetreuung, bringt die Verpflegung für die Sitzung, backt den Kuchen, sorgt euch darum, dass es allen wohl ist. Hinterfragt eure Privilegien – sie sind nicht eure Schuld, aber sie sind eure Privilegien. Sie sind all das, worüber ihr nie nachdenken musstet – also fangt damit an, es ist nämlich nicht unsere Aufgabe... Das sind alles nur mögliche Anfänge, und sie sind auch nicht nach einem Versuch erledigt. Veränderung braucht Ausdauer.

Die Urban Equipe beantworten auch deine Fragen!
Im aktivistischen Alltag stellen sich uns viele kleine Hürden und grosse Herausforderungen in den Weg. Wie gut wäre es manchmal zu wissen, wie es andere machen! In der Kolumne «Aktivist:in fragt...» suchen Anna Brückmann, Antonia Steger und Sabeth Tödtli von der Urban Equipe Antworten auf deine konkrete Frage aus deinem aktivistischen Alltag. Dabei schöpfen sie aus dem Erfahrungsschatz des Handbuchs «Organisiert euch!», suchen aber auch neue Infos aus neuen Quellen, besprechen die Themen an den «Misch dich ein!»-Stammtischen , graben in der eigenen Erinnerung und fragen bei anderen Aktivist:innen nach – für dich und dein Engagement! Schick hier deine Frage (anonym) und die Urban Equipe versucht sich in einer Antwort!

Ihr wollt es noch konkreter? Hier ein Beispiel: Ihr beklagt euch darüber, dass ihr keine FLINT*-Person auf’s Podium kriegt? Dann überlegt euch vielleicht auch mal, in welchen Rahmen ihr diese Personen einlädt: Ein Podiumsgespräch bedingt selbstsichere Personen, die sich gerne öffentlich exponieren, die zu allem eine Meinung haben oder bereit sind, sich ad hoc eine Meinung zu bilden, und die nicht das Bedürfnis haben, erst in Ruhe zu überlegen oder gar abzuwägen, bevor sie eine Frage beantworten. Abgesehen davon, dass das klassisch männliches Gehabe ist, und dann immer noch irgend so ein älterer Peter auch auf dem Podium sitzt, der diese Rolle schon jahrzehntelang geübt hat im Gegensatz zu uns – abgesehen davon finden wir (die Autor:innen) auch einfach: diese Art des Austauschs bringt uns nicht weiter.

Und ja, wenn’s sein muss kriegen wir das schon auch hin, aber eigentlich haben wir nicht so Lust drauf, uns immer auf die althergebrachten Rollen, Formate und Praktiken einlassen zu müssen. Wenn ihr unsere Stimmen hören wollt, dann schafft einen sinnvollen Rahmen, in dem wir uns alle auf Augenhöhe begegnen können. Das Podium ist nur ein Beispiel von vielen politischen oder aktivistischen Formaten, die wir vielleicht neu erfinden sollten.

Und seid euch nicht immer so verdammt sicher! Sich seiner selbst, seiner Meinung und bezüglich aller Fakten und Zusammenhänge dieser Welt immer sicher zu sein, ist keine Stärke. So kommen wir keinen Schritt weiter. Wir müssen lernen, Ambivalenz auszuhalten, abzuwägen, einander zuzuhören. Wir müssen bereit sein, etwas voneinander zu lernen. Es es kann sogar sein, dass manchmal keine:r von uns schon die Antwort weiss. Wir müssen alle lernen, Unsicherheit auszuhalten – wir auch, aber ihr auch.

Wer ist dieses wir? Auch wir (die Autor:innen) können nicht für alle FLINT*-Personen sprechen. Auch wir sind unsicher, weil wir wissen, dass wir’s nicht alle recht machen können, sich nie alle mitgemeint fühlen werden, immer irgendjemand blöd finden wird, was wir sagen und schreiben, was wir tun oder lassen. Trotzdem reden, schreiben, tun und lassen wir Dinge. Aber die Unsicherheit, die begleitet uns dabei immer. Und das ist auch gut so. Also lernen wir, sie auszuhalten und wertzuschätzen.

Lasst euch auch manchmal verunsichern, oder schreit zumindest nicht sofort laut auf, wenn ihr mal was nicht auf Anhieb versteht oder wenn ihr mal nicht ganz sicher seid, ob ihr mitgemeint oder auch eingeladen seid – zum Beispiel heute, am Streiktag.

Wir können euch eure Verunsicherung heute nicht nehmen. Wir wollen es auch nicht. Im Gegenteil. Wir glauben nämlich daran, dass eine generelle Verunsicherung am Anfang von Veränderung steht.

Also lassen wir uns alle zusammen verunsichern, und schauen wir, wohin uns das bringt!

Ein:e Aktivist:in fragt
Diese Kolumne steht im Zeichen des Fokusmonats «Misch dich ein!», eine Kooperation von Tsüri.ch und der Urban Equipe, und unterstützt durch die «Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons Zürich», durch den Integrationskredit des Bundes im Rahmen des Programm «Citoyenneté – mitreden, mitgestalten, mitentscheiden» sowie durch das Kantonale Integrationsprogramm der Fachstelle Integration Kanton Zürich und den Integrationskredit der Stadt Zürich. Die Equipe wird ausserdem gefördert vom Migros-Pionierfonds, Teil des gesellschaftlichen Engagements der Migros-Gruppe.

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