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Von Julia Weber

Schriftstellerin

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2. Oktober 2021 um 06:00

Was es bedeuten kann, ein Baum zu sein

Kolumnistin Julia Weber spricht mit der Kioskfrau. Diese stellte sich vor, wie es ist, ein Baum zu sein, mit einer dicken Rinde und permanenten in einem Hof stehend. Dann habe sie versucht sich vorzustellen, wie es sich anfühle ein Mensch zu sein, der wolle, das andere Menschen, die nicht das gleiche Leben leben, auch nicht die gleichen Rechte haben wie er.

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Die Kioskfrau sitzt hinter der Scheibe, wie immer, die Beine in roten Strümpfen und die Haare wie Merengue. Hinter uns fährt ein Mensch auf einem Liegerad vorbei, auf seinem Helm steht «ich glaube an rein gar nichts» geschrieben.

Dann fährt ein Wagen vorbei, mit dem man auch, wenn man denn will, durch reissende Flüsse fahren kann. Wir leben hier unter den nachvollziehbareren Menschen dieses Landes, sagt die Kioskfrau und zeigt mir ihre Finger, daran die Nägel in Himmelrot und Werbeprospektblau und Zahnpastaweiss und Kuhfladengrün, Mittagssonnengelb und hier noch schwarz, einfach schwarz die Nägel der rechten Hand.

Sie habe gestern den grossen Baum in ihrem Hof sehr lange und genau beobachtet, habe versucht sich vorzustellen wie es sich anfühlen könnte ein Baum zu sein. So ein Baum, mit einer dicken, an manchen Stellen porösen Rinde und einem permanenten Stehen in einem Hof und den Katzen, die ihre Krallen in die Rinde und an einem hoch und runter fahren, den ganzen Tag. Und die Kinder, die mit Kreide auf die Rinde Herzen und Fussballvereine und Monster und Heldinnen zeichnen.

Und als sie ein bisschen Ahnung, eine Ahnung einer Ahnung davon gehabt habe, was es wohl bedeuten könnte so ein Baum zu sein, da habe sie wiederum versucht sich vorzustellen, wie es sich anfühle ein Mensch zu sein, der wolle, das andere Menschen, die nicht das gleiche Leben leben, auch nicht die gleichen Rechte haben wie er.

Sie habe sich versucht vorzustellen, was der Gedankengang solch eines Menschen sein könnte, der denke: aber nein, nein, dieser Mensch da, der darf nicht das Gleiche dürfen wie ich, der ist ein anderer, darum nein, nein, das was ich darf, darf der nicht.

Das müsste ja bedeuten, dass er sein Leben richtig findet und das andere falsch, aber selbst dann, selbst dann könnte er doch sagen, ist mir doch egal, was der in seinem Leben so lebt, soll der doch sein falsches Leben leben, wenn der so gerne falsch leben will, soll er so falsch leben wie er will, dieser Mensch mit seinem falschen Leben, selbst dann leuchte es ihr nicht ein. Nein, es müsse doch eine Bedrohung von diesem Menschen mit anderem Leben, aber gleichen Rechten ausgehen.

Und auch habe sie sich dann gefragt, was es uns alle überhaupt angehe, wer jetzt wen warum liebe und heirate, sie habe sich plötzlich, gerade in Gegenwart des Baumes und seiner Ruhe dafür geschämt, überhaupt gefragt worden zu sein, ihre Meinung, nein, sogar ihr O.K. dafür zu geben.

Gestern, nachdem sie eine Idee einer Idee davon bekommen hatte, wie es sein könnte ein Baum zu sein, aber die Menschen nicht mehr verstanden habe, habe sie das Fenster geöffnet und zum Baum gesagt, die Menschen sollten ein bisschen wie er sein können.

Einfach ruhig stehen, die Katzen ihre Krallen in die Rinde, hoch und runter, Bilder der Kinder am Bauch und sie habe kurz das Gefühl gehabt, der Baum draussen, habe die Arme geschwenkt, habe genickt oder sogar, ja, gesagt. Ja, gesagt, frage ich. Nein, sagt sie, das wohl nicht.

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Kolumnistin Julia Weber
Schriftstellerin Julia Weber hat im Jahr 2012 den Literaturdienst gegründet und war 2015 Mitbegründerin der Kunstaktionsgruppe «Literatur für das, was passiert» zur Unterstützung von Menschen auf der Flucht. Im Frühjahr 2017 erschien ihr erster Roman «Immer ist alles schön» der vielfach nominiert und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, unter anderem mit dem internationalen Franz-Tumler-Literaturpreis, der Alfred Döblin Medaille der Universität Mainz, 2017 stand der Roman auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises. 2019 gründete Julia Weber mit sechs weiteren Schriftstellerinnen das feministische Autorinnen Kollektiv «RAUF», welches Aktionen und Veranstaltungen organisiert, um die Sichtbarkeit und Position der Frau innerhalb des Literaturbetriebs zu stärken. Sie lebt mit ihrer Familie in Zürich.

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