Ecstatic Dance: Zwischen toxischen Glücklichseins und innovativem Rave - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Philipp Mikhail

Redaktor

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26. Juni 2021 um 14:00

Ecstatic Dance: Zwischen toxischen Glücklichseins und innovativem Rave

Die Clubs dürfen wieder öffnen. Unser Redaktor hat in einer heissen Nacht im Juni bereits getanzt: Und zwar als eine Art Selbstexperiment an der wohl einzigen Tanzveranstaltung der Stadt, bei der die Besucher:innen bewusst auf Alkohol und Drogen verzichten. Seine Erfahrungen des «Ecstatic Dance»? Nicht nur positiv.

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Screenshot: Youtube

Ist sie das jetzt, die Ekstase? Ich sitze zusammengekauert auf dem Parkettboden einer Räumlichkeit mit dem Namen «Wandellust» im Zürcher Seefeld. Der Boden ist ein wenig klebrig. Kein Wunder, etwa dreissig Personen haben gerade neunzig Minuten durchgetanzt und draussen sind es auch kurz vor 22 Uhr noch immer gefühlte 25 Grad. Ehrlich gesagt habe ich mir dieses «Natural High» im Vorfeld anders vorgestellt. «Ecstatic Dance» klingt verheissungsvoll. Die Ekstase selbst ist weit banaler.

Und doch: Ich glaube, mich ein wenig berauscht zu fühlen. Es ist nicht die Art von Rauschzustand, bei dem man klar spürt, wie eine Chemikalie gerade einfährt und das Gehirn in einer Sauce aus Glückshormonen schwimmt. Es ist vielmehr eine tiefenentspannte Glückseligkeit, die es in sich zu suchen und zu realisieren gilt. Die Lautsprecher im Vorderteil des Raums beschallen mich mit einer Ballade von Minnie Riperton. «Loving you is easy ‘cause you’re beautiful».

Die Kerzen neben der Musikanlage flackern leicht. Daneben steigt ein feiner Rauch auf. Ist es Palo Santo? Sandelholz? Ich bin mir nicht ganz sicher. Sicher ist dagegen, dass die Räucherware nicht nur zur Entspannung angezündet wurde. Wenn sich mehr als zwei Dutzend Leute an einem Sommerabend im Juni fast zwei Stunden so richtig auspowern, riecht man das. Doch das spielt im Moment alles keine Rolle. Ich glaube, ich bin in Ekstase. Jede Zelle meines Körpers ist glücklich. Ganz und gar ohne Drogen.

Freies Tanzen mit klaren Regeln

Zwei Stunden zuvor wäre ich um ein Haar zu spät gekommen. Während ich im Vorraum der Wandellust kurz das Shirt wechsle und mich meiner Birkenstock Sandalen entledige, liegen die meisten bereits im Hauptraum auf dem Boden, dehnen die Muskeln oder meditieren. Im Hintergrund plätschert Ambient-Musik. Mein Name wird auf einer Liste abgehakt. Ich trage meine Kontaktdaten auf einer anderen Liste ein: Los geht's! Den «Energy Exchange» – so nennt man bei Ecstatic Dance eine Banküberweisung – habe ich wie alle anderen bereits im Vorfeld vorgenommen. Bei Ecstatic Dance gibt es keine Kasse. Will heissen: keine Kreditkarte, keine Ekstase.

Ist es nicht meistens so mit ekstatischen Momenten: Sie vergehen wie im Flug und irgendwie können wir uns, wenn sie vorbei sind, nicht mehr genau an sie erinnern? Wie ein schöner Traum?

Philipp Mikhail

Wir bilden den «Opening Circle». Johanna, die Organisatorin und DJane, welche uns später bespielen wird, erklärt kurz die Regeln: Keine Drogen, keinen Alkohol, keine Gespräche im Hauptraum während des Tanzes. Andere Leute dürfen angetanzt werden, jedoch mit «Awareness» und Respekt für das Gegenüber. Nonverbale Kommunikation und Geräusche (stöhnen, jauchzen, etc.) sind erlaubt. Auf der Website habe ich im Vorfeld zudem gelesen, dass barfuss tanzen wärmstens empfohlen wird. Der Opening Circle ist so etwas wie das Aufwärmen vor dem Fitness. Wir machen ein paar Übungen, die mich an Yoga erinnern, allerdings etwas freier interpretiert scheinen. Trotz der vielen Regeln wird Freiheit, also besonders freies Tanzen, bei Ecstatic Dance gross geschrieben.

Hopsen, hüpfen, tanzen

Nach dem Circle geht es dann endlich richtig zur Sache. Johanna beginnt ihr Set mit feinen und lieblichen Melodien. Ich erinnere mich an Gitarren und Klaviergeklimper. So genau weiss ich das nicht mehr. Ist es nicht meistens so mit ekstatischen Momenten: Sie vergehen wie im Flug und irgendwie können wir uns, wenn sie vorbei sind, nicht mehr genau an sie erinnern? Wie ein schöner Traum?

Nun steigert Johanna das Tempo. Schon früh legt sie psychedelischen Techno und Drum’n’Bass auf. Die Meute kocht regelrecht auf dem Dancefloor, reagiert sich ab. Sobald die ersten Schweisstropfen kullern, verlangsamt sich die Musik wieder. Ich fuchtle mit meinen Armen, drehe meine Hände wie bei einem indischen Volkstanz, springe umher, meist mit geschlossenen Augen. Mit Bossa Nova und Cumbia wird uns eine Pause gegönnt und gleichzeitig der nächste Zenit des Sets eingeleitet. Die meisten Gäste bleiben beim Tanzen bei sich. Nur das eine oder andere Pärchen tanzt eng verschlungen. Als die zweite Technowelle beginnt, komme ich bereits an meine sportlichen Grenzen. Das Tempo liegt zwischenzeitlich bei rund 130 Bpm (beats per minute) und wegen der Pandemie und der damit verbundenen Schliessung der Zürcher Clubs bin ich mich raven nicht mehr gewohnt.

Rauschzustände bestehen immer aus verschiedenen «Peaks», also Höhepunkten. Die erste dieser Sternstunden erinnerte mich stark an herkömmliche Raves: Irgendwann während eines intensiven Rauschzustands kommt der Moment, in dem man innehält. In diesen Augenblicken hatte ich auch unter Einfluss von Drogen stets die Erkenntnis, wie verrückt dieser Moment und wie grossartig diese «folie» gerade ist. Genau so ergeht es mir auch an diesem Freitagabend. Im selben Atemzug kommen mir dann oft die griechischen Feste zu Ehren des Rausches in den Sinn.

Ein ko(s)misches Gemisch aus Dionysien und Pseudo-Esoterik

Bereits im antiken Griechenland feierte die Bevölkerung Feste der Ekstase: Die Dionysien. Dabei handelte es sich um ein Event zu Ehren des Gottes Dionysos, der Gott des Rausches und der Verwandlung. Bezeichnend für die oft ausgelassenen Gelage, welche auch mit Tänzen begleitet wurden, war die darstellerische Gegenüberstellung der Tragödie und der Komödie. Die Tragödie befasste sich – vereinfacht gesagt – mit dem Begriff der Schuld und deren schicksalhaften Verstrickungen, welche zu Schmerz führt. Die Komödie hingegen war eine weit leichtere Interpretation, welche die inneren Konflikten der Menschen spöttisch belächelte. Dies mit dem Ziel, ein Wertesystem mithilfe des Lachens zu vermitteln. Gerade dieser Gegenüberstellung entzieht sich Ecstatic Dance.

Als die Besucher:innen beim Closing Circle zum affektierten Lachen aufgefordert werden, meine ich zumindest Züge toxischen Glücklichseins zu erkennen.

Philipp Mikhail

Es mutet an, als weigerten sich die Organisator:innen, sich mit dem Schmerz grundsätzlich auseinander zu setzen. Vielmehr wird eine Art postmoderne Pseudo-Esoterik (das Wort «Esoterik» ist für mich zu Unrecht negativ konnotiert) postuliert, bei der der Moment bewusst nur auf das «Gute» oder «Positive» reduziert wird. Alle Besucher:innen lächeln permanent, als ob sie bereits im Nirvana angekommen wären. Ich auch. Das ganze grenzt ein Bisschen an «Toxische Positivität», fast wie eine Droge.

Glücklich sein um jeden Preis

Eine 2018 in den USA erschienene Studie weist nach, dass das Ignorieren vermeintlich schlechter Emotionen längerfristig zu mehr Unzufriedenheit führt. Die Journalistin Allison Chiu erklärt in ihrem Artikel für die Washington Post, wie die Menschen besonders aufgrund der Corona-Pandemie eine toxische Ignoranz zur Trauer entwickelt haben. Sie erläutert zudem, dass die Gesellschaft gerade wegen der Pandemie und der damit verbundenen Einschränkungen und Hilflosigkeit zunehmend in esoterischen Bereichen (zum Beispiel «Life Coaching») Hilfe sucht. Dabei zeigt sie die Gratwanderung zwischen Optimismus und «toxic positivity» auf, und fordert die Lesenden damit auf, sich den düsteren Seiten des Lebens zu stellen, da andernfalls Kollateralschäden, wie beispielsweise eine manische Depression, entstehen können.

Das utopische Motiv permanent glücklich zu sein, findet sich sicherlich auch in der herkömmlichen Clubkultur, bei der die Partygäste in der Regel auf Rauschmittel zurückgreifen. Doch der Kater am nächsten Tag verkörpert die Wechselwirkung zwischen Glücklichsein und Trauer weit besser, als die pervertierte Interpretation von Ecstatic Dance. Nach einem Ecstatic Dance fühlt man sich am nächsten Morgen gut. Ob das toxisch ist, weiss ich nicht genau. Als die Besucher:innen beim «Closing Circle» zum affektierten Lachen aufgefordert werden, meine ich zumindest Züge toxischen Glücklichseins zu erkennen.

Lieber Psychedelika statt Alkohol

Maria Sabina, eine der wohl bekanntesten Schamaninnen der Neuzeit, ist ein hervorragendes Beispiel dafür, dass Drogen und Spiritualität zusammengehören. Die heiligen Pilze, mit denen sie in Oaxaca (Mexiko) Menschen aus der ganzen Welt behandelte, bewirken das, was Ecstatic Dance nicht zu erreichen vermag: Eine Loslösung aus dem «Ich», eine bewusstseinserweiternde Erfahrung. Für mich steht ausser Frage, dass ein Mensch sich durch Meditation und mit genügend Übung in einen Rauschzustand versetzen kann. Mein ganz persönliches Delirium ohne Drogen hatte ich schon vor der Pandemie, als der kürzlich verstorbene DJ und Druide Andrew Weatherall im Club Zukunft ein betörendes siebenstündiges Set aus psychedelischen Sounds, Punk und elektronischer Musik spielte.

Düster und doch befreiend. Da muss Johanna noch ein wenig üben. Doch wer nie Psychedelika konsumiert hat, versteht psychedelische Musik genauso wenig, wie jemand, der besoffen ist. Als Verfechter des massvollen Konsums halte ich nicht viel von strikten Regeln bei einem Rave. Alkohol erachte ich indes als die vielleicht dümmste Droge und ich verstehe, weshalb diese beim Ecstatic Dance verboten ist. Denn Alkohol hilft mir lediglich Dinge zu ignorieren. Bewusstseinserweiternd ist er jedoch bestimmt nicht.

Auch Menschen, die nichts von Rauschmitteln halten, aber trotzdem mal so richtig abgehen wollen, werden bei Ecstatic Dance fündig.

Philipp Mikhail

Fazit

Auf meinem Nachhauseweg im 2er Tram setzt sich beim Bellevue eine überschminkte Teenagerin mit einer halb geleerten Flasche Prosecco hinter mich. «Der Rausch sei ihr gegönnt», denke ich und bin mir der widersprüchlichen Arroganz meiner vermeintlichen Überlegenheit (weil ich ausnahmsweise ohne Rauschmittel benebelt bin) bewusst. Wer sich nach einem Ecstatic Dance nicht besser – gar berauscht – fühlt, hat vermutlich vieles falsch gemacht. Es liegt in der Natur der Sache, dass gemeinsames (freies) Tanzen eine euphorische Wirkung auf die Menschen hat.

Dennoch: besonders Frauen*, die im Ausgang nicht von Schnapsleichen begrabscht oder belästigt werden wollen, finden im Wandellust Zuflucht und eine willkommene Alternative. Ecstatic Dance ist zudem ein hervorragendes Workout. Und auch Menschen, die nichts von Rauschmitteln halten, aber trotzdem mal so richtig abgehen wollen, werden bei Ecstatic Dance fündig. Für mich ist der regelmässige Event, trotz der rigorosen Regeln und der offensichtlichen Abneigung gegen Betäubungsmittel und Clubkultur, eine innovative Bereicherung für die Stadt. Deshalb ziehe ich sogar durchaus in Erwägung, das Ecstatic Dance Festival Ende Juli zu besuchen.

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