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Von Jessica Sigerist

Gründerin untamed.love

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1. Januar 2022 um 10:00

Aktualisiert 03.01.2022

Die Schöpfungsgeschichte

Für unsere Kolumnisten Jessica Sigerist war das Wochenbett eine Zeit biblischen Ausmasses. Hier beschreibt sie warum.

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Illustration: Artemisia Astolfi

Am ersten Tag erschuf ich das Kind. Besser gesagt an den ersten zwei Tagen, denn bis das Kind da war, dauerte es über dreissig Stunden. Gott schuf in sechs Tagen die Erde, ich hingegen schuf einen kleinen Gott. Ich sah das Kind und ich sah, dass es gut war. Ich beschloss nicht am siebten Tage nur zu ruhen, sondern deren sieben. Der Volksmund besagt, dass nach der Geburt sieben Tage im Bett, sieben Tage auf dem Bett und sieben Tage um das Bett herum verbracht werden sollen.

Ich lache und lache und presse meine Hände auf die Narbe am Bauch, aus Angst vor Lachen und Liebe platzen zu müssen.

Jessica Sigerist

Die sieben fetten Tage

Die erste Woche des Wochenbetts ist ungelogen die glücklichste Zeit meines Lebens. Vergleichbar am ehesten mit dem Festival, wo ich vor Jahren einmal viel zu viel MDMA genommen habe. Im Rausche der körpereignen Drogen verschwimmen Tage und Nächte. Das Kind, der andere Elternteil und ich wachen und schlafen in einem Zustand absoluter Glückseligkeit. Ich habe vieles über das Wochenbett gehört, wie schön es sei und wie anstrengend, viel Liebe und wenig Schlaf. Stimmt alles, doch keine:r hat mir erzählt, wie unglaublich lustig es ist. Neugeborene sind total komisch. Sie schneiden die amüsantesten Gesichter. Unseres sieht wahlweise aus wie ein älterer schwuler Herr, eine wilde Seefahrerin oder ein frisch geschlüpfter Dinosaurier. Ausserdem sind Neugeborene ziemlich hilflos, was bedeutet, dass man ihnen alle möglichen Gegenstände auf den Kopf legen kann, was den Spass noch vergrössert. Die ersten paar Mal, als der jeweils andere Elternteil unerwartet von einer der zahlreichen Körperflüssigkeiten des Kindes getroffen wird, halten wir das auf unserem Hormon-Trip für pures Comedygold. Zugegebenermassen ein Spass, der sich ziemlich schnell abnutzt. Doch nicht in den ersten sieben Tagen. Ich lache und lache und presse meine Hände auf die Narbe am Bauch, aus Angst vor Lachen und Liebe platzen zu müssen.

Das Land wo Milch und Schweiss fliesst

Drei Tage nach dem Kind kommt die Milch. Sie kommt in Tropfen, in Rinnsalen, in Bächen und schliesslich in Fluten. Sie tropft und spritzt und überschwemmt BHs, Bettlaken und mein Bewusstsein. Stillen geschieht nicht nebenher, Stillen ist Vollzeitbeschäftigung. Stillen strukturiert den Tag, besetzt all meine Gedanken, ist körperliche Arbeit. Stillen ist alles andere als still. Das Kind grunzt und schmatzt, es würgt und gurgelt. Kleine Finger mit scharfen Nägeln, die sich unter Anstrengung in meine Brüste bohren. Wir schwitzen beide. Das Kind ist meine Arche in dieser Milchflut. Es leert meine schmerzenden Brüste. So wie es die Milch braucht, brauche ich das Kind, das sie trinkt. Wir sind eine Symbiose. Nach getaner Arbeit fällt das Kind von der Brust wie ein:e Betrunkene:r vom Barhocker. Es stöhnt wohlig und aus seinen Mundwinkel läuft Milch. Es gibt kein Kleidungsstück und keine Decke in diesem Haushalt ohne Milchflecken. Irgendjemand kommt vorbei und wäscht während ich stille. Irgendjemand kommt vorbei und kocht während ich stille. Irgendjemand wechselt dem Kind die Windeln, während ich mich vom Stillen erhole.

Die sieben mageren Tage


 Das Kind wird dicker und ich dünner, mein Körper steckt jeden Nährstoff in die Milch, wertet das Überleben des Kindes wichtiger als sein eigenes. Der Hormonflash klingt langsam ab. Zum ersten Mal seit der Schöpfung hebe ich meinen Blick, der bisher auf das Kind gerichtet war und sehe wieder mich selber. Einen Menschen, der mal ein eigenes Leben und eigene Bedürfnisse hatte. Mir fällt ein, dass ich eigentlich gerne wieder einmal dann pinkeln möchte, wenn ich muss und dann Essen möchte wenn ich Hunger habe. Dass ich gerne wieder einmal fünf Minuten mit meinem Körper hätte, ohne einen anderen kleinen Körper, der daran klebt. Ich beginne um meine Bedürfnisse zu kämpfen, versuche zu kriegen was ich will, was ich vermeintlich brauche. Wir verlieren unsere Symbiose. Ich bin jede Sekunde des Tages gestresst, weil jede Sekunde eine Sekunde ist, in der ich ein Bedürfnis nicht gestillt bekomme. Denn gestillt wird nach wie vor hauptsächlich das Kind. Nach sieben Tages des Kampfes gebe ich auf. Ich beschliesse, kein Mensch mit Bedürfnissen mehr zu sein. Sondern vielmehr ein Roboter aus Fleisch und Milch, dessen einzige Funktion es ist, das Überleben und Wohlbefinden des Kindes zu sichern.

Das Ende der Sintflut

Von da an wird alles einfacher. Wer nichts begehrt, dessen Verlangen kann nur übertroffen werden. Ich habe ein Kind erschaffen und mit ihm begann eine neue Zeitrechnung. Fünf Minuten alleine auf dem Balkon in der Sonne rechnen sich als unendliche Freiheit. Die Welt ist bei der Geburt einen Augenblick still gestanden und langsam beginnt sie sich wieder zu drehen. Langsam, Schritt für Schritt kommen kleine und unendliche Freiheiten in mein Leben zurück. Irgendwann teilt sich das Meer aus Blut, Milch, Schweiss und Tränen. Auf der anderen Seite wird Festland sichtbar. Das Kind isst zum ersten Mal feste Nahrung und geht zum ersten Mal in die Kita. Auch ich mache vieles wieder zum ersten Mal. Das erste Mal alleine weggehen. Das erste Mal Zeit zum Schreiben finden. Die erste Zigarette. Die Genesis ist abgeschlossen. Das Kind, der andere Elternteil und ich, wir schlagen die erste Seite des nächsten Buches auf.

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Jessica Sigerist

Kolumnistin Jessica Sigerist ist Zürich geboren und aufgewachsen. Sie wusste schon früh, woher die Babys kommen. In ihrer Jugend sammelte sie schöne Notizbücher, alte Kinokarten und Zungenküsse. Sie studierte Ethnologie (halbmotiviert) und das Nachtleben Zürichs (intensiv). Nach vielen Jahren in der Sozialen Arbeit hatte sie die Nase voll, nicht vom Sozialen, aber von der Arbeit. Sie packte wenig Dinge und viel Liebe in einen alten Fiat Panda und reiste kreuz und quer durch die Welt. Sie ritt auf einem Yak über das Pamirgebirge, überquerte das kaspische Meer in einem Kargoschiff und blieb im Dschungel von Sierra Leone im Schlamm stecken.

Auf ihren Reisen von Zürich nach Vladivostock, von Tokio nach Isla de Mujeres, von Tanger nach Kapstadt lernte sie, dass alle Menschen eigentlich dasselbe wollen und dass die Welt den Mutigen gehört. Wieder zurück beschloss sie, selbst mutig zu sein und gründete den ersten queer-feministischen Sexshop der Schweiz. Seither beglückt sie Menschen mit Sex Toys und macht lustige Internetvideos zu Analsex, Gleitmittel und Masturbation. Jessica liebt genderneutrale Sex Toys, Sonne auf nackter Haut und die Verbindung von Politik und Sexualität. Sie ist queer und glaubt, dass Liebe grösser wird, wenn man sie teilt. Mit ihrem Partner und ihrem Kind lebt sie in Zürich.

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