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2. Dezember 2020 um 10:33

«Die Nacht kommt, egal ob mit oder ohne Schlafplatz» – Jonny lebte zwei Jahre auf Zürichs Strassen

Jonny lebte zwei Jahre lang ohne festen Wohnsitz. Ein Portrait über einen ungewöhnlichen Wohnstil – fern von der gewohnten Wohn-Konformität und Alltagsroutinen.

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Jonny (Foto: Elio Donauer)

Wenn ich an einen Menschen ohne festen Wohnsitz denke, dann kommt mir als Erstes jemand in zerlumpten Kleidern, mit zerzaustem Haar und einem etwas strengeren Körpergeruch in den Sinn. Jonny widerspricht dieser klischeehaften Vorstellung. Als ich den 26-Jährigen am Zürcher Hauptbahnhof treffe, trägt er eine schwarze Winterjacke, Sneakers von Vans und ein Cap, das seine frisch geschnittenen Haare verdeckt. Jonny, der junge, gepflegte Mann mit einem festen Gastro-Job. Jonny, der zwei Jahre lang ohne festen Wohnsitz lebte. «Nachdem ich von meinem Elternhaus auszog, wohnte ich in einer WG mit einem Kollegen. Da das Zusammenleben auf Dauer nicht funktionierte, beschlossen wir, die Wohngemeinschaft aufzulösen», erzählt Jonny. Danach stellten sich ihm einige neue Optionen zur Verfügung: Eine neue WG gründen, zu Freund*innen ziehen, verreisen oder aber wieder ins Elternhaus zurück gehen. «Letzteres war allerdings keine Option für mich. Zudem war mir wichtig, nicht viel Geld fürs Wohnen auszugeben», so Jonny. Er wusste lediglich, dass er in Zürich bleiben wollte. In der Stadt, wo Freund*innen und Beruf zuhause sind.

Hohe Wohnungskosten in der Stadt

Wir steigen beim Sihlquai ins Tram Richtung Limmatplatz. Dort möchte mir Jonny zeigen, wo er gelegentlich geschlafen hat. Seine stahlblauen Augen sind sehr aufmerksam. Sein Wesen kritisch und hinterfragend. «Es ist schwer, eine Wohnung oder ein Zimmer in Zürich zu finden, das bezahlbar ist.» Also hat Jonny sich dazu entschlossen, sein Hab und Gut im Keller seiner Tante in Winterthur zu lagern. Er wollte nur noch aus einem grossen Rucksack leben. Doch seine Alltags-Gegenstände ständig darin mitzutragen wurde mit der Zeit etwas umständlich. Also suchte Jonny nach einer Lösung: «In der Stadt gibt es Boxen, – zwischen Stauffacher und Sihlpost gelegen – in denen man Dinge verstauen kann. Also mietete ich eine solche, und trug so stets nur das Nötigste mit mir mit.»

Die schönsten Sonnenaufgänge inmitten der Stadt

Die stillgelegte Eisenbahnbrücke, die über die Limmat und den Lettenkanal führt, war Jonnys Lieblings-Schlafplatz. Als wir auf der rechten Flussuferseite stehen, dort, wo ein hippes Café gelbe Tische für seine Gäste aufstellt, demonstriert Jonny, wie er jeweils zu seinem Schlafplatz gelangte. «Von dort oben habe ich jeweils die schönsten Sonnenaufgänge erlebt», erzählt er. Nach einigen Nächten war jedoch Schluss damit: «Auf einmal ging inmitten der Nacht das Licht unter der Brücke an. Ab diesem Zeitpunkt brannte es jede Nacht.» An Schlaf war daher nicht mehr zu denken. «Wenn man sich bewusst dazu entscheidet, draussen zu schlafen, dann sucht man sich einen Platz, an dem man geschützt ist – insbesondere vor anderen Menschen. Das bringt Ruhe und Sicherheit. Bei den Obdachlosen ist das eher umgekehrt: Sie übernachten dort, wo sich andere Menschen aufhalten.»

«Die Nacht kommt – egal ob mit oder ohne Schlafplatz»

Kurz vor der Kornhausbrücke setzen wir uns draussen in eine Bar. Über die Stadt zieht langsam die Nacht. Jonny nippt an seinem Panaché. «Wenn ich jeweils vor dem Eindunkeln keinen geeigneten Schlafplatz fand, war das sehr mühsam. Die Nacht kommt – egal ob mit oder ohne Schlafplatz.» Dieser Lebensstil macht alltägliche Routinen schier unmöglich. Und: Organisation sei das A und O. Trotz den Umständen, die durch sein Leben ohne festen Wohnsitz entstanden sind, fühlte er sich frei und unabhängig. «Zwei Jahre lang habe ich draussen geschlafen. Unter Fussgängerbrücken, in leeren Fabrikgebäuden, auf hohen Dächern und an Orten, die ich besser nicht verrate», sagt der gelernte Koch.

Teilweise übernachtete er auch bei Freunden, die ihm einen Schlafplatz anboten. Dass er dabei niemandem zur Last fiel, war ihm besonders wichtig. Fragt man Jonny, was er Menschen antwortet, die jetzt einzuwenden haben, dass er ja trotzdem abhängig von Freunden war, meint er: «Es ging mir nie darum, diesen Wohnstil radikal auszuführen. Klar, habe ich ein Übernachtungs-Angebot nicht ausgeschlagen. Das eine schliesst das andere nicht aus.» Wurde er für seinen Lebensstil verurteilt? «Es gab sicherlich Menschen, die mich für meinen Lebensstil verurteilten und kein Verständnis dafür hatten. Doch ich tat das für mich und wollte mich auch nicht masslos exponieren.» Dass man in unserer Gesellschaft entweder obdachlos und somit am Rande der Gesellschaft leben oder ein «normales» Leben mit Strukturen führen könne, störe ihn. «Alles ist schwarz oder weiss – es gibt keine Graubereiche.»

Wie ideales Wohnen für Jonny aussieht

Mittlerweile wohnt Jonny in einer 5er-WG in Witikon. Noch einen Winter draussen übernachten, traute er sich nicht zu. Einfamilienhaus, WG-Leben und dann ein Leben ohne Dach über den Kopf. Wie sieht ideales Wohnen für Jonny aus? «Ich habe keine grossen Ansprüche, die Hauptsache ist, dass ich einen ungestörten Rückzugsort habe.» Die hohen Wohnungsmieten in dieser Stadt stören ihn am meisten. «Wir müssen so viel Geld für grundlegende Dinge ausgeben wie beispielsweise Wohnen und Gesundheitsvorsorge. Für Menschen mit niedrigem Einkommen ist es kaum möglich, ein Leben ohne finanziellen Druck zu führen. Ein Grrundeinkommen würde diesem Durck bestimmt entgegenwirken.»

Fokusmonat «Wohnen» 2020
Dieser Artikel ist im Rahmen unseres Fokusmonats «Wohnen» entstanden. Neben dem hier veröffentlichten Bericht, sammeln wir mit einem Crowdfunding momentan Geld, um herauszufinden wem Zürich gehört. Zudem organisieren wir auch dieses Mal eine Pitch-Night, Podien und machen mit einer Stadtforscherin einen Spaziergang durch die Weststrasse.

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