«Meiner Tochter wurden aufgrund ihrer Hautfarbe explizite Fragen zu ihrer Herkunft und Familie gestellt» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Sonya Jamil

Praktikantin Redaktion

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22. Januar 2021 um 09:00

«Meiner Tochter wurden aufgrund ihrer Hautfarbe explizite Fragen zu ihrer Herkunft und Familie gestellt»

Wer noch keine Lehrstelle hat, für den*die wird es nun höchste Zeit, sich eine Zusage für den Sommer zu sichern. Tsüri.ch über eine aufregende Zeit voller Stolpersteine.

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Foto: Unsplash

Welcher Beruf passt zu mir? Wie und wo soll ich mich bewerben? Fragen über Fragen, die sich in den Köpfen ratloser Teenager formen können. Die Schulen, Beratungszentren wie auch die Familien können die jungen Erwachsenen unterstützend durch den Prozess begleiten, den Weg ins Berufsleben müssen sie aber doch ein Stück weit alleine gehen.

Neu im Berufsleben in Zeiten von Corona

Diejenigen, die 2020 ihre Ausbildung abgeschlossen haben, verdanken Corona vermutlich die eine oder andere gestrichene Abschlussprüfung. Für Neueinsteiger*innen war jedoch eine Folge der Pandemie, dass einige Schnupperlehren wegfielen. Die Lehrstellenbörse Yousty schafft Abhilfe; auf deren Webseite können die Schüler*innen online schnuppern, indem sie via Video einen Einblick in den Berufsalltag des potentiellen Lehrbetriebes erhalten und sich bei Bedarf gleich bewerben können.

Einer, der während der herausfordernden Corona-Krise eine Lehrstelle gefunden hat, ist der 18-jährige Ruben. Nach dem 10. Schuljahr begann der gebürtige Portugiese im Sommer 2020 eine Ausbildung als Anlage- und Apparatebauer. «Anfangs war es schwierig, acht Stunden lang eine Maske tragen zu müssen», erzählt er. Mittlerweile hat er sich jedoch daran gewöhnt. Er fühlt sich in seiner Lehrfirma sehr wohl; bei Fragen zum Berufsalltag weiss er, dass er sich ungeniert an seinen Berufsbildner und die Arbeitskolleg*innen wenden kann. Der Weg zur geeigneten Lehrstelle war jedoch steinig: Ruben schrieb insgesamt über 150 Bewerbungen. Fast hätte er die Motivation verloren, dann hat es doch geklappt und er ist froh, nicht aufgegeben zu haben. Von seiner Familie wurde er bei der Lehrstellensuche emotional unterstützt.

Gegen Diskriminierung mit NCBI

Es gehe im Grunde darum, wie viele Bewerbungen man bereit sei zu versenden, betont Ron Halbright, Co-Leiter des National Coalition Building Institute, kurz NCBI. Das sogenannte Brückenbauer-Institut, dessen Konzept ursprünglich aus der USA kommt, hat es sich zum Ziel gemacht, hier in der Schweiz Vorurteilen gegen Menschen und somit Diskrimination entgegenzuwirken. Sie arbeiten projektbasiert; in Form von Workshops helfen sie unter anderem Jugendlichen unterschiedlichster Herkunft, sich in der Lehrstellensuche und später im Berufsalltag zu behaupten. So lernen die Jugendlichen unter anderem, wie sie beim Bewerbungsgespräch möglichst locker und souverän auftreten können.

Mehr Bewerbungen aufgrund Herkunft

Eine Lehrstellenzusage zu ergattern ist jedoch nicht ganz leicht, besonders für Menschen mit MIgrationshintergrund. The National Center of Competence in Research (NCCR) hat sich genau mit diesem Thema auseinandergesetzt. Laut ihrer Studie von 2003 müssen in der Schweiz Menschen mit Migrationshintergrund dreimal mehr Bewerbungen schicken als gebürtige Schweizer*innen. Das fanden sie durch einen sogenannten Correspondence-Test heraus: Innerhalb eines Jahres wurden auf 800 öffentlich zugängliche Stellenausschreibungen jeweils zwei fiktive Bewerbungen eingereicht.

Die fiktiven Bewerber*innen glichen sich in ihren Qualifikationen, unterschieden sich aber natürlich in ihrer Herkunft. Um zum Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden, mussten die Bewerber*innen mit ausländischem Namen 30 Prozent mehr Bewerbungen einsenden; bei einem kosovarischen Namen sogar 40 Prozent. Bei Bewerbungen im Detailhandel mussten 70 Prozent mehr Bewerbungen eingereicht werden, wenn der Name deutscher oder französischer Abstammung war. Die Studie stellte jedoch keinen signifikanten Unterschied in der Diskrimination zwischen Mann und Frau fest und auch ein höherer Bildungsabschluss hatte nicht zwingend einen positiven Einfluss auf das diskriminierende Verhalten, fand die Universität Basel zu einem späteren Zeitpunkt heraus. Auch wenn die Studie von NCCR schon länger her sei, wäre sie immer noch relevant, bestärkt Ron Halbright.

Diskriminierung im Alltag

«Bei einem Bewerbungsgespräch wurden meiner 14-jährigen Tochter aufgrund ihres Namens und ihrer Hautfarbe explizite Fragen zu ihrer Herkunft und Familie gestellt», erzählt eine Mutter Tsüri.ch. Das habe ihre Tochter aus dem Konzept gebracht. Weiter sei sie bei einer einer anderen Firma beim Schnuppertag aufgrund der Maskenpflicht gleich angeschrien worden. Die Jugendliche habe sich den ganzen Tag im Betrieb unwillkommen gefühlt. Als sie schliesslich telefonisch eine Zusage für eine KV-Stelle bekam, wollte sie das zunächst mit ihrer Mutter besprechen und versprach, sich am nächsten Tag beim Lehrbetrieb zu melden. Der Betrieb schien ihr das Zögern jedoch Übel genommen zu haben und zog deshalb die Lehrstellenzusage wieder zurück. Da kam sofort der Beschützerinstinkt der Mutter auf; sogleich setzte sie sich für ihre Tochter ein. Die Telefonate mit den Lehrbetrieben und Diskriminierungsfachstellen waren jedoch vergeblich. «Ich hätte mir gewünscht, dass es meine Kinder leichter gehabt hätten», sagt die Mutter. Schliesslich sei sie selbst schon in der Schweiz aufgewachsen. Mittlerweile hat die Tochter glücklicherweise eine Lehrstellenzusage für den Sommer erhalten.

«Woher kommst du?» gekonnt beantworten

Es sei sehr schwierig, Diskrimination im Berufsalltag zu belegen, geschweige denn einzuklagen, meint Ron Halbright. Die Frage nach der Herkunft sei jedoch beim Bewerbungsgespräch gebräuchlich. Nehmen wir als Beispiel den Familiennamen Jamil: Auf die Frage nach der Herkunft könnte man laut Halbright beim Gespräch gekonnt antworten mit: «Ich komme ursprünglich aus dem Irak. Waren Sie dort schon einmal oder kennen Sie Leute aus dem Irak?» Diese spielerische Art und Weise mit der Herkunftsfrage umzugehen brauche aber Selbstbewusstsein und Übung. «Integration ist ein Kampf, den man kämpfen muss!», findet Halbright. Sollte man die eine Lehrstelle nicht kriegen, darf man den Kopf nicht hängen lassen und sich eine Stelle suchen, in der man geschätzt und respektiert wird. «Schlussendlich braucht es nur eine Zusage», meint Halbright ermutigend.

Mögliche Massnahmen gegen Diskriminierung

Um der Diskriminierung bei der Arbeitssuche entgegenzuwirken, wollte man vor einigen Jahren eine Namensänderung bei der Einschweizerung einführen oder das Konzept der anonymen Bewerbung zu lancieren; die Idee der Namensänderung wurde damals von der Regierung verworfen, um die Gesellschaft bezüglich ausländischen Namen zu sensibilisieren. Und auch das Projekt des kaufmännischen Verbandes zu der anonymen Bewerbung stoss zwar auf Interesse wurde jedoch nicht weiterverfolgt. Für eine faire Lehrlingsselektion setzt sich unter anderem auch die Plattform Zukunft statt Herkunft ein. Dies mit Checklisten zum Bewerbungsgespräch und der Auflistung verschiedener Anlaufstellen.

Integration ist ein Kampf, den man kämpfen muss!

Ron Halbright

Die Rolle der Eltern bei der Lehrstellensuche

Auf Anfrage beim Laufbahnzentrum Zürich meint Abteilungsleiter Anskar Roth, dass dem LBZ keine systematische Diskriminierung bekannt sei. Das heisst es sei kein Alltag, sondern man gehe von diskriminierenden Einzelfällen aus. Bei der Lehrstellensuche ist die Unterstützung der Familie von grosser Bedeutung. So können diese laut Roth ihre Hilfe beim Verfassen der Bewerbungen anbieten und die Jugendlichen auf das Bewerbungsgespräch vorbereiten. «Man sollte ihnen Mut machen und ihnen klar machen, dass sie gut sind so wie sie sind», denkt Roth. Sich für einen Lehrberuf zu entscheiden sei zwar wichtig, aber man könne sich später im Leben immer noch weiterbilden und damit weiterentwickeln.

Auch Ron Halbright findet es wichtig, dass sich die Eltern für ihren Nachwuchs einsetzen und ihnen im Lehrstellenprozess helfen, wie es zum Beispiel die oben beschriebene Mutter für ihre Tochter getan hat. Jedoch dürfe man nicht vergessen, dass es Migranteneltern nicht selten am nötigen Know-How und an Sprachkenntnissen fehlt, um ihre Kinder gebührend zu unterstützen.

Bewerbungen ab der 8. Klasse

2019 begannen im Kanton Zürich über 11’ 000 Männer und Frauen ihre berufliche Grundbildung EFZ. Wer eine Lehrstelle sucht, der*die bewirbt sich in der Regel ab der dritten Oberstufe. Die Schweizerische Berufsbildungsämter-Konferenz (SBBK) forderte jedoch im Dezember 2020, dass sich die Schüler*innen schon ab der zweiten Oberstufe um eine Lehrstelle kümmern sollten. Folglich sollte die staatliche Lehrstellenplattform Lena die Stellen früher aufschalten, berichtet das SRF Regionaljournal. Die SBBK ist der Meinung, dass die Lehrstellensuche schneller voran gehe als früher; die Schüler*innen würden sich schon in der zweiten Sekundarklasse nach Stellen umsehen. Man gehe damit auf die Wünsche der Lehrbetriebe ein, zudem würden private Stellenportale gegen Geld die Lehrstellen bereits bis zu zwei Jahre vor Lehrstellenbeginn ausschreiben.

Der Zürcher Sekundarlehrer Verband ist jedoch «entrüstet» über diese Forderung. Die Schüler*innen seien in der zweiten Oberstufe noch nicht zu dieser Entscheidung bereit und es würde nur den Druck steigern. Schon heute wären sie am Anschlag und wüssten nicht, was sie wollen. Auch den Lehrbetrieben würde es wenn dann nur schaden, da sie vermutlich mit mehr Lehrabbrüchen rechnen müssten, so Samuel Zingg vom Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz. Schon heute wechselt fast jede*r dritte Lernende den Ausbildungsbetrieb. Die Forderung widerspreche ausserdem dem Lehrplan 21, meint Zingg.

Die Top 10 der Lehrstellen

Die Bildungsstatistik verzeichnete im Dezember 2020 1’900 offene Lehrstellen in der Stadt Zürich. Laut Yousty, welche jedes Jahr ein Ranking der zehn beliebtesten Lehrberufe aufstellt, lässt sich auch 2020 der Beruf des Kaufmann*frau EFZ nicht vom ersten Platz verdrängen; gefolgt von Fachmann*frau Betreuung (FaBe) EFZ und der Lehre als Informatiker*in. Den letzten Platz belegt der Beruf der Pharma-Assistent*in EFZ. Trotz der Corona-Krise halten die Jugendlichen an ihren Präferenzen fest, schrieb die Limmattalerzeitung schon im Sommer 2020.

Das sind gute Berufsbildner*innen

Im Gespräch mit Tsüri.ch bemängelte die obenerwähnte Mutter auch die Kompetenz der jeweiligen Berufs- und Praxisbildner*innen. Diese seien teils gerade frisch ausgelernt und es fehle ihnen an nötiger Reife. Das Mittelschul- und Berufsbildungsamt ist jedoch auf Anfrage von Tsüri.ch der Meinung, dass das Alter der Berufsbildner*innen keine ausschlaggebende Rolle spiele. Im Idealfall besitzen sie mehrere Jahre Berufserfahrung und ihre fachlichen Kenntnisse sollten der Bildungsverordnung entsprechen. In der Arbeit mit den Jugendlichen brauche es ein Flair für Didaktik, Freude am Vermitteln von Wissen, Geduld, Respekt, Wertschätzung und Humor.

Mittelschule statt Lehre

«In der Schweiz kann man alles erreichen» stand vor einiger Zeit in der NZZ. Mit dieser Aussage porträtierten sie fünf Menschen, die von ihrem Leben während und nach der Lehre erzählen. Und tatsächlich; durch Mittelschule, Fachhochschule oder Universität kann man schlussendlich wirklich woanders im Leben stehen. So können zum Beispiel aus Bibliothekar*innen Journalist*innen oder Übersetzer*innen werden. Es lohnt sich durchaus, wenn es bei der Lehrstellensuche nicht klappt, Alternativen zu suchen. Eine Möglichkeit könnten Mittelschulen sein, wie zum Beispiel die Fachmittelschule FMS. Die im 2020 herausgegebene Publikation der Bildungsdirektion Kanton Zürich verzeichnete für das Jahr 2019 insgesamt 883 Schüler*innen in den vier FMS-Klassen. Ausländer*innen machen laut dem Bericht an der FMS 10 Prozent des Anteils aus. Nach ausgiebiger aber vergeblicher Lehrstellensuche entschied sich auch der 17-jährige Schüler Marco für die Fachmittelschule und ist dankbar um diese Möglichkeit.

Der Weg zur passenden Lehrstelle ist voller Höhen und Tiefen. Wer eine Stelle gefunden hat, der*die kann mächtig stolz auf sich sein. Wer weiss, vielleicht übt man Jahre später noch den gleichen Beruf aus und erzählt den Frischlingen im Betrieb von den guten alten Zeiten. Und auch wenn die Lehre nicht das Gelbe vom Ei ist: Nicht vergessen, dass in der Schweiz viele Wege nach Rom führen.

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