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13. September 2018 um 11:50

Die Grenzen der direkten Demokratie oder: Wir sind alle einmal Limmattaler*innen

Eine Mehrheit der Limmattaler*innen will kein Tram, trotzdem stimmen wir darüber ab. Doch einem geschenkten Gaul, schaut man nicht ins Maul. Wenn unsere Demokratie dazu verleitet, Minderheiten gefügig zu machen.

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«Braucht ihr eine Stadtbahn, liebe Limmattaler*innen?», fragt der Kanton. «Nein Danke», antwortet die Mehrheit der Limmattaler*innen. «Okay, vielen Dank für eure Antwort. Wir bauen sie übrigens trotzdem!» Das war 2015: Das Stimmvolk des Kanton Zürichs stimmte dem Bau der Limmattalbahn zu. Die direkt betroffenen Gemeinden lehnte sie jedoch deutlich ab. Aber manchmal muss man die Menschen zu ihrem Glück zwingen, ja gar gefügig machen. Denn eine Mehrheit hat das Nein einer Minderheit nicht zu akzeptieren – nicht in einer direkten Demokratie. Trotzdem versuchen die Gegner*innen der Limmattalbahn per Volksinitiative am 23. September, den Weiterbau dieser zu verhindern.

Das Votum der Limmattalbahn-Gegner*innen im Abstimmungsbüchlein klingt eher wie ein Bettelbrief als ein Plädoyer: «Wir haben eine Bitte an Sie, liebe Stimmberechtigte. Zwingen Sie uns diese Bahn nicht auf!» Eine Mehrheit im Bezirk Dietikon will keine Stadtbahn. Auto, Zug und Bus reichen. Doch die kantonale Mehrheit hat immer Recht. Viele Menschen wissen mehr als wenige Menschen. So zumindest die Logik. Davon muss man ausgehen als demokratiegläubige*r Bürger*in – Selbstbestimmungsrecht hin oder her.

Schwamendingen gefügig machen

Dies hat in der Vergangenheit auch immer gut funktioniert. Nähmen sich die Limmattaler*innen ein Vorbild an Schwamendingen, könnten sie sich den Aufruhr ersparen. Dort war der*die Zwingherr*in zwar nicht der Kanton, sondern das Stimmvolk der Stadt Zürich. So haben 1978 die Stadtzürcher*innen ihrem Kreis 12 auch die Erweiterung der Tramlinien 7 und 9 aufgezwungen (vom Milchbuck bis Stettbach und Hirzenbach), die heute wohl kaum mehr wegzudenken wäre. Man gewöhnt sich an ein Tram, beginnt die Vorteile zu geniessen.

Als Stadtzürcher*in mag man darüber lachen, wenn eine Agglo-Region ein Geschenk wie die Limmattalbahn ablehnt. Vielleicht ist man als Städter*in gar froh, wenn der restliche Kanton für ein Mal politisch auf derselben Seite steht.

Kanton macht die Stadt gefügig

Denn kaum ein Jahr ist es her, dass der Kanton sich bei der Stadt für ihre autofeindliche Verkehrspolitik revanchiert hat. Während die Stadt Zürich immer mehr Tempo-30-Zonen angestrebt hat, konnte der Kanton die Anti-Stau-Initiative mit über 60 Prozent durchbringen und so sicherstellen, dass das Auto auf kantonaler Ebene nicht an Bedeutung verliert. Einzig dagegen sind eine deutliche Mehrheit der Städte Zürich und Winterthur. Doch ist das weiter verwunderlich?

Denn genau hier kann eine bürgerliche Mehrheit im Kanton künftig mehr Einfluss auf Staatsstrassen ausüben. Dabei eine klare Priorisierung des Autos gegenüber den anderen Verkehrsträgern durchsetzen. Manuel Sahli AL-Kantonsrat bringt es gegenüber dem Tages-Anzeiger auf den Punkt: «Was die Bürgerlichen wirklich wollen, ist nicht eine Anti-Stau-, sondern eine Anti-Städte-Initiative».

Damit hat eine bürgerliche Mehrheit im Kanton eine Art gefunden, um die Stadt auf demokratische Weise gefügig zu machen. Und davon wird sie weiterhin Gebrauch machen. So versucht beispielsweise die SVP, den Entscheid des ehemaligen Sicherheitsvorstehers Richard Wolff, dass Nationalitäten von der Polizei nicht mehr genannt werden, rückgängig zu machen. Da die SVP in der Stadt verkümmert ist, greift man deshalb auf die Kantonale Ebene zurück. Die Unterschriften für die Nationalitäten-Initiative sind somit auch schnell gefunden.

Man findet für alles eine Mehrheit

Für jede Ansicht, für jede Haltung und jede Initiative findet man eine Mehrheit. Die Frage ist nur wo. Will die Stadt eine Tramlinie durch Schwamendingen bauen, befragt sie nicht den Kreis 12, die direkt Betroffenen, sondern die gesamte Stadt. Will der Kanton selbiges, befragt er nicht den Bezirk Dietikon, die direkt Betroffenen, sondern den ganzen Kanton. Will die SVP in der Stadt etwas verändern, wendet sie sich an den Kanton. Die SVP agiert dabei klar nach dem Motto: «Befrage nur jene, welche sicher Ja sagen». Dies führt unweigerlich dazu, dass nicht Betroffene über direkt Betroffene bestimmen – anders gesagt: eine Tyrannei der Mehrheit.

Für Daniel Kübler, der Professor für Demokratieforschung und Public Governance am Institut für Politikwissenschaften Zürich ist, geht es um die Frage der Betroffenheit, wie er im Interview mit Tsüri.ch erläutert: «Wenn die Gemeinde ein Projekt finanziert, sind alle Steuerzahler*innen davon betroffen. In diesem Sinne finde ich es korrekt, wenn nicht nur die unmittelbare Nachbarschaft über ein Projekt abstimmen darf.» Der Kanton finanziert die Limmattalbahn und ist somit gesamtheitlich betroffen.

Das hat auch seine Legitimation. Wie sonst sollten wir beispielsweise Kehrrichtverbrennungsanlagen errichten, wenn diese niemand in seinem Quartier haben will? Wie sollen wir Atom-Endlager schaffen, wenn das keine Gemeinde auf sich nehmen will?

Wer zahlt, der bestimmt

Doch legitimiert man die Betroffenheit durch die Finanzierung, wird die direkte Demokratie zu einer Frage des Geldes. Wer zahlt, der bestimmt. Die Selbstbestimmung derjenigen, die effektiv im Alltag davon betroffen sind, kann nicht gewährleistet werden. Und durch die Finanzierung als Betroffen zu gelten, mag bei Bauvorhaben zur Mitbestimmung legitimieren. Geht es aber beispielsweise um das überstimmen einer kleinen religiösen Minderheit, ist es schlicht eine Tyrannei der Mehrheit.

So hat sie es beispielsweise vor zehn Jahren mit einer Eidgenössischen Volksinitiative geschafft, ein Verbot für Minarette in der Bundesverfassung zu verewigen. In den Gemeinden Zürich, Genf und Winterthur, in denen tatsächlich Minarette stehen, hätten sie nie eine Mehrheit gefunden (einzig in Wangen bei Olten). Also sucht man die Mehrheit auf höheren Ebenen. Dabei wird unsere direktdemokratisches, föderales System zum Spielball politischer Strateg*innen, wie jenen der SVP.

Der Feind der Partizipation: Die Ohnmacht

Doch was zweifellos ein strategisches Meisterwerk ist, schadet nicht zuletzt unserem Verständnis von Demokratie. Suchen die politischen Akteure ihre Mehrheiten nur noch auf den höheren Ebenen (Bund und Kantone), um über die kleineren Gemeinschaften zu bestimmen, verfällt der Rest in Ohnmacht. Und in einem System, das sich auf aktive Partizipation beruft, ist Ohnmacht der grösste Feind.

In den vergangenen Jahren musste man sich als Städter*in oftmals fragen, weshalb man sich überhaupt noch für die kantonale und eidgenössische Politik interessieren soll. Zu oft bestimmte das Land über die Stadt. Zu oft war man die Minderheit – und dazu keine kleine Minderheit. Man empört sich, verfällt in Ohnmacht. Weshalb gehen wir überhaupt noch an die Urne? Von der Anti-Stau-, über die Nationalitäten- bis hin zur Minarett-Initiative. Genau in dieser Ohnmacht wird sich das Limmattal wohl wiederfinden nach der nächsten Abstimmung.

Dies müsste unsere Politik zu verhindern wissen. Vielleicht müssten solche Abstimmungen anders aufgegleist werden. Vielleicht ist unser föderales System zu gross gedacht und es bräuchte mehr Autonomie im Kleinen; sodass Betroffene über Selbstbestimmung verfügen; sodass das Limmattal selbst über seine Verkehrspolitik abstimmen kann. Die Demokratie ist nicht fertig und darf durchaus auch weiter gedacht werden.

Mehr Empathie für mehr Demokratie

Eine direkte Demokratie sollte das Zusammenleben erleichtern, Antworten auf die Frage «Wie wollen wir Leben» liefern. Und dabei nicht Minderheiten in Ohnmacht zurücklassen. Doch auch in einer direkten Demokratie gilt: Sie kann nur funktionieren, wenn wir an die anderen denken, mit viel Selbstverantwortung, Kenntnis der Sachlage und Empathie abstimmen.

Oder wie es Professor Kübler im Interview mit Tsüri.ch passend auf den Punkt bringt am Beispiel einer Abstimmung über einen Fussgänger*innenstreifen am anderen Ende des Dorfes: «Es geht doch darum, ob ich mir vorstellen kann, dass die Menschen dort einen Nutzen haben von diesem Fussgängerstreifen. Und wenn ich mir das vorstellen kann, kann ich mir darüber auch eine Meinung bilden und abstimmen.»

Titelbild: Limmattalbahn.ch

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