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Von Michael Schallschmidt

Praktikant Redaktion

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16. September 2021 um 11:07

Aktualisiert 26.01.2022

«Konsument:innen als auch Produzent:innen sind Marionetten der Detailhändler»

Wie sieht die Zukunft der Agrarpolitik aus? Was sollte sich an der staatlichen Unterstützung der Landwirtschaft ändern und wie können wir als Konsument:innen zu einer nachhaltigen Landwirtschaft beitragen? Über diese und weitere Fragen diskutieren vier Expert:innen während des Podiums «Wie weiter mit der Agrarpolitik?» auf dem Quartierhof Wynegg.

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Die diesjährige Podiumsdiskussion fand auf dem Quartierhoff Wynegg statt (Alle Fotos: Ladina Cavelti)

Die Schweizer Agrarpolitik ist momentan von umstrittenen Massnahmenplänen für sauberes Wasser, eines unterbrochenen Weiterentwicklungsprojekts namens «Agrarpolitik 22+» und zwei gescheiterten Agrar-Initiativen geprägt. Mit dieser Zusammenfassung der aktuellen Lage eröffnet Vanessa Caravina, Moderatorin des Podiums, die Diskussion. «Steckt die Landwirtschaft in einer Krise?», lautet die erste Frage, die Caravina in die Runde wirft.

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Von links nach rechts: Alexandra Gavilano, Ferdi Hodel, Vanessa Caravina, Jelena Filipovic, Patrick Dümmler.

«Wir müssen die Situation, in der wir uns befinden anders interpretieren», entgegnet Ferdi Hodel auf diese Frage. Der Agronom ist seit zwölf Jahren Präsident des Zürcher Bauernverbandes. Wenn Landwirtschaftsbetriebe Investitionen tätigen, dann würden diese für langfristige Projekte eingesetzt, erklärt Hodel. Die Bevölkerung entwickle sich jedoch schneller, sagt Hodel: «Fragen über Nachhaltigkeit und Nahrungsmittelproduktion, die vor zehn Jahren niemand gestellt hat, sind heute plötzlich ein Thema.»

Nicht schnell genug auf die veränderten Bedürfnisse der Bevölkerung reagieren zu können, bringe die Landwirtschaft damit in ein Dilemma, fügt Hodel hinzu. Die Landwirtschaft in der Schweiz sei sehr stark unter Druck, findet auch Patrick Dümmler. Als Forschungsleiter bei der Denkfabrik Avenir Suisse mit Schwerpunkt Agrar- und Umweltpolitik betrachtet er die Landwirtschaft aus einer wirtschaftlichen Perspektive.

«Nicht die Landwirtschaft, sondern die Schweizer Agrarpolitik befindet sich in einer Krise», sagt Dümmler weiter. Während sich die Politik nach dem zweiten Weltkrieg auf die übermässige Produktion konzentrierte, sehe sie sich nun mit ökologischen Problemen konfrontiert, an deren Lösung sie scheitere, sagt Dümmler.

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Es brauche mehr Dialog zwischen Produzent:innen und Konsumentinen findet Gavilano.

«Wir begehen immer wieder den Fehler, die Landwirt:innen für alle Probleme verantwortlich zu machen», findet Alexandra Gavilano. Die Natur- und Umweltwissenschaftlerin ist seit 2020 Projektleiterin bei der Greenpeace. Auch der Detailhandel und Zulieferer für Agrarbetriebe wie beispielsweise Syngenta hätten zusätzlichen Druck auf die Landwirtschaft aufgebaut, sagt Gavilano weiter. Die Gründe für die mangelhafte Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft würden in der Politik des Bundes liegen, ergänzt Hodel.

«Die Lebensmittel in der Schweiz sind zu günstig»

Seit 1951 bestehe das Landwirtschaftsgesetz, das die Landwirt:innen dazu gezwungen hätte, immer mehr Nahrungsmittel zu produzieren: «Bis in die Siebzigerjahre setzte die Schweizer Agrarpolitik nur auf die Produktion, das machte die Landwirtschaft einseitig», erklärt Hodel. Dies habe auch ökologische Probleme wie eine Verschlechterung der Wasserqualität nach sich gezogen.

Gleichzeitig hätten die Landwirt:innen mit jedem Jahr weniger Geld für ihre produzierten Nahrungsmittel erhalten. «Im Jahr 1993 haben die Landwirt:innen für ein Kilo Getreide 1.12 Franken erhalten, heute liegt diese Preis bei etwa 45 Rappen». Aus diesem Grund würden Landwirt:innen heute Direktzahlungen vom Bund erhalten, um trotz sinkender Einnahmen noch einen gerechten Lohn zu erhalten. «Die Lebensmittel in der Schweiz sind zu günstig», fügt Hodel hinzu.

Von den 4,2 Milliarden Franken, die der Bund jedes Jahr in den Landwirtschaftssektor investiert, würden 2,8 Milliarden Franken in Form von Direktzahlungen geschehen, ergänzt Dümmler. Der Begriff Direktzahlung sei dabei als Rechtfertigungsgrund für die Gelder gewählt worden. Die Bevölkerung verstehe dabei meistens nicht, worum es bei diesen Direktzahlungen ginge: «Wenn die Landwirtschaft dann ihre Umweltziele nicht einhalten kann, dann sorgt das für Kritik aus der Bevölkerung.»

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Nachhaltiger Konsum müsse die Bevölkerung in einem Prozess lernen, erklärt Jelena Filipovic.

Die Landwirtschaft sei in Bezug auf die Preise stark abhängig von den Detailhändlern, hält Caravina fest. Anschliessend wirft sie die Frage in den Raum, wie die Landwirtschaft mit dieser Abhängigkeit umgehen soll. «Wir ignorierten diese Abhängigkeit sehr lange, weswegen wir heute mit einer Agrarkrise konfrontiert sind», sagt Jelena Filipovic.

Die Politologin und Klimaaktivistin ist Mitgründerin der Organisation «Landwirtschaft mit Zukunft». Da es in der Schweiz nur die grossen Detailhändler Migros und Coop gebe, hätte die Bevölkerung nicht viele Wahlmöglichkeiten beim Einkauf. «Es braucht ein grösseres Verständnis bei den Konsument:innen für den Wert der Nahrungsmittel», findet sie. Da jedoch vor allem einkommensschwache Haushalte ihr Konsumverhalten nicht so einfach ändern könnten, müsste auch die Politik etwas an dem Monopol der grossen Detailhändler ändern, ergänzt Filipovic.

Der Markt muss sich stärker öffnen

Auch Dümmler sieht im Detailhandel eine grosse Einseitigkeit: «Je nach Schätzung fallen 70 bis 80 Prozent der Lebensmitteleinkäufe auf die grossen Detailhänder». Dieser Markt müsse sich stärker öffnen. Die Landwirt:innen würden nämlich unter der eingeschränkten Wettbewerbssituation leiden, da die Detailhändler landwirtschaftliche Erzeugnisse zu immer tieferen Preisen ankaufen könnten.

Wir alle sind dazu befähigt über Nahrungsmittel zu diskutieren, da wir alle dreimal am Tag essen.

Ferdi Hodel, Präsident des Zürcher Bauernverbandes

Hodel sieht das Problem auch in der Diskrepanz zwischen dem Konsum- und Abstimmungsverhalten der Bevölkerung: «Ein zu grosser Teil der Menschen stimmt an der Urne für eine ökologischere Landwirtschaft ab, kauft aber nicht die entsprechenden Produkte». Deshalb brauche es einen Dialog zwischen Konsument:innen und Produzent:innen, ergänzt Gavilano.

«Es gibt aber auch viele Menschen, die sich nachhaltig produzierte Lebensmittel nicht leisten können und trotzdem für eine pestizidfreie Landwirtschaft sind», fügt sie hinzu. In der Bevölkerung gebe es, entgegen der allgemeinen Auffassung, nicht nur extreme Positionen, sondern auch viele Menschen, die sich ganzheitlich mit dem Thema auseinandersetzen.

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Die Zielkonflikte in der Landwirtschaft könnte seien politisch nicht zu lösen, sagt Hodel.

Filipovic findet, dass ein grösserer Fokus in der Agrarpolitik entscheidend wäre. «Wir müssen geringere Löhne, die Agrarwirtschaft und die begrenzten Ressourcen unseres Planeten als Ganzes betrachten», sagt Filipovic. Neue Ansätze wie beispielsweise eine Bürger:innen-Initiative für die Agrarpolitik seien sehr wichtig, um die Agrarpolitik zielführend weiterzuentwickeln, findet neben Filipovic auch Dümmler.

«Wir alle sind dazu befähigt über Nahrungsmittel zu diskutieren, da wir alle dreimal am Tag essen», sagt Hodel zu diesem Thema. Da die Landwirt:innen sich aber in Zielkonflikten zwischen Raumplanung, Umweltschutz und Tierwohl bewege, könne sich die Landwirtschaft auch nicht weiterentwickeln, fügt Hodel hinzu: «Diese Zielkonflikte kann die Politik nicht lösen.» Er sehe die Lösung vielmehr in wissenschaftlichen Erkenntnissen.

«Aber auch Wissenschaft und Forschung sind nicht fehlerfrei», entgegnet Gavilano. Diese sei nämlich auch durch eigene Interessen beeinflusst. Die Forschung könne jedoch als Grundlage für eine Weiterentwicklung der Landwirtschaft dienen, findet Gavilano. Dümmler kritisiert auch die komplexen Vorschriften und Gesetze, die den Landwirt:innen ihre Arbeit vorschreibt: «Heute sind die Landwirt:innen in einem Korsett aus Verordnungen und Regeln gefangen». Auch Hodel findet, dass die vielen Vorschriften durch den Bund kontraproduktiv seien: «Die Landwirt:innen verbringen ein Drittel ihrer Arbeitszeit im Büro und verlieren damit auch ihre beruflichen Kernkompetenzen.»

Es braucht einen Prozess in der Bevölkerung

Die Moderatorin fragt, wie sich das Konsumverhalten der Bevölkerung letztendlich ändern lässt. «Wir sind so sozialisiert, dass wir nur die Lebensmittel einkaufen, die schön aussehen», antwortet Filipovic. Deshalb würden die Konsument:innen in der Gemüseabteilung auch eher nach den geraden Karotten greifen, als nach den krummen.

«Es braucht einen Prozess in der Bevölkerung, um nachhaltigen Konsum zu lernen», sagt Filipovic weiter. Dies müsse über mehrere Jahrzehnte geschehen. Weiterhin brauche es auch Vorschriften von der Politik, um beispielsweise durch andere Formen von Werbung eine höhere Sensibilisierung zu schaffen, sagt Filipovic.

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Dümmler sieht die Probleme auch in der Vielzahl an Labels, die in der Schweiz exisiteren.

«Ich träume davon, dass Produkte, die einen höheren Schaden an der Umwelt anrichten, auch teurer sind», sagt Gavilano. Ihrer Meinung nach solle die Politik den Detailhandel stärker in die Pflicht nehmen. «Sowohl die Konsument:innen als auch die Produzent:innen sind Marionetten der Detailhändler», fasst Gavilano zusammen. Dümmler sieht nicht nur bei den Detailhändlern, sondern auch bei den Labels der Grossverteiler ein Problem: «Wir haben eine Vielzahl an Nachhaltigkeits-Labels wie zum Beispiel Naturaplan in der Schweiz. Wohin die Einnahmen durch diese Labels hingehen, wissen die meisten gar nicht».

Aus dem Publikum kommt die Frage, ob es in Bezug auf die Produktionsbedingungen mehr Transparenz bei den Lebensmitteln braucht. «Ich halte es für sehr wichtig, dass auch in der Schweiz eine unmissverständliche Deklarierung der Lebensmittel stattfindet», antwortet Dümmler. In Deutschland gäbe es beispielsweise bereits ein einheitliches Label für Fleisch, das den Konsument:innen die Produktionsbedingungen auf einfache Weise zeige, sagt Dümmler weiter.

Eine weitere Frage aus dem Publikum lautet, wieso die Margen, die die Detailhändler für Lebensmittel setzen, nicht durch die Politik geregelt sind. «Das Problem besteht hauptsächlich darin, dass bisher noch kein Dialog zu diesem Thema stattgefunden hat», antwortet Gavilano. Auch fehle bei den Margen der Detailhändler die Transparenz und die meisten Menschen wüssten nicht wie diese Mechanismen genau funktionieren. Deshalb brauche es mehr Aufklärung zu diesem Thema findet Gavilano.

Damit geht die Podiumsdiskussion zum Thema Agrarpolitik zu Ende. Der Fokusmonat Stadt-Landwirtschaft ist damit jedoch noch lange nicht vorbei. Am 17. September geht es mit dem Foodsave-Bankett am Bürkliplatz weiter. Alle Veranstaltungen im Rahmen des Fokusmonats Stadt-Landwirtschaft findest du hier.

Die ganze Podiumsdiskussion findest du hier.

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