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Von Simon Jacoby

Co-Geschäftsleitung & Chefredaktor

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11. Oktober 2016 um 17:24

Das System 20 Minuten

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20 Minuten ist die lauteste Zeitung der Schweiz. Mit ihrer gedruckten Ausgabe erreicht die Pendlerzeitung aus dem Hause Tamedia täglich über zwei Millionen Schweizerinnen und Schweizer und beeinflusst damit massgeblich nicht nur den Meinungsbildungsprozess, sondern auch das politische Klima in der Schweiz.

In einem Nationalstaat wird dieses von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Einige sind stärker, andere schwächer. Die Medien haben mit Sicherheit einen grossen Einfluss auf die Meinungsbildung der Schweizer Bevölkerung. Und mit Einfluss kommt Verantwortung. Durch das Agenda Setting, das konstante Bearbeiten eines Themas, kann eine Zeitung mit dieser Reichweite bestimmen, wie gewisse Themen in der Bevölkerung wahrgenommen werden. Wie wird über Terrorismus berichtet? Wie über Flüchtlinge? Wie über Sexismus? Laut wird es nur in einem Konflikt. Harmonische Geschichten eignen sich nicht. Gibt es keinen Streit, so muss er konstruiert werden. Verunsicherte Menschen sind treue Leser. Besonders dann, wenn es um Themen wie Islam, Asyl, Migration oder Flüchtlinge geht.

Gerade diese Themen waren in den vergangenen Monaten besonders oft in den Medien. Und 20 Minuten ist nicht selten mit reisserischen Headlines aufgefallen.

«Wie gefährlich sind minderjährige Flüchtlinge?» – Schlagzeilen wie diese provozierten die Recherche

Während einem ganzen Jahr hat Tsüri.ch alle gedruckten Ausgaben von 20 Minuten gelesen und analysiert. Vom August 2015 bis zum Juli 2016 erschienen 281 Artikel zu den oben genannten Themen. Im Durchschnitt ist das mehr als ein Artikel pro Tag und Ausgabe. 20 Minuten ist intelligent genug, nicht offen tendenziös und hetzerisch zu berichten. Schliesslich ist das oberste Credo in der Redaktion, keine Meinung zu machen, um für die ganze Schweiz lesbar zu sein.

Die Häufigkeit, die Bilder und Titel, wie die Pendlerzeitung berichtet, können dazu beitragen, dass sich die Bevölkerung vor Muslimen, Terror und Flüchtlingen fürchtet. Wie kommt es dazu? Wie sieht es aus, das System 20 Minuten?

Die kontaktierten aktuellen Mitarbeiter von 20 Minuten wollen nicht mit Tsüri reden. Nicht für diese Recherche. Sie sind von der Arbeitgeberin überzeugt und wollen sich nicht öffentlich äussern – auch anonym nicht. Bei den Ehemaligen ist es hingegen kein Problem, Gesprächspartner zu finden. Mit Namen hinstehen wollen auch sie nicht. Die Schweizer Medienszene sei zu klein, sagen sie. Sie wollen sich ihre Karrierechancen nicht durch ein Verräter-Image kaputt machen.

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Der Mann mit den Zügeln in den Händen Erzählen tun sie alle das gleiche – egal ob ehemaliger Praktikant oder hochrangiges Mitglied der Redaktion: Die Kultur von 20 Minuten werde von einem Mann bestimmt. Alle Fäden in der Redaktion scheinen bei ihm zusammen zu laufen. Der inhaltliche Kurs werde von ihm bestimmt. Die Verantwortung für die gedruckte Zeitung und den Online-Auftritt liege hauptsächlich bei ihm. Er diktiere die Schlagzeilen und nicht selten die kleinsten Details in Artikeln. Er, das ist Gaudenz Looser, der mächtigste Mann bei der grössten Zeitung im Land. Und damit der gefährlichste Journalist der Schweiz, wie es ein ehemaliger Arbeitskollege beschreibt. 2005 kam Looser zu 20 Minuten, stieg nach dem Abgang vom ehemaligen Online-Chefredaktor Hansi Voigt im Jahr 2012 zum Co-Blattmacher auf und wurde Mitglied der Chefredaktion – inzwischen hat er es sogar zum Stellvertreter von Chefredaktor Marco Boselli geschafft. Strukturell ist der 44-jährige Schaffhauser somit zwar nicht der höchste bei der Pendlerzeitung. Und doch prägt er deren Gesicht, wie alle Interviewpartner unisono bestätigen.

War das Niveau von 20 Minuten hoch? Was macht Looser derart erfolgreich, dass er quasi im Alleingang den Kurs der grössten Zeitung der Schweiz bestimmen kann? Um diese Frage zu beantworten, braucht es einen Blick in die Vergangenheit. Unter Hansi Voigt wurde 20 Minuten online das reichweitenstärkste Newsportal der Schweiz. Damals, bis 2012, waren die Print- und Online-Redaktionen noch getrennt und arbeiteten an unterschiedlichen inhaltlichen Ausrichtungen: Auf der einen Seite standen die progressiven, gesellschaftsliberalen und frechen Onliner, auf der anderen Seite die eher konservativen Print-Journalisten. Es begannen die Jahre der grossen Depressionen bei den gedruckten Tageszeitungen: Die Anzeigenerlöse brachen ein, neue Rezepte mussten her, mit denen im Internet Geld verdient werden kann. Wie viele andere Verlage wagte auch Tamedia Experimente und hoffte, dass eine Paywall beim Tagesanzeiger einen Teil zur Rettung beitragen könne. Doch das inhaltliche Niveau von 20 Minuten Online war den Konzernbossen zu hoch, so könne man für den Tagesanzeiger im Internet kein Geld verlangen, erzählen ehemalige Verlagsmitarbeiter. Eine neue Strategie wurde ausgerufen: 20 Minuten muss schlechter werden, damit die denkenden Menschen für den Tagesanzeiger bezahlen wollen: Weniger intellektuell, weniger fordernd, weniger links. Dies, obwohl die Online-Ausgabe von 20 Minuten bereits damals das erfolgreichste Tamedia-Produkt war und auch im Lesermarkt alle anderen Titel abgehängt hat.Offiziell bestätigen will der Verlag diese Strategie nicht. Die Theorie der Niveau-Senkung werde seit Jahren wiederholt, «sie wird dadurch aber nicht wahrer, sondern bleibt absurd.»

Also wurden die beiden Redaktionen (print und online) zusammengelegt, ein strammer Boulevard-Kurs definiert und eine Artikellängebeschränkung eingeführt, was besonders im Internet, wo der Platz unendlich ist, merkwürdig erscheint.
Online-Chef Hansi Voigt und ein Grossteil seiner Truppe verliessen daraufhin die Pendlerzeitung. Sie wollten die beabsichtigte Niveau-Senkung und die damit verbundene Vernachlässigung der gesellschaftlichen Verantwortung nicht mitmachen. Kurze Zeit später entstand aus diesem Team das Newsportal watson.
Bei 20 Minuten war nun der Weg frei für Gaudenz Looser. Innert kürzester Zeit implementierte er ein neues System, welches 20 Minuten für viele zur tendenziösesten Zeitung der Schweiz macht. Tendenziöser als die Weltwoche von SVP-Köppel oder die Basler Zeitung von Blocher. Ausgerechnet jene Zeitung, die von sich behauptet keine Meinung zu machen?

Der Leser und Leserinnen sollen urteilen Das System ist ein einfaches. Durch die konsequente Polarisierung bei bestimmten Themen würden Konflikte herbeigeschrieben, Gräben in der Schweizer Bevölkerung ausgehoben und das vorherrschende Klima der Angst bewirtschaftet und zementiert. Dafür, so berichten die ehemaligen Kollegen, sei hauptsächlich Gaudenz Looser verantwortlich. In der allmorgendlichen Redaktionskonferenz sei er es, der als Blattmacher die Schlagzeilen für die Artikel vorgebe. Er sage den zuständigen Journalisten, welche Experten angerufen werden sollen, damit die Schlagzeile bestätigt werden kann. Natürlich, und das sei das Perfide, kommt die Gegenseite ebenfalls zu Wort. So scheine es, als seien die Artikel ausgewogen. In Wahrheit werde so nicht selten ein Konflikt konstruiert, den es gar nicht gibt.

Gaudenz Looser lehnt es gegenüber Tsüri.ch ab, als Strippenzieher bei 20 Minuten wahrgenommen zu werden. Auch als «gefährlichster Journalist» will er nicht gelten, das sei «völlig absurd». Zudem bestehe die erweiterte Chefredaktion total aus sechs «exzellenten» Fachleuten, die das Produkt «phasenweise komplett alleine» verantworten. Die Themenwahl erfolge grösstenteils Bottom-up und «die meisten Mitarbeiter haben ein feines Sensorium dafür, wann wir unser Markenversprechen – die politische Neutralität – verletzen, und sie würden sich sofort wehren.» Natürlich gebe es immer wieder «Mitarbeiter, denen es schwer fällt, ihre privaten politischen Meinungen aus ihren Artikeln rauszuhalten.» Dass sich diese Journalisten und Journalistinnen mit «einem unkontrollierbaren Sendungsbewusstsein» bei 20 Minuten nicht wohl fühlen, kann Looser nachvollziehen.

Der stellvertretende Chefredaktor rechtfertigt die kontrastorientierte Berichterstattung der Zeitung. Er sei von der Polarisierung innerhalb der Artikel überzeugt, nur so könnten sich die Leser ein eigenes Bild machen: «Mit dem Gegenpol geben wir der Geschichte eine Dreidimensionalität», die der Verständlichkeit diene. Der Vorwurf, so die Angst zu bewirtschaften, prallt an ihm ab. Er wisse nicht, was damit gemeint sei. «Solange wir ausgewogen und mit fairen Methoden arbeiten, stehe ich absolut dazu. Wir bieten den Lesern zu jedem Thema zwei Gedankenmodelle und aus diesen können sie selber wählen.» Durch die Präsentation der beiden Gegenpositionen gebe 20 Minuten einen Teil der Verantwortung den Akteuren, die diese Standpunkte vertreten, und den Rezipienten, ab. In einer direkten Demokratie könne man dies der Leserschaft durchaus zutrauen.

«Selbst wenn sie wollte: Die SVP könnte es nicht besser machen.» Die Auswirkungen dieses polarisierenden Kurses bezeichnet ein früherer hochrangiger Mitarbeiter als «enorm». 20 Minuten sei für viele Menschen in der Schweiz das Synonym für «Zeitung». Wer täglich die Gratiszeitung lese, sei durch die ständige Wiederholung falsch informiert. Dadurch würden die Meinungsbildungsprozesse der Bevölkerung massiv beeinflusst. Dies geht sogar soweit, dass Mitarbeiter von Wirtschaftsverbänden 20 Minuten als die grösste Gefahr für die Bilateralen Verträge bezeichnen. Nicht nur Looser wiegelt ab. Die Pressestellen wollen diese Einschätzung nicht teilen, niemand wagt es, sich öffentlich mit der einflussreichsten Zeitung anzulegen.

Fest steht, dass SVP nahe Kreise grosse Freude an der Gratiszeitung haben. Oder wie es ein Insider formuliert: «Selbst wenn sie wollte: Die SVP könnte es nicht besser machen. Wenn in der Basler Zeitung etwas steht, ist die Absicht und das Weltbild für alle denkenden Leser klar, weil Blocher diese Zeitung besitzt. Dieses Problem gibt es bei 20 Minuten nicht. Sie ist die unabhängige Zeitung aus dem grossen traditionellen Medienhaus Tamedia. Das ist die Scheinheiligkeit, welche der Angstbewirtschaftung und Verantwortungslosigkeit alle Türen öffnet.»

Ob absichtlich oder nicht. Mit der Art ihrer Berichterstattung trägt 20 Minuten dazu bei, dass die politischen Diskurse in der Schweiz heftiger und kontroverser geführt werden. Dadurch, dass immer beide Seiten eines Konflikts zu Wort kommen, wird den Lesern und Leserinnen der Eindruck vermittelt, es handle sich um eine ausgewogene Angelegenheit. Wenn dabei jedoch Minderheiten wie «die Deutschen», «die Flüchtlinge» oder «die Ausländer» im Zentrum der Debatten stehen, trifft dies schlicht nicht zu. Mehr noch: Es sind soziale Gruppen, die entweder neu in unserer Gesellschaft sind oder sich aus strukturellen Gründen nicht selber wehren können. So wird ein Schwarz-Weiss-Denken gefördert und zementiert, das die meisten Debatten nicht angemessen widerspiegelt.

So bleibt unklar, weshalb 20 Minuten so berichtet, wie sie es tut. Nur das Wie kann erahnt werden. 20 Minuten nimmt ihre Verantwortung höchstens teilweise wahr und lässt ihre zwei Millionen Leserinnen und Leser Tag für Tag mit hohem Tempo durch eine hohe Anzahl kleiner und grosser Konflikte rasseln.

Titelbild: Screenshot/20Min.ch

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