Das Leben auf einem Zirkusgelände: «Jetzt oder nie!» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Sonya Jamil

Praktikantin Redaktion

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8. November 2020 um 10:00

Das Leben auf einem Zirkusgelände: «Jetzt oder nie!»

Auf dem Gelände des Circolino Pipistrello steht an diesem sonnigen Samstagnachmittag die Zeit still: Inmitten von Natur pur reihen sich hier die bunten Wagen idyllisch aneinander. In einem der Bauwagen lebt Melanie Schafroth mit ihren zwei kleinen Kindern.

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Melanie mit Pia und Yuri in ihrem Bauwagen. (Alle Fotos: Sonya Jamil)

In dieser Serie entdecken wir die unterschiedlichsten Wohnformen, die Zürich zu bieten hat.

Den Traum, in einen Bauwagen zu ziehen, hatte die junge Mutter schon seit sieben Jahren. Gemeinsam mit dem Vater ihrer Kinder zog sie früher von WG zu WG oder lebte alleine. Dabei merkte sie schnell, dass sie für eine andere Wohnform bestimmt ist. In ihrem Wagen, den sie offiziell seit Oktober bewohnt, ist sie nun endlich glücklich; «Ich möchte der Natur etwas zurückgeben und meinen Kindern dadurch eine bessere Zukunft bieten», betont Melanie Schafroth.

Baby on Board

Die heute 26-Jährige plante diesen Umzug bereits vor drei Jahren, dann aber die süsse Überraschung; die kleine Pia. Melanie warf ihre Bauwagen-Pläne über Bord, schliesslich kannte sie niemanden, der mit einem Kind diesen Schritt gewagt hatte. Überhaupt war sie in ihrem Freundeskreis damals die erste, die ein Baby erwartete. Ihren jetzigen Bauwagen kaufte sie vor einem Jahr; stellte ihn aber vorerst für ein halbes Jahr auf einem Wohnwagenparkplatz ab, denn Baby Nummer zwei war unterwegs. «Ich merkte schnell, dass Yuri ein friedlicher und ruhiger kleiner Junge ist und deshalb vermutlich keine Schwierigkeiten im Wagen haben würde», erzählt Melanie. Wenn sie ihren Traum nicht verwirklichen würde, dann würde sie es später vermutlich bereuen. So fasste sie sich ein Herz: «Jetzt oder nie!» Mit dem Vater der Kinder teilt sie sich das Sorgerecht und pflegt ein freundschaftliches Verhältnis. Den gemeinsamen Traum des Bauwagen-Lebens träumt sie aber alleine weiter.

Bewusstes Gemeinschaftsleben

Den Circolino Pipistrello kannte Melanie von alten Vorführungen. Der Zirkus ist nun seit fast 40 Jahren unterwegs; mitmachen können Gross und Klein und Jung und Alt. Auf dem grossen Areal in Rikon im Kanton Zürich befinden sich derzeit insgesamt 19 Wagen, da die Zirkusartist*innen noch vor Ort sind. Ansonsten sind es neun Wagen, die teilweise auch zu zweit bewohnt werden. «Hier sind auch viele Kinder», freut sich Melanie. Für Pia und Yuri sei das Leben auf dem Zirkusgelände eine wahnsinnige Bereicherung: Sie wachsen in der Natur auf und lernen von jedem der Bewohner*innen etwas Neues dazu. Melanie geniesst das gemeinschaftliche Leben hier sehr. Morgens sitze man in der Gemeinschaftsküche zusammen am Frühstückstisch oder lasse den Abend mit einem kleinen Lagerfeuer oder bei der Jam-Session der Zirkusleute ausklingen. Die Unterstützung unter den Bewohner*innen sei sehr gross. Melanie weiss, dass ihre Kinder in guten Händen sind, wenn sie einmal anderweitig beschäftigt ist. Das sei nicht selbstverständlich; «Hut ab vor allen Eltern, die das ganz alleine durchziehen», meint Melanie.

«Ich lebe hier viel bewusster», sagt die junge Frau nachdenklich. Mit ihren Kindern lebt Melanie spontan in den Tag hinein und geht mit ihnen spazieren oder sammelt Baumnüsse. Alles sei viel ruhiger und friedlicher auf dem Gelände: «Es fühlt sich an, wie in einer rosa Blase.» Das merkt Melanie vor allem, wenn sie während der Woche in Zürich Getränke ausliefert und somit am hektischen Stadtalltag teilnimmt.

Glamping statt Camping

«Aha, du wohnst also auf einem Campingplatz!», bekommt Melanie oftmals von ihren Mitmenschen zu hören. Wer jedoch einen Blick auf die bunten Mosaik-Plättchen in den Gemeinschaftswaschräumen wirft, der merkt spätestens bei der grossen Badewanne, dass es sich hier nicht um Camping handelt; höchstens vielleicht um Glamping.

Melanie kaufte ihren Bauwagen damals für 5’000 Franken – weitere 1’000 Franken investierte sie in Renovationsarbeiten. Sollte etwas kaputt gehen, legt sie in der Regel selbst Hand an. Und glücklicherweise wimmele es auf dem Gelände nur so von Stromer*innen oder Schreiner*innen, sagt Melanie. Momentan fehlt es ihrem Wagen noch an einem Ofen, der sie und die Kinder in den kommenden Wintertagen warm hält.

Minimalismus in der heimeligen Höhle

Melanie weiss was es heisst, auf engem Raum zu wohnen und erinnert sich an eine Zeit zurück, in der sie sich mit ihrem damaligen Freund 12 Quadtrameter teilte. Jedoch sei die Grösse nicht zwingend ausschlaggebend. So habe sie auch schon auf 80 Quadratmetern gewohnt. Je grösser der Raum, desto grösser sei der Drang ihn mit Dingen vollzustopfen, denkt Melanie.

Da die gelernte Dekorateurin in ihrem Leben schon einige Male umgezogen ist, hatte sie immer die Möglichkeit, ihr Zuhause gründlich auszumisten. Dennoch realisierte Melanie schnell, dass sie nicht mit ihrem ganzen Hab und Gut in den 20 Quadratmeter grossen Bauwagen ziehen kann. «Ich habe es versucht», gibt sie lachend zu. «Aber wie viel braucht man schon im Leben – nicht viel», beantwortet sie sich die Frage gleich selbst. «Ich war schon Minimalistin bevor ich wusste, was Minimalismus ist», fügt die junge Mutter hinzu.

Eine komplette Familie

«Mama... Mama!», kommt es auf einmal vom Bauwagen – Pia ist von ihrem Mittagsschlaf aufgewacht. Sofort steht Melanie auf und geht zu ihrer Tochter. Pia blinzelt zunächst leicht verschlafen, kurze Zeit später kommt ihre fröhliche und zutrauliche Persönlichkeit jedoch zum Vorschein und sie lacht vergnügt. Die Zweijährige mache sich gut als grosse Schwester, erzählt Melanie. Sie liebe ihren kleinen Bruder und würde ihn vor allem abends mit ganz viel Küssen übersäen. «Ich habe einen Moment gebraucht, um das zu begreifen, aber ich bin keine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern», sagt Melanie plötzlich. «Wir sind eine komplette Familie.»

Das Leben im Bauwagen sei für Melanie die beste Entscheidung gewesen, die sie für sich und ihre kleine Familie hätte treffen können. Sie bezeichnet sich selbst als Herzblut-Anarchistin und empfiehlt jedem kreativen Kopf, der gerne über den Tellerrand schaut, eine solche Wohnform wie ihre. Melanie sieht sich auch in Zukunft in einem Bauwagen. «Oder in einem Haus in Portugal mit Garten und Campingplätzen», verrät die Halbportugiesin mit einem Lächeln auf den Lippen.

Melanies Youtube-Kanal zum Bauwagen-Leben: Hier

Mehr Informationen zum Circolino Pipstrello: Hier

Fokusmonat «Wohnen» 2020
Dieser Artikel ist im Rahmen unserer Fokusmonats «Wohnen» entstanden. Neben dem hier veröffentlichten Bericht, sammeln wir mit einem Crowdfunding momentan Geld, um herauszufinden, wem Zürich gehört. Zudem organisieren wir auch dieses Mal eine Pitch-Night, Podien und machen mit einer Stadtforscherin einen Spaziergang durch die Weststrasse.

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