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11. März 2019 um 16:15

Country roads, take me home – allein am Country Music Festival

Zürich hat ein Countryfestival. Wer nicht dorthin geht, hat wohl noch nie davon gehört. Für einen Abend mischte sich unsere Redaktorin mitten unter eingefleischte Fans. In ihrer Mission, sich im Linedance zu blamieren, ist sie gescheitert – doch zumindest hat sie zum Schluss einen Cowboyhut getragen.

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Mitten auf dem Trottoir ein erster Vorbote: ein Haufen Pferdescheisse. Im Hintergrund thront das Schützenhaus, mit Lichterketten gesäumt ragt es in den Himmel empor. Mit seinen Türmchen und dem grossen Eingangstor scheint es wie aus der Zeit gefallen. Als ich vor 16 Jahren das letzte Mal im Schützenhaus war, schoss ich am Knabenschiessen einen Sechser und verfehlte dann viermal die Scheibe.

Für das heutige Wiedersehen hoffe ich auf ein weniger peinliches Erlebnis. Obwohl die Türöffnung des Country Music Festivals erst um sieben Uhr abends ist, stehen die Autos schon vor dem gut gefüllten Parkplatz bereit. Ich mache eine Runde und studiere die Nummernschilder. Schaffhausen, Aargau, Schwyz, Deutschland, Bern, Österreich – den Countryfans scheint kein Weg zu weit zu sein, um gemeinsam dem Banjo zu lauschen.

Viel Country, wenig Festival

Beim Eingang tummeln sich bereits acht Cowboyhüte. Karohemden, Boots, Jeans und grosse Gürtelschnallen gehören zum unausgesprochenen Dresscode für Frau und Mann, die meisten sind Ü40. Ich stehe in der Schlange, einige Besucher*innen begrüssen sich untereinander. «Hey alter Cowboy!», ruft ein Mann seinem Bekannten zu, «Yiiiha!» antwortet dieser und einer der Jüngeren meint: «Cooler Hut, Dude!». Besser hätte man sich das in Relotius’scher Manier nicht ausdenken können.

Drinnen wird mir mein Sitzplatz bekannt gegeben. Damit habe ich nicht gerechnet: Ich sitze an einem Sechsertisch. Die Tische sind um die Bühne herum platziert, wobei in der Mitte für die Tanzwilligen etwas Parkett frei gelassen wurde. Hier wird alles auf den Kopf gestellt, was ich über die Zürcher Konzertkultur zu wissen glaubte: Mit Sitzplatz ist hier kein Tribünenplatz gemeint, der Saal ist schon kurz nach der Türöffnung rappelvoll, auf dem Frauen-WC gibt es keine Schlange und die Bedienung serviert Essen und Getränke direkt an den Tisch. Das nervige Anstehen an der Bar entfällt – ein Pluspunkt, der mir im Laufe des weiteren Abends zum Verhängnis wird.

Von Konventionen und Konversationen

Obwohl man mir von weitem ansieht, dass ich nicht aus Liebe zur Countrymusik hier bin, fühle ich mich dank meinen Tischnachbaren Rägi, Marcel und Jürg willkommen. Seit wir herausgefunden haben, dass mein Freund aus einem benachbarten Kaff im Zürioberland stammt, ist das Eis gebrochen. Auf die Frage nach ihren liebsten Countrymusiker*innen fallen Namen wie Johnny Cash und Elvis. Aber auch Mustang Sally, der Hauptact des Abends, habe es richtig drauf. Auf dem Countrycruise (einer Kreuzfahrt für hartgesottene Fans, für die beim Eingang geworben wird) sei die Sängerin jeweils mit Badeschlappen mit ihnen an der Bar gesessen, meinen Jürg und Marcel, «weisch, eini wie du und ich!».

Mittlerweile hat die Vorband begonnen. Sie spielen einen schmissigen Countryklassiker nach dem anderen. Die ersten haben angefangen zu linedancen. Ich frage meine Tischnachbarn, ob sie später auch tanzen kommen. «Wenn hundert Jottä sglichä mached, chas ja nöd guet sii!», ruft Marcel. «Aber dir blüeht das hüt au no!» Ich amüsiere mich grossartig mit meinen Tischgenossen und auch über mich selbst. Mich befällt langsam dieses euphorisierende Gefühl, das sich breit macht, wenn ich mich in völliger Anonymität wähne. Eine Carte Blanche, um sich so richtig zum Affen zu machen. Da ich mir aber dieses Highlight für den Hauptact aufsparen will, bestelle ich einen weiteren Drink und Countryfries.

Unten links kurz im Bild – meine Mission für den heutigen Abend

In der Pause wird ein Akkubohrer verlost. Zwei ältere Männer, von Kopf bis Fuss wie in einem Western gekleidet, diskutieren über Zigarren. Ich staune, wie viele Klischees mir hier um die Ohren fliegen. Aber wäre das anders auf einem Rock- oder Pop-Konzert? An einem Afterhour-Rave? Ist man in einer vermeintlich homogenen Gruppe, welche die Konventionen durch eine andere Brille sieht, tut man manchmal gut daran, diese zwischendurch abzunehmen und sich auf die Menschen einzulassen.

Da ist nämlich Franz, den ich draussen beim Rauchen kennengelernt habe. Er ist in seinen Fünfzigern und kommt aus Österreich. Aus der einen Zigarette werden zwei, dann drei. Franz berührt mich sehr mit seiner Offenheit. Wir haben ein vertrautes Gespräch, obwohl wir uns kaum kennen. Und da ist eine Gruppe von Freund*innen, die den 40. Geburtstag ihres Freundes feiert, und mich nach einer kurzen Plauderei an ihren Tisch einlädt – da sei nämlich immer ein Platz frei für mich. Ein weiteres Mal versöhnen mich die Unvoreingenommenheit der Gäste und die netten Worte mit meinem Samstagabendprogramm.

Do I walk the Line?

Der Hauptact ist nun in vollem Gang. «Mustang Sally» besteht aus der Leadsängerin, deren wilde Haarexplosion an Rod Steward und Tina Turner erinnert, und ihren vier um mindestens ein Jahrzehnt jüngeren Bandmitgliedern. Die Sängerin ist durch und durch Entertainerin, hat Kraft in der Stimme und eine grosse Portion Selbstironie: «Schaut euch das an, mein Bauch schwabbelt mit, wenn ich so tanze!». Die Showeinlage mit brennenden Drumsticks feuert die tanzfreudigen Cowgirls und -Boys an.

Warum ich so viel Freude an der Zoomfunktion hatte, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren.

In den letzten drei Stunden versuchte ich mir Mut anzutrinken für meinen bevorstehenden Lindedance. Leider habe ich die Rechnung ohne die zweitausend Kohlenhydrate der Riesenportion Countryfries gemacht, die mir grad mein Räuschchen rauben. Und leider auch ohne die rockigen Songs, zu denen niemand tanzt. Nichtsdestotrotz muss ich es versuchen. Als ich auf der Tanzfläche stehe, verlässt mich dann doch der letzte Rest meiner Willenskraft. Wie soll man linedancen, wenn man nicht weiss, wie linedancen – und alle anderen in dich reindancen?

Ich tanze also einfach mit, hüpfe zu Pop-Coversongs, die den Country nur noch erahnen lassen, und entdecke in der Menge bekannte Gesichter. Als ich schliesslich für ein Foto einen Cowboyhut aufgesetzt bekomme, mein Gin Tonic nur noch ein Glas in meiner Hand ist und Queen angestimmt wird, weiss ich: Es ist Zeit, zu gehen. Als ich an die frische Nachtluft trete, muss ich kurz laut vor mich hin lachen. Mein Heimweg ist zum Glück nicht weit. Take me home, Country Roads. ​​​​​

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Das erste und letzte Mal mit einem Cowboyhut.

Alle Bilder: Viviane Stadelmann

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