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Von Jonas Kappner

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5. September 2021 um 05:00

Brunchgeschichten: Warum eigentlich Berlin?

Kaum eine Stadt ist unter Zürcher:innen so beliebt wie Berlin. Unser Autor Jonas, der vor zwei Jahren von Berlin nach Zürich gezogen ist, findet: «Am Ende des Tages ist Berlin nur eine Stadt, in der Menschen wie überall auf der Welt versuchen zu überleben. Manchmal funktioniert es gut. Manchmal eher weniger.»

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Illustration: Zana Selimi

«Woher kommst du?» – «Berlin.» – «Gebürtiger?» – «Ja.» Auf diesen kurzen Dialog folgt oft ein endloser Lobgesang auf die Stadt an der Spree im Osten von Deutschland. Essen, Spätis, Clubs, Bars, Kultur... und vor allem: Alles so günstig. «Woher kommst du genau?» – «Wilmersdorf.» – «Ahh, also von ausserhalb.» – «Eigentlich nicht, Wilmersdorf liegt in der City West, Bahnhof Zoo und so...» -–Im Westen war ich noch nicht, ich bin eigentlich nur in Mitte, Prenzlauer Berg und Kreuzkölln unterwegs.» – «Also Kreuzberg und Neukölln sind eigentlich auch im Westen...» – «Bist du oft im Berghain?» – «Eher nicht, nicht so meine Musik.» «Häh, aber du bist doch Berliner?!»

Oft wechsle ich nach dieser Art von Konversation das Thema. Natürlich kann ich auf der einen Seite nachvollziehen, dass es spannend ist, jeden Abend ein neues Restaurant auszuprobieren und sich anschliessend im Berliner Nachtleben zu verlieren. Morgens mit verquollenen Augen in einem Park zu sitzen. Mit Kaffee. Rauchend. Nachdem man sich kurz erholt hat, zieht man einfach weiter.

Das wiederholt man, unterbrochen von einigen wenigen kulturellen Ausflügen zwischendurch, einfach jeden Tag in der Woche und kommt anschliessend wieder zurück in sein wohlbehütetes Zuhause. Voller Eindrücke. Erinnerungen. Und Lücken.

Ich kann nur für mich sprechen. Ich kenne wenige Berliner:innen, die sich diesen Lebensstil leisten können. Im Bundesdurchschnitt sind die Löhne gering. Die Gentrifizierung soweit vorangeschritten, dass viele Menschen mit einem Durchschnittslohn den inneren Teil des S-Bahnrings (der S-Bahnring ist wie die inoffizielle Grenze des Stadtkerns. Und ja, auch Wilmersdorf befindet sich da drin) verlassen müssen und sich Wohnungen ausserhalb suchen.

Viele Menschen kämpfen. Um Anerkennung. Um Sichtbarkeit. In einer Stadt, in der Anonymität gross geschrieben wird und man oft nicht genau weiss, wer da eigentlich direkt neben einem wohnt. Während man als Tourist:in morgens um 7 Uhr in der U-Bahn auf dem Weg in den nächsten Club einen neuen Prosecco öffnet, muss man sich oft nur die Augen der Menschen auf ihrem Arbeitsweg anschauen, um sich die Situation vieler Bewohner:innen dieser Stadt bewusst zu machen. Leer. Müde. Verdrossen.

Berlin ist vieles. Laut und oft beängstigend still.

Jonas Kappner

Möchte man Zürich mit Berlin vergleichen, genügt eine genauere Betrachtung der beiden grössten Flüsse der Städte. Limmat und Spree. Klares Wasser, das zum Baden einlädt. Stählerne Körper, die sich auf Stegen und in Badis bräunen.

Fische! Auf der anderen Seite eine fliessende bräunliche Masse, die sich kilometerweit durch die Stadt windet. Man sitzt an ihr, aber niemals in ihr. Von Aussen schön zu betrachten, aber in sie Eintauchen sollte man nicht.

Berlin ist vieles. Laut und oft beängstigend still. Die Stadt kann extrem links und aufgeschlossen sein aber auch extrem rechts und brutal. Sie ist oft arrogant und gleichzeitig sehr unsicher. Offen für alle und dennoch verschlossen. Ihr Ton selten liebevoll (Nicht falsch verstehen: Ich liebe die Berliner Freundlichkeit. Sie ist auf gewisse Weise ehrlich, halt nur ein wenig ruppig verpackt). Berlin ist nicht nur Kreuzkölln, Prenzlauer Berg und Mitte. Sie ist auch Hellersdorf, Reinickendorf und Spandau. Ok, also Spandau vielleicht nicht. Aber auf jeden Fall auch Wilmersdorf!

Am Ende des Tages ist Berlin nur eine Stadt, in der Menschen wie überall auf der Welt versuchen zu überleben. Manchmal funktioniert es gut. Manchmal eher weniger. Manchmal umarmt sie dich und gibt dir Halt. Und manchmal verlässt sie dich.

Und um diesen Text mit zwei Zitaten unseres ehemaligen Bürgermeisters Klaus Wowereit und Peter Fox zu beenden: «Berlin ist arm, aber sexy!» und «Und manchmal eben doch gar nicht so hart wie du denkst.»

Brunchgeschichten
Tsüri.ch startet eine neue Kolumne! Dieses Mal direkt aus dem Büro an der Glasmalergasse zu dir nach Hause an den Frühstückstisch. Ab jetzt liefern dir Simon, Elio, Zana, Jenny, Isa, Nico, Seraina, Rahel, Jonas und Emilio jeden Sonntag abwechselnd eine Geschichte aus deiner Lieblingsstadt, die sich bestens beim gemütlichen Sonntagsbrunch besprechen lässt – sollten euch dabei mal die Themen ausgehen.

1. Warum ich abhaue, ohne Tschüss zu sagen
2. Weshalb zu einer Stadt Lärm gehört
3. Warum Tattoos keinen Sinn machen müssen
4. Warum wir seltener in den Club gehen sollten
5. Warum ich meinen Geburtstag so mag
6. Weshalb wir alles andere als wild sind
7. Warum wir öfters Langweiler:innen sein sollten
8. Weshalb ich nicht in meiner Bubble bleiben will
9. Warum eigentlich Berlin?
10. Warum ich keine Flohmis mag
11. Weshalb wir über unsere Körper sprechen sollten
12. Warum ich wieder mehr Ankerbier statt Naturwein trinken will oder «Auch ich werde älter!»
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