Brunchgeschichten: Stell dir vor es ist EM – und keine:r geht hin - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Ladina Cavelti

Projektleiterin Civic Media

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10. Juli 2022 um 04:00

Brunchgeschichten: Stell dir vor es ist EM – und keine:r geht hin

Ladina interessiert sich kaum für Profisport. Zu der Fussball-EM der Frauen macht sie sich aktuell trotzdem ein paar Gedanken.

Illustration: Zana Selimi

Am Mittwoch wurde die Fussball-EM angepfiffen. Das Gastland England gewann das Auftaktspiel 1:0 gegen Österreich. Wahrscheinlich weisst du, dass ich von der Europameisterschaft der Frauen spreche. Denn dieses Jahr erhält die Fussball-EM der Frauen so viel Aufmerksamkeit wie wahrscheinlich noch nie. Auf jeden Fall nehme ich das so wahr. Die Gründe dafür erkläre ich mir einerseits damit, dass viel Druck von Vereinen und Einzelpersonen ausgeübt wurde, wie zum Beispiel von der Gruppe @em22_grossmachen, welche unter anderem in Bern 100 Gastrobetriebe angefragt haben ob sie die Fussballspiele übertragen – Bilanz 15 machen mit. Andererseits gehört die Gleichstellung der Geschlechter ja schliesslich gerade zum guten Ton. Trotzdem sind wir noch Meilen entfernt von der Sichtbarkeit und Anerkennung, welche die Männer-EM jeweils generiert.

Dies erkannte ich auch an einigen Reaktionen aus meinem Umfeld, als ich erzählte, dass wir in unserer Sommerbar «Bar Tsurigo» die Spiele der EM übertragen: «Hä EM? Ist dieses Jahr nicht WM in Qatar?» oder: «EM war doch letztes Jahr?» Und fairerweise ist hier zu sagen, dass meine Reaktion bis vor ein paar Wochen nicht anders ausgefallen wäre. Dass ich mich dieses Jahr mit der EM beschäftige, hängt tatsächlich vor allem mit der «Bar Tsurigo» zusammen. Wenn man Veranstaltungen plant, kämpft man oft mit vielen Bewilligungen. Die Grosssportanlässe der Männer erhalten solche für die Bespielung des Aussenbereichs und verlängerte Öffnungszeiten seit Jahren ohne Probleme. Die EM der Frauen erhält eine solche Bewilligung dieses Jahr in Zürich zum ersten Mal – und das wurde erst einige Tage vor Anpfiff bekannt.

Ich interessiere mich kaum für Profisport. Von solchen Grossanlässen lasse ich mich trotzdem gerne mitreissen. Für Public-Viewing im Aussenbereich einer Bar, mit Freund:innen und einem kühlen Bier in der Hand kann ich mich durchaus begeistern lassen. Schlussendlich kommt man um diese Anlässe gar nicht wirklich herum. Auf jedem zweiten Balkon hängt eine Landesflagge, Hupkonzerte begleiten die Schlusspfiffe, praktisch jede Bar mit Fernseher zeigt die Spiele, der Fokus der Medien liegt darauf und am Morgen in der ersten Pause auf der Arbeit wird das Spiel vom Vortag diskutiert. Doch stell dir vor: Es ist EM und keine:r geht hin. Bei der EM der Frauen fühlt sich das ein wenig so an. Mir ist noch keine Landesflagge aufgefallen und auch Hupkonzerte werden wohl ausbleiben.

In den letzten Jahren hat sich dennoch einiges getan. Diese Entwicklung erfreut grundsätzlich. Trotzdem ist es Beispielhaft für eine strukturelle Benachteiligung. Der Hauptsponsor des Schweizer Fussballverbands zahlt dem Nationalteam der Frauen zwar nun dieselben Prämien wie den Männern, die Profi-Spielerinnen verdienen bei ihrem Verein jedoch meistens nur zwischen 2000 bis 3000 Franken, während die Männer im Durchschnitt 14’000 Franken verdienen. Somit müssen die Frauen nebst ihrer Profikarriere noch einer anderen Lohnarbeit nachgehen. Und somit wären wir auch beim oft genannten Argument angelangt, wieso der Frauenfussball weniger attraktiv sei als der Männerfussball: «Das Niveau ist halt schon viel tiefer und darum nicht so spannend zum zugucken, weisst du?» Klar gibt es unterschiede im Niveau aufgrund des Körperbaus, die strukturelle Ausgangslage ist aber nicht annähernd dieselbe. Deswegen nervt mich diese Argumentation. Sehr sogar.

Für Public-Viewing im Aussenbereich einer Bar, mit Freund:innen und einem kühlen Bier in der Hand kann ich mich durchaus begeistern lassen.

Ladina Cavelti

Nebst der Arbeit, der neben dem Profifussball nachgegangen werden muss, erhalten die Spielerinnen auch sonst kaum dieselbe Förderung und Ausbildung. Bei den Trainings- und Spieldaten erhalten die Männer ebenfalls den Vorrang. Beginnen tun die Ungleichheiten ja bereits beim Einstieg in den Sport. Fussball wird gesellschaftlich noch immer eher als Sport für Jungs angesehen. Die Sichtbarkeit von Profifussballerinnen als Vorbilder für Mädchen ist mangelhaft. Trainerpositionen sind ebenfalls vor allem von Männern besetzt – geschweige denn Managementpositionen. Die Liste ist lang.

Persönlich schaue ich ein EM-Fussballspiel ohnehin kaum wegen den schönen Spielzügen oder dem schnellen Spiel. Ich lehne mich nun vielleicht weit aus dem Fenster wenn ich behaupte, dass ich damit nicht komplett alleine bin. Bei diesen Grossanlässen geht es wohl vielen gar nicht so sehr um den Fussball selbst. Wenn wir die EM der Frauen also gleich gewichten würden wie die der Männer, wäre jedes Jahr irgendeine WM oder EM, wo es gesellschaftlich absolut akzeptiert wird, wenn du an einem Montag bis zum Rand voll bist, weil das Schweizer Nationalteam Frankreich 5:4 nach der Penalty aus dem Turnier schiesst. Wär doch schön, nicht? Bis es soweit ist dauert es aber wahrscheinlich noch einige Zeit. Schade, aber überraschen tut das wohl niemanden. 

Brunchgeschichten


Das Wochenende bietet meistens viel Gesprächsstoff für den Sonntagmorgen. Wir wollen dich an unseren bescheidenen Erlebnissen teilhaben lassen. Simon, Elio, Ladina, Alice, Isa, Nico, Steffen, Seraina, Rahel, Jonas, Sofie, Emilio und Lara erzählen dir jeden Sonntag abwechselnd eine Geschichte aus deiner Lieblingsstadt, die sich bestens beim gemütlichen Brunch besprechen lässt – sollten euch dabei mal die Themen ausgehen.

1. Warum ich abhaue, ohne Tschüss zu sagen

2. Weshalb zu einer Stadt Lärm gehört

3. Warum Tattoos keinen Sinn machen müssen

4. Warum wir seltener in den Club gehen sollten

5. Warum ich meinen Geburtstag so mag

6. Weshalb wir alles andere als wild sind

7. Warum wir öfters Langweiler:innen sein sollten

8. Weshalb ich nicht in meiner Bubble bleiben will

9. Warum eigentlich Berlin?

10. Warum ich keine Flohmis mag

11. Weshalb wir über unsere Körper sprechen sollten

12. Warum ich wieder mehr Ankerbier statt Naturwein trinken will oder «Auch ich werde älter!»

13. Warum ich fast immer zu Fuss gehe

14. Warum ich mein Sternzeichen nicht kenne

15. Weshalb der Dezember ohne Weihnachten nur ein zweiter Januar wäre

16. Mit der Deutschen Bahn von Zürich nach Berlin – ein 12-stündiges Abenteuer

17. Wieso ich Brunch blöd finde

18. NZZ & FDP gegen den Rest

19. Fomo? Jomo!

20. Endlich eine Bachelorette

21. Warum ich mich am Hobby meiner Freund:innen störe

22. Der Konsumkritik zum Trotz oder weshalb ich Geschenke mag

23. Wieso Langlaufen mehr als nur ein Boomer-Sport ist

24. Der brennende Tannenbaum auf dem Bullingerplatz – und was ich (nicht) damit zu tun habe

25. Warum Sex für viele Zürcher:innen ein Tabuthema bleibt

26. Warum ich die «Generation Z» bewundere

27. Warum ich nicht (nur) im Jetzt leben will

28. Warum ich trotz Massnahmenlockerungen Spielverderber bin

29. Weshalb männliche E-Mountainbiker toxisch sind

30. Oh Hardbrücke, du schönste unter den hässlichsten Brücken!

31. Weshalb Aufbruch auch schmerzvoll sein kann

32. Zwei Coaches wollen Frauen helfen ihre «Problemzonen in den Griff zu kriegen» – weshalb das nicht ok ist

33. Wieso wir Exfreund:innen nicht aus unserem Leben streichen sollten

34. 5 Gründe, warum das Leben Ü30 besser ist

35. Warum die Bravo kein Bravo bekommt

36. Warum Serien und ich kein Match sind

37. Wie mir eine Party die Skiferien versaute

38. Ich weiss, was du letzten Sommer auf deinem Balkon gemacht hast

39. Wie das Geld meiner «Boomer»-Eltern mein Leben prägt

40. «Will nicht mehr über die Gründe für eine Elternzeit sprechen»

41. Wie ich Freund:innen auf dem Friedhof fand

42. Ich finde Sprachnachrichten scheisse

43. Warum mich mein Job als Klimajournalistin oft deprimiert

44. Wie es ist, als Nichtwähler aus dem Gemeinderat zu berichten

45. Wieso ich manchmal nicht abstimme

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