Bitte nicht in unserem Quartier: die Gentrifizierung der Prostitution - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Simon Braissant

Journalist

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15. Mai 2019 um 14:00

Bitte nicht in unserem Quartier: die Gentrifizierung der Prostitution

Die Stadt Zürich gibt sich gerne liberal und offen, dennoch wird ein ganz bestimmtes Metier seit Jahren aus ihrer Mitte verdrängt: das Sexgewerbe. Im Rahmen des 1.-Mai-Fests diskutierten Brigitte Hürlimann (Die Republik), Christa Amman (Stellenleiterin XENIA, Grossrätin AL) und Nina Lanzi (FIZ) über die gegenwärtige Lage des Sexgewerbes. Dabei wurde Licht in die dunklen Seiten der Stadtaufwertung gebracht. Eine Abrechnung mit der Politik der «Quartierverträglichkeit».

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In Zürich ist Sexarbeit legal. Trotzdem ist Prostitution kein Beruf wie jeder andere, denn nicht nur Stigmatisierung und Klischees machen den Sexarbeitenden das Leben schwer, sondern auch die Politik. Keine andere Erwerbsarbeit in der Schweiz ist mit derart vielen bürokratischen Auflagen verbunden.

Obwohl die dafür verantwortlichen Politiker*innen in erster Linie die Arbeitnehmenden schützen möchten, schiessen sie grandios am Ziel vorbei. Kleine Salons, die den dort tätigen Sexarbeitenden viel Selbstbestimmung bieten, müssen geschlossen werden, und Prostituierte, die sich die teuren Annoncen im Internet nicht leisten können und ihrer Arbeit deshalb auf der Strasse nachgehen müssen, werden zum Schutz der «Quartierverträglichkeit» an den Stadtrand verdrängt. Die vielen strukturellen Probleme des Sexgewerbes werden dagegen kaum bekämpft.

Das Sterben der Kleinsalons

Besonders seit der Einführung der neuen Prostitutionsgewerbeverordnung (PGVO) im Jahr 2013 kämpft das Gewerbe mit einer neuen bürokratischen Regulationsflut. Die Verordnung hatte zum Ziel, die Infrastruktur der Zürcher Sexsalons zu verbessern, indem zum Beispiel Duschen oder Pausenräume gesetzlich verlangt wurden.

Kleinere Bordelle, die Arbeitsräume für bis zu zwei Personen bieten, konnten sich diese baulichen Massnahmen jedoch oftmals nicht leisten und mussten geschlossen werden. Dabei gelten gerade die Arbeitssituationen in Kleinsalons als vorbildlich, da die dort arbeitenden Prostituierten selber über Arbeitszeiten und Art der Angebote entscheiden können.

«Es sind in der Regel Frauen, die ganze Familien ernähren, die hier ihrer Existenzgrundlage beraubt werden, weil nach Jahren und Jahrzehnten der Sexarbeit plötzlich die Baupolizei vor der Tür steht», kritisiert Brigitte Hürlimann, die 2004 mit einer Dissertation über die Prostitution im Schweizerischen Recht an der Universität Freiburg promovierte.

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v.l.n.r. Brigitte Hürlimann, Christa Ammann und Nina Lanzi im Gespräch mit Christina Schiller

«Den Betroffenen bleibe häufig nur die Sozialhilfe oder, sie arbeiten im Untergrund oder haben eine Anstellung bei einem der grossen Etablissements, die sich die behördlichen Auflagen und bürokratischen Hürden leisten konnten», sagt Nina Lanzi von der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration FIZ. Innerhalb von nur einem Jahr nach Einführung der PGVO nahm die Anzahl der Kleinsalons um fast einen Drittel ab. So bewirkte die PGVO im Grunde eine massive Gentrifizierung und Vernichtung der Sexsalons.

Strassenprostitution an den Stadtrand

Auch die Strassenprostitution leidet unter der neuen Verordnung. Sexarbeitende benötigen seit 2013 eine Bewilligung, um ihre Dienste auf der Strasse anbieten zu dürfen, und dies auch nur an bestimmten Orten – den sogenannten Strichzonen. Ausgangslage der PVGO war damals der Sihlquai-Strich, dessen elende Zustände die Politik zum Handeln gezwungen hatten und der noch im selben Jahr geräumt wurde.

Als Ausgleich dazu wurde die Strichzone Depotweg in Altstetten geschaffen, wo die sogenannten Sexboxen stehen. Das Problem dabei: Zwei der drei legalen Strichzonen Zürichs liegen seither ausserhalb des Stadtzentrums. Statt die Probleme des Sihlquai-Strichs nachhaltig zu lösen, wurden sie lediglich an den Stadtrand verlagert. Dort aber fehlt die nötige Laufkundschaft. Dies und strikte zeitliche Einschränkungen verschärfen das finanzielle Defizit vieler Sexarbeitenden. Das führt dazu, dass vermehrt besser bezahlte Dienste wie Sex ohne Kondom angeboten werden.

Viele Fachstellen und Politiker*innen kritisieren diese unnötige Prekarisierung und fordern mehr Strichzonen in Stadtnähe. Entsprechende politische Vorlagen sind bisher gescheitert, weil man einen Verlust der «Balance und Quartierverträglichkeit» befürchtet. Es gelte, die Bevölkerung vor den negativen Auswirkungen des Prostitutionsgewerbes wie Lärm, Schmutz und Gesundheitsrisiken zu entlasten, hält das Polizeidepartement in seinem «Bericht über die Entwicklung des Prostitutionsgewerbes» von 2015 fest.

Lieber an die Langstrasse?

Die eigentliche Frage hinter dieser Diskussion lautet: Wollen wir als Gesellschaft die Sexarbeit tolerieren oder nicht? Das PGVO entpuppt sich diesbezüglich als unglücklicher Mittelweg. Man toleriert die Strassenprostitution zwar, aber nur solange sie ausserhalb der Stadt und zu bestimmten Zeiten stattfindet.

«In einer liberalen Gesellschaft wie der unseren darf es eigentlich nicht sein, dass wir eine Gruppe von Gewerbetreibenden – mit hohem Frauenanteil – aus unserer Stadt verdrängen», findet Brigitte Hürlimann. Viele gehen lieber das Risiko einer Busse ein und arbeiten illegal auf den Strassen der Innenstadt.

Besonders beliebt: die Langstrasse. Dort bieten an manchen Tagen 50 bis 60 Prostituierte gleichzeitig ihre Dienste an. Obwohl Fachstellen und Politiker*innen seit Jahren eine legale Langstrassen-Strichzone fordern, bleibt die Strassenprostitution dort bis heute offiziell verboten. «Alle wissen, Sexarbeit findet im Langstrassenquartier statt. Man ist aber nicht bereit, Sexarbeitende legal, z.B. auf der Strasse, arbeiten zu lassen. So müssen sie vonseiten Polizei vermehrt mit repressiven Polizeikontrollen und schweren Konsequenzen rechnen», sagt Nina Lanzi. So leben die dort arbeitenden Menschen in ständiger Furcht vor polizeilicher Repression.

Eine Frau, die als Sexarbeiterin tätig ist, geht auch mal ein Gipfeli einkaufen.

Brigitte Hürlimann

Brigitte Hürlimann bringt es auf den Punkt: «Eine Frau, die als Sexarbeiterin tätig ist, geht auch mal ein Gipfeli einkaufen oder geht der Langstrasse entlang, weil sie eine Freundin treffen und Kaffee trinken will. Dann aber riskiert sie eine Busse, weil ihr die Polizei ständig unterstellt, sie sei am Anschaffen. Das ist dieses elende Bild, das wir nicht aus unseren Köpfen kriegen: Eine Frau arbeitet aus unserer Sicht nicht als Prostituierte, sie ist Prostituierte.» Diese kollektive Wahrnehmung müsse umgehend geändert werden. Die Fachstelle für Sexarbeit XENIA sowie die Fachstelle für Frauenhandel und Frauenmigration FIZ sprechen deshalb lieber von Sexarbeit als von Prostitution, da dadurch der Aspekt der temporären Tätigkeit stärker betont wird. «Sexarbeit ist, in Abgrenzung zu der Prostituierten, keine Identität, sondern lediglich eine Rolle unter vielen anderen – wie beispielsweise die Rolle als Freund*in oder als Elternteil», erklärt Christa Amman.

Wer sich’s leisten kann, geht online

Wer sich unter Sexarbeitenden leicht bekleidete Mädchen am Strassenrand à la «Pretty Woman» vorstellt, sollte diese Stereotype vielleicht noch einmal überdenken. Obwohl es kaum verlässliche Zahlen gibt, kann davon ausgegangen werden, dass nur etwa ein Zehntel der circa 13’000 bis 20’000 hiesigen Sexarbeitenden ihre Dienste auf der Strasse anbieten.

Sexarbeit ist keine Identität, sondern lediglich eine Rolle unter vielen Anderen

Christa Amman

Ein Grossteil wirbt für sich im Internet. Solche Inserate sind von der PGVO weitgehend verschont worden. Häufig stehen die in der Strassenprostitution tätigen Menschen aber nur deshalb dort, weil sie sich die teuren Inserate nicht leisten können. «Es ist immer auch eine finanzielle Frage, wie Sexarbeitende für sich werben können, denn Inserate in Zeitungen und auf Webseiten sind in der Regel sehr teuer», bestätigt Nina Lanzi. Um dieser Realität entgegen zu wirken, hat der Kanton Genf in einem Pilotprojekt die Website Call Me To Play lanciert. Dort können Sexarbeitende nicht nur kostenlos inserieren, sondern auch unzählige Informationen über Menschenhandel, Geschlechtskrankheiten und sexuelle Gewalt finden. In Zürich steht ein solches Angebot noch in den Sternen.

Derzeit weht der politische Wind in Europa eher gegen alles Fortschrittliche: Bürgerliche Moralvorstellungen dominieren den politischen Diskurs um Sexarbeit und behindern so einen pragmatischen Umgang mit der Realität. Es ist einfach, zu vergessen, was man nicht sieht. Gerade deshalb ist es umso wichtiger, das Tabu zu brechen und über die Sexarbeit zu sprechen. Nur so erhalten diejenigen, die aus unserer Mitte verdrängt worden sind, ein Gesicht.

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