«Ich bin mutig, weil ich mit einem Boot über das Mittelmeer kam» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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19. Juli 2018 um 13:50

Aktualisiert 27.01.2022

«Ich bin mutig, weil ich mit einem Boot über das Mittelmeer kam»

Jede Woche besuchen rund 500 Menschen die Autonome Schule Zürich (ASZ) am Sihlquai. Während fast zwei Jahren unterrichte Seraina Manser am Mittwochnachmittag einen Deutschkurs mit 50 Teilnehmenden. In den Sommerferien erinnert sie sich nun an diese Schulstunden zurück.

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«Bildung für alle» prangt an der Türe des Schulbüros. Das «Office» im Parterre ist das Herz der Schule: Hier lösen neue Teilnehmende den Einstufungstest und Moderierende bereiten den Unterricht vor – in der ASZ gibt es keine Hierarchien, deshalb spricht man dort auch nicht von Lehrer*innen, sondern von Moderator*innen. Regale gefüllt mit Büchern, Ordnern und Spielen reichen bis zur Decke. Kurdische Lautenmusik schallt durch den Raum.

Ein mindestens so wichtiges Organ wie das Schulbüro ist das Café. 50 Rappen kostet eine Tasse aus der Kaffeemaschine. Den Kaffee bereitet man sich aber nicht selbst zu, sondern es sitzt immer jemand dort, der/die den Knopf drückt und einem die Tasse reicht. Drei Mal in der Woche kocht hier eine Gruppe Abendessen für alle. Im Café werden Kontakte geknüpft und auf Arabisch, Französisch und Tigrina – eine der neun (!) Nationalsprachen von Eritrea – diskutiert, während Reggaeton aus den Boxen wummert.

Die ASZ gibt es seit 2009, nach mehreren Umzügen ist sie zur Zeit am Sihlquai 125 beheimatet. Ein wichtiger Bestandteil der ASZ sind die kostenlosen Deutschkurse. Es gibt Klassen in sechs verschiedenen Niveaus. Ich unterrichtete mit zwei bis drei Kolleg*innen die Klasse mit dem tiefsten Niveau und gleichzeitig jene mit der höchsten Anzahl an Teilnehmenden. Der Rekord liegt bei 65 Personen. Aber nicht nur die hohe Anzahl an Teilnehmenden ist eine Herausforderung, sondern vor allem das Erklären. In den öffentlichen Schulen der Schweiz spricht der/die Lehrer*in meist unsere Muttersprache. Ich hingegen spreche kein Kurdisch, kein Paschtu, kein Tigrinya, kein Somali, kein Türkisch und – naja – drei Wörter auf Arabisch. Darunter « خلص» (ausgesprochen: Challas). Was so viel heisst wie «fertig», ein nicht zu unterschätzendes Wort in einer lauten Klasse.
Es waren sehr anstrengende und intensive Schulstunden. Nach dem Unterricht waren wir meist total fertig, verliessen aber das Klassenzimmer mit vielen neuen Erfahrungen.
So waren zum Beispiel einmal Adjektive Thema der Schulstunden.

«Ich bin mutig, weil...»
«Wer kann einen Satz mit dem Wort mutig formen?», frage ich. Die Teilnehmenden schweigen, starren auf ihre Tische. Damit ich sie ja nicht aufrufe. Dann halt ich: «Ich bin mutig, weil ich im Alter von fünf Jahren vom 10-Meter-Sprungbrett gesprungen bin.» Ein einfacher Satz, ein triviales Beispiel. Es meldet sich ein junger Mann aus Eritrea. Er sitzt in der hintersten Reihe, ist um die 20 Jahre alt und sagt leise: «Ich bin mutig, weil ich mit einem kleinen Boot über das Mittelmeer kam.»

«Niemand verlässt sein Land, wenn er nicht muss».
«Wann spricht man ‹st› als ‹scht› aus wie in Strasse und wann als ‹st› wie in Meister?», fragt mich ein etwa 50-jähriger Mann, als ich durch die Tischreihen gehe. Ich stutze, erkläre es ihm und und empfehle – mit Blick auf das fein säuberlich und korrekt ausgefüllte Aufgabenblatt – nach der Pause doch in eine höhere Klasse zu wechseln. Da beginnt er in fliessendem Englisch zu erzählen, dass er in einem Bunker in Uster wohne und dass er zuhause im Iran «Civil Engineer», also Bauingenieur war. Jetzt haust er seit zwei Monaten in einer Unterkunft ohne natürliches Licht. Er wollte weiter nach Norden, zu seinem Bruder in Holland. Das Ticket hatte er schon gekauft. Doch die Polizei hat ihn an der Grenze erwischt und ihn zurück geschickt. Er muss in dem Land bleiben, wo er als erstes registriert wurde. So will es das Dublin-Abkommen. Sein erster Asylantrag wurde abgelehnt, er sagt: «Niemand verlässt sein Heimatland, wenn er nicht muss. Ich musste fliehen». Sein durchdringender Blick geht mir immer wieder durch den Kopf. In der Woche darauf besucht er die Klasse nicht mehr. Auch in den darauffolgenden nicht...

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Flaggenkunde an der ASZ. (Foto: Christine Albrecht)

«Hey Teacher, wo warst du?»
Nach einer Woche Ferien bin ich wieder zurück in der Schule: «Hey Teacher, wo warst du?», schreit mir ein Schüler auf der Treppe entgegen. Sobald wir den Unterricht beginnen und jemand von uns drei Moderierenden fehlt, will jemand sofort wissen: «Wo ist sie? Wo ist er?»

«Es ist vorläufig, aber es ist besser als N»
Wegen eines Wasserrohrbruchs ist das Café seit drei Wochen geschlossen. Meistens treffe ich dort auf Saïd, bevor ich in die Klasse gehe. Heute aber nicht. Weil ich ihn schon lange nicht mehr gesehen habe, schreibe ich ihm eine Nachricht. Er antwortet mir: «Hallo! Mir geht es gut und dir? Ja, das Café ist noch zu und ich komme nur Montag und Mittwoch in die Schule. Und ich habe den F-Aufenthaltsstatus bekommen, es ist vorläufig, aber es ist besser als der N-Ausweis und ja, liebe Grüsse, Saïd, bis bald!»

Nur Regen
Nach dem Unterricht stehen wir draussen, es beginnt zu tröpfeln: «Ach nein, warum muss es jetzt regnen», sage ich. Ein grosser Afghane, der gerade die Kinder der Teilnehmenden betreut hat, während diese den Unterricht besuchten, meint achselzuckend: «Hier fällt nur Regen vom Himmel, in anderen Ländern Bomben».

Ramadan
Es ist Ramadan. In der Klasse sind deshalb nur etwa 20 Leute. Einer davon ist ein 21-Jähriger aus dem Nordirak. «Machst du Ramadan?», frage ich ihn. Er tritt näher und flüstert: «Nein, aber pssst, meine Eltern dürfen das nicht wissen». Ich flüstere zurück: «Sind sie hier?». Er antwortet: «Nein, in meinem Land.» Ich flüstere zurück: «Ich werde es ihnen nicht sagen».
Nach nur sechs Monaten in der Schweiz spricht er fast fliessend Deutsch und will später wissen, was genau der Unterschied zwischen «wertvoll» und «kostbar» sei. Als ich ihm sage, dass solche Fragen in die Klasse mit dem höchsten Niveau gehören, lacht er nur.

Der Abschied
Daniel geht zurück. Ein Jahr lang sass er stets in der ersten Reihe, war vorlaut und immer gut gelaunt. Er schrie manchmal Antworten, obwohl er wusste, dass sie falsch waren. Heute ist er ruhiger als sonst. Am Schluss meint er: «Es ist das letzte Mal, dass ich hier bin. Am Mittwoch fliege ich zurück nach Kurdistan». Er hat keinen positiven Asylbescheid bekommen und sieht für sich keine Zukunft in der Schweiz. Er sei nicht traurig und freue sich, seine Eltern bald wieder zu sehen, sagt er. Seinen Eltern bringt er aus der Schweiz ein «trennbares Verb» mit, scherzt er. Wir verabschieden uns für immer. Ich sage ihm zum Abschied: «Er solle sein Deutsch nicht verlernen». Zu diesem Zeitpunkt spricht er es fliessend.

«Ich bleibe bei euch»
Das Semester neigt sich dem Ende zu. Ein Einstufungstest steht auf dem Plan. Wer mehr als 20 Punkte hat, soll ins höhere Niveau, Pfeil B, aufsteigen. Die Teilnehmenden schreiben sich gegenseitig ab und lachen verschmitzt, wenn wir sie mit «He, Einzelarbeit!» ermahnen. Nachdem wir den Test korrigiert zurückgegeben haben, meint Hadi, der 30 Punkte erzielt hat: «Ich bleibe aber bei euch.»

Möchtest du selbst an der Autonomen Schule mithelfen? Am besten gehst du im Schulbüro am Sihlquai 125 vorbei. Es ist ab dem 20. August wieder montags, mittwochs und freitags von 10 bis 17 Uhr geöffnet.

Mehr Infos gibt es auf www.bildung-fuer-alle.ch

Aus Rücksicht auf die Personen zeigen wir keine Gesichter auf den Bildern und haben die Namen geändert.

Titelbild: Seraina Manser

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