Verletzt die Schweiz mit ihrer Klimapolitik Menschenrechte? - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Lara Blatter

Co-Geschäftsleitung & Redaktorin

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17. März 2023 um 05:00

Anwältin Cordelia Bähr: «Klimaschutz ist ein Menschenrecht»

Schweizer Seniorinnen verklagen die Schweiz am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, weil sie zu wenig für Klimaschutz mache und so ihre Menschenrechte verletzte. Ende März findet die erste Anhörung in Strassburg statt. Mittendrin die Zürcher Rechtsanwältin Cordelia Bähr.

Rechtsanwältin Cordelia Bähr ist das juristische Gesicht der Klimaseniorinnen. (Foto: Walter Bieri)

Lara Blatter: Seit acht Jahren arbeiten Sie zusammen mit Greenpeace am Fall der «KlimaSeniorinnen». Am 29. März wird er nun vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg verhandelt. Wie geht es den Seniorinnen im Hinblick auf diesen Tag?

Cordelia Bähr: Diese Frauen kämpfen dagegen, dass die Schweiz ihre Menschenrechte durch ungenügendem Klimaschutz verletzt. Der Verein zählt über 2000 Mitglieder, entsprechend kann ich nicht sagen, wie es den einzelen Frauen geht. Generell schauen sie mit grosser Freude auf Ende März. Wir haben lange darauf hingearbeitet. Ich habe selten so engagierte Menschen erlebt. Die Klimaseniorinnen kämpfen mit Herzblut für ihre Menschenrechte und damit für besseren Klimaschutz. 

Ihr Vorwurf lautet, dass die Regierung in Bern tue zu wenig, um die Seniorinnen vor den Folgen der Klimakrise zu schützen. Mit ihrer Politik verletze sie das Recht auf Leben und das Recht auf Privat- und Familienleben. Hat der politische Weg versagt? 

Seit Jahrzehnten wissen wir vom menschengemachten Klimawandel. 1992 hat die Schweiz die Klimarahmenkonvention unterzeichnet. Dort steht in Artikel 2: Wir müssen einen «gefährlichen Klimawandel» verhindern, was heute gleichbedeutend ist mit einer Erderwärmung über 1,5 Grad. Trotzdem sind die Emissionen seit den 90er-Jahren in der Schweiz kaum gesunken und die selbst gesteckten Klimaziele sind nicht erreicht worden. Das alleine deutet darauf hin, dass die Politik ihre Aufgabe nicht gemacht hat. 

Deshalb gehen Sie nun den juristischen Weg?

Für einen menschenrechts- und verfassungskonformen Klimaschutz sind das Parlament und die Verwaltung genauso in der Verantwortung wie die Gerichte. Gerade die Verwaltung vergisst man in dieser Debatte oft. Dabei sind sie die Fachexpert:innen vom Bund, die das Parlament beraten und die Verfassungsmässigkeit von neuen Gesetzesentwürfen beurteilen. Doch was ist, wenn das Parlament und die Verwaltung ihre Aufgabe nicht wahrnehmen? Dann sind die Gerichte zuständig, um Menschenrechtsverletzungen zu beurteilen und festzustellen. 

Die Klimaseniorinnen sehen ihre Menschenrechte verletzt: Der Bund tue zu wenig für Klimaschutz. (Foto: Kathrin Grissemann / Ex-Press)

Die Schweiz sieht das anders: Sowohl die Regierung als auch das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesgericht haben die Beschwerde abgewiesen. Warum?

Die Schweizer Gerichte haben die Debatte bereits an der Eintrittspforte vom Gericht beendet. Alle drei Instanzen mit jeweils einer anderen Begründung. Das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) meinte, die Seniorinnen wollen die Emissionen nicht in ihrer Umgebung reduziert haben, sondern global. Darum seien keine individuellen Rechte betroffen. Das Bundesverwaltungsgericht meinte: Es seien alle – Tourismus, Pflanzen, Landwirtschaft, et cetera –, aber die Seniorinnen nicht besonders betroffen. Und das Bundesgericht sagte, dass die Rechte der Seniorinnen und auch von sonst niemandem zum heutigen Zeitpunkt genügend intensiv betroffen seien, weil wir noch Zeit hätten, um den Klimawandel und somit die Erhitzung zu stoppen.

Sie sprechen von «besonders betroffen». Ist der Verein «KlimaSeniorinnen» deshalb entstanden, weil Studien belegen, dass alte Menschen besonders unter Hitze leiden?

Ja. In der Schweiz ist es Voraussetzung, dass man aktuell, sprich heute, und besonders betroffen sein muss, um ein Verwaltungsverfahren durchlaufen zu können. Also fragte ich mich: Wer ist vom Klimawandel schon heute  stark oder gar am meisten betroffen? Es klingt abstrakt, aber vor diesem Hintergrund ist dann auf Initiative von Greenpeace hin diese Gruppe von älteren Frauen entstanden. 

Der allgemeine Charakter des Klimawandels lässt sich ja in vielen Belangen schlecht fassen und ist für viele Menschen abstrakt. Wie wollen Sie beweisen, dass die Schweiz Schuld hat und die Seniorinnen zu wenig schützt?

Es gibt viele Studien und Daten, die zeigen, dass ältere Personen – darunter insbesondere Frauen und Menschen mit Atemwegs- und Herzerkrankungen – ein stark erhöhtes Sterberisiko während der klimabedingten Hitzeperioden haben. Die Beweislage ist dementsprechend gut. Die Schweiz selbst kommuniziert dies auf ihren Webseiten. Während Hitzeperioden gibt die Verwaltung Empfehlungen für ältere Menschen raus: trinken, Läden runter, im Haus bleiben. Dass Hitzewellen für alte Menschen gefährlich sind, ist im Grundsatz unbestritten.

«Für die älteren Menschen ist die Erhitzung des Klimas keine abstrakte Sache.»

Cordelia Bähr

Zwar unbestritten, aber man nimmt es offensichtlich zu wenig ernst. Hochwasser, Hitzeperioden und Dürren gibt es, aber hier in der Schweiz betrifft die Klimakrise noch nicht die breite Masse. 

Vielleicht nicht die breite Masse, aber die Seniorinnen leiden im Sommer, was sie eindrücklich in zahlreichen Schreiben an den EGMR schildern. Auch belegen die Arztzeugnisse der Einzelklägerinnen, die neben dem Verein «KlimaSeniorinnen» Partei sind, dass sie hitzebedingte Beschwerden haben. Für die älteren Menschen ist die Erhitzung des Klimas keine abstrakte Sache. Sie warten zuhause mit heruntergelassenen Rollos, bis die Hitzephasen endlich vorbei sind. In den letzten Hitzeperioden gab es in der Schweiz Hitzetote im drei- bis vierstelligen Bereich.

Können Gerichte überhaupt über derart komplexe gesellschaftliche und politische Fragen rund um die Klimakrise entscheiden? 

Ja, denn so komplex ist die Forderung gar nicht. Die Klimaseniorinnen fordern nicht mehr, als das, was die Schweiz sich selbst zum Ziel gesetzt hat. Auf internationaler Ebene hat sich die Schweiz zum 1,5 Grad Limit bekannt. Verschiedene Studien zeigen klar, dass die Politik diesem Versprechen mit der derzeitigen und geplanten Klimapolitik nicht nachkommt.

Die Verhandlung wird historisch. Zum ersten Mal überhaupt überprüft der EGMR in einer öffentlichen Verhandlung, inwiefern ein Staat wie die Schweiz die Treibhausgasemissionen stärker reduzieren muss, um die Menschenrechte der eigenen Bevölkerung zu schützen. Wenn die Schweiz verurteilt wird: Was bedeutet das für die weltweite Klimapolitik?

Es wird stark darauf ankommen, wie der Entscheid begründet ist. Und aufgrund von welchen Rechtsverletzungen die Schweiz verurteilt wird. Es gibt da diverse Varianten. Kommt der Gerichtshof im Grundsatz zum Entschluss, dass die Schweiz mit ihrer Klimapolitik die Menschenrechte verletzt, muss der Bund die Klimagesetzgebung anpassen. 

Die dann aber auch wieder gekippt werden können. Jedes gut gemeinte Gesetz kann mit einem Referendum zu Fall gebracht werden. Im Juni 2021 wurde auf diese Weise das neue CO2-Gesetz zu Fall gebracht. Haben wir punkto Klimawandel ein Problem mit unserem direktdemokratischen System? 

Die Schweiz hat die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) unterzeichnet und die Schweizer Stimmbevölkerung hat sich im Rahmen des direktdemokratischen Systems 2018 mit der Ablehnung der «Selbstbestimmungsinitiative» erneut zu den Menschenrechten bekennt. Die Seniorinnen erwarten von der Schweiz und allen Akteur:innen, dass der Entscheid des Gerichtshofs akzeptiert und in nationale Rechte umgesetzt wird. Die Entscheide des EGMR sind verbindlich. 

«Wenn die Menschenrechte keine Antwort auf die grösste Herausforderung der Gegenwart geben können, sind sie gescheitert», sagte ein Professor für Umweltvölkerrecht an der Universität Zürich zur NZZ. Würden Sie das so unterzeichnen?

Ja. Die 17 Richter:innen in Strassburg tragen eine grosse Verantwortung sowohl den Menschenrechten als auch dem Klima gegenüber.

Dem Verein «KlimaSeniorinnen Schweiz» können Frauen ab 64 Jahren beitreten, das Durchschnittsalter ist 73 Jahre. (Foto: Greenpeace / Joël Hunn)

Brauchen wir härtere Strafen oder Massnahmen, damit die Klimakrise ernst genommen wird? 

Ich will mich nicht auf einzelne Massnahmen festlegen, das ist die Aufgabe der Politik. Es gibt viele Wege, die zum Ziel führen. Da ist der Kreativität keine Grenzen gesetzt. 

Die Klimaseniorinnen klagen aufgrund ihrer eigenen Gesundheit, die gefährdet ist. Der Sieg hätte aber eine viel grössere Auswirkung. Warum ist der Fall auch weit über die Schweiz hinaus wichtig?

Die Beschwerde der Klimaseniorinnen und der vier Einzelklägerinnen ist eine von drei Klimaklagen, die der EGMR vor der Grossen Kammer verhandeln wird. Inwiefern ist das Klima relevant fürs Menschenrecht? Diese Frage steht zentral im Raum und der EGMR wird wohl anhand von diesen drei Fällen die diesbezüglichen Leitplanken bestimmen. Es geht nicht nur um die Schweiz, welche gegebenenfalls zu mehr Klimaschutz verpflichtet würde, der Fall betrifft alle Staaten des Europarates. Die Entscheide des EGMR stellen wichtige Präzedenzfälle für zukünftige Klima-Fälle dar und haben Gewicht, auch weit über Europa hinaus. Weltweit gibt es schon über 2000 Klima-Klagen.

«Die Chancen stehen so gut wie noch nie.»

Cordelia Bähr über die bevorstehende Verhandlung.

Fälle wie die Klimaseniorinnen oder Aktivist:innen, die vor Gericht landen, weil sie Strassen blockieren, gibt es immer mehr. Andere Klagen gehen gegen private Unternehmen. So wurde Shell 2021 verpflichtet, seine Treibhausgasemissionen bis 2030 drastisch zu reduzieren. Oder dem Zürcher Bezirksrichter Roger Harris wurde gar vorgeworfen, er urteile zu aktivistisch, weil er nicht mehr bereit war, friedliche Demonstrant:innen schuldig zu sprechen. Ist unser Rechtssystem auf den Klimawandel vorbereitet?

Was die Seniorinnen geltend machen, ist eine korrekte Umsetzung und Anwendung des geltenden Rechts. Eine Anpassung ist diesbezüglich nicht notwendig. Die Menschenrechte sind offen formuliert. Es ist heute von vielen Seiten unbestritten, dass Klimaschutz ein Menschenrecht ist. 

Wie stehen die Chancen in Strassburg?

Die Chancen stehen so gut wie noch nie, dass der Gerichtshof feststellen wird, dass die Menschenrechte der Seniorinnen von der Schweizer Klimapolitik verletzt werden. 

Hat die Schweiz Angst vor Ihnen als Klimaanwältin?

Nein, das denke ich nicht. Meine Aufgabe ist es, die Seniorinnen in meiner Rolle als Anwältin zu vertreten und ihre Menschenrechtsverletzung geltend zu machen. Die Entscheidung treffe nicht ich, sondern der Europäische Menschengerichtshof. Stellt der EGMR eine Menschenrechtsverletzung fest, bedeutet das mehr Klimaschutz; vor mehr Klimaschutz braucht niemand Angst zu haben.

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