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Von Lara Blatter

Co-Geschäftsleitung & Redaktorin

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14. Juni 2020 um 06:00

Lieber ins Gefängnis als Wehrpflichtersatz zahlen

Seit drei Jahren zahlt Alex keinen Wehrpflichtersatz mehr. Nicht, weil er nicht kann, sondern weil er «leidenschaftlicher Antimilitarist» ist. Statt der Schweizer Armee schliesst er sich der Clown Army an.

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Mai 2017: An antimilitaristischen Aktionen teilnehmen und Tage später braver Bürger spielen? Damit war Schluss für Alex. (Foto: zVg)

Ich treffe Alex* auf einem ehemals militärisch genutzten Areal – dem Kasernenareal. Keine Absicht, laut Alex. Er mag diesen Ort und ist öfters wegen dem Amt für Freiraum hier. Das Militär assoziiert er mit Disziplin, Ordnung und strikten Hierarchien – alles Dinge, die in ihm eine grosse Abneigung auslösen. Soldat*innen müssten sich wie Roboter verhalten und ihre Persönlichkeit und eigenes Denken ablegen. Alex zahlt seit 2017 keine Wehrpflichtersatzabgabe mehr, er weigert sich und wendet sich mit ausführlich von handgeschriebenen Briefen an die zuständigen Stellen:

«Liebe Mitarbeiter*innen der Wehrpflichtersatzabgabe-Stelle

Mein Name ist Alex und ich achte stets das Individuum und ich hege eine unüberwindliche Abneigung gegen strukturelle Gewalt. Aus diesen Motiven bin ich ein leidenschaftlicher Antimilitarist ... »

Mahnungen, Betreibung und eine Pfändung. Alex besitzt wenig, geht keiner regelmässigen Lohnarbeit nach und hat keine eigene Wohnung – zu pfänden gibt es nicht viel, er geht davon aus, dass Verlustscheine ausgestellt werden. «Wird der nächste Schritt der Behörden jener einer Gefängnisstrafe sein?», fragte sich der 32-Jährige auch schon. Ins Gefängnis wird er nicht gehen. Aber von Anfang an:

Clown Army statt Militär

Alex ist Teil einer Clown Army, deren Aktivist*innen als Clowns verkleidet eine Art Armee bilden. «In der Begegnung von Polizei und Clowns entsteht ein spannender Zwischenraum, Positionen heben sich auf und im besten Fall wird gelacht», sagt Alex und erzählt, dass 2017 nach einem «Clown Army Einsatz» prompt die Rechnung für die Ersatzabgabe im Briefkasten lag. An antimilitaristischen Aktionen teilnehmen und Tage später braver Bürger spielen, regelkonform bezahlen und so Probleme vermeiden – damit war Schluss für ihn: «Ich konnte diesen Widerspruch nicht vereinbaren, ich fühlte mich scheinheilig. Ich schrieb den Behörden einen Brief, dass sie nicht warten müssen, ich würde ab sofort nicht mehr bezahlen.»

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«We are clandestine because we refuse the spectacle of celebrity and we are everyone. Because without real names, faces or noses, we show that our words, dreams, and desires are more important than our biographies», so der einleitende Satz des Manifest der Clandestine Insurgent Rebel Clown Army. (Foto: zVg)

Die Militärdienstpflicht startet mit der Vollendung des 19. Lebensjahres und endet im Alter von 37 Jahren. In dieser Zeitspanne haben Dienstuntaugliche die Ersatzabgabe während höchstens 11 Jahren zu zahlen. Die Ersatzabgabe beträgt 3 Prozent des steuerbaren Einkommens, mindestens aber 400 Franken pro Jahr. Der Beitrag von Ersatzpflichtigen belief sich laut Eidgenössischer Steuerverwaltung schweizweit im Jahr 2019 auf 168 Millionen Franken und fliesst grösstenteils in die allgemeine Bundeskasse. Im Kanton Zürich belaufen sich die Einnahmen auf rund 7 Millionen Franken, neben Armee und Bevölkerungsschutz kommt das Geld vor allem Bereichen wie Sozialer Wohlfahrt, Bildung, Verkehr, Landwirtschaft und dem Gesundheitswesen zu gute.

Dass der Wehrpflichtersatz nicht direkt das Militär finanziert, spielt für Alex keine Rolle, die Abneigung überwiegt. Der Staat verlange im Militär den Einsatz vom Leben, sterben für die Idee von Staat, wenn’s drauf ankommt. «Dafür bin ich nicht bereit, das ist doch schräg. Ich schulde dem Staat nichts, der Gesellschaft schon. Aber hier denke ich in anderen Kategorien.»

Seit 1996 besteht in der Schweiz die Möglichkeit einen Zivildienst zu leisten, zuvor landeten Dienstverweigerer im Gefängnis. Am 4. Juni beschloss das Parlament eine Änderung des Zivildienstgesetzes: Die Zulassung zum Zivildienst soll erschwert werden. Hintergrund der Gesetzesänderung ist die Sorge um die Bestände bei der Armee, so der Tagesanzeiger. Bürgerliche Politiker*innen begrüssen die Änderungen, nicht so die Linken. Der Zivildienstverband Civia ergreift das Referendum, zusammen mit den Grünen, der SP und der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) sammeln sie ab dem 30. Juni Unterschriften. «Dieser Entscheid ist gerade jetzt absolut unverständlich. Wie unerlässlich die Leistungen der Zivildienstleistenden in den rund 5000 Einsatzbetrieben sind, hat uns die Coronakrise unmittelbar vor Augen geführt», so das Referendumskomitee auf ihrer Homepage. Für Alex sei der Zivildienst keine Option. Viele Männer im Zivildienst leisten tolle Arbeit, würden aber wirtschaftlich ausgebeutet. Kritisch, findet er.

Handgeschriebene Briefe und viel Bürokratie

Alex blättert durch seinem Ordner, akribisch sortiert er die Korrespondenz zwischen den Behörden und ihm. Einen handgeschriebenen Brief liest er vor:

«Einige Fragen zu meinem Lebensstil werden Sie sicherlich haben, darum nehme ich mir die Zeit für ein paar Ausführungen. Beigelegt finden Sie meine Bank- und Steuerauszüge, die Ihnen über meine bescheidenen Verhältnisse Auskunft geben. Es sind keine Vermögenswerte vorhanden, zudem erwirtschafte ich seit drei Jahren kein Einkommen mehr. In dieser Zeit habe ich von meinem Ersparten gelebt und ich habe mein Engagement verstärkt, soziale Netzwerke aufzubauen, die es mir ermöglichen Arbeit und Organisation im Leben anders zu gestalten als viele Mitmenschen, die einer Lohnarbeit nachgehen. [...] Von aussen betrachtet, könnte man meinen, dass ich von der Hand in den Mund lebe. Daran ist sicher auch etwas Wahres dran, ich will meine finanzielle Situation sicher nicht beschönigen. Ich weiss aber, das Geld allein keine richtige Sicherheit gibt. Mein Lebensstil ist auch ein Versuch, nachhaltige, solidarische Strukturen unter Menschen aufzubauen.»

Auf seine Briefe gehen die Behörden nicht ein, formelle Antworten bekomme er zurück. Einmal musste er ein Formular ausfüllen – nicht ganz einfach, wenn man weder einer regelmässigen Lohnarbeit nachgeht noch einen permanente Adresse hat. «Überall füllte ich eine Null ein, das haben sie nicht so ernst genommen», sagt Alex, «Leute, wie ich, die sich anders im Leben organisieren, passen nicht ins Raster der Schweizer Bürokratie.»

Mit seinen Briefen will er in persönlichen Austausch mit den Behörden treten. Mit der Hoffnung, dass er die Sachbearbeiter*innen zu Gedanken und Diskussionen anregen kann, die sie sonst vielleicht nicht hätten. Er antwortet auf jede Zahlungsaufforderung meist handgeschrieben. Doch während er immer ausführlicher wird, kommt nur spärlich was zurück. Ein nächster Brief wird er an Bundesrätin Viola Amherd adressieren, die das Departement Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport inne hat. «Vielleicht wird mir irgendwann etwas erlassen, weil der Staat zu viel Büroaufwand mit mir hat», sagt Alex. Dass sei doch etwas naiv – er lacht, so sei er nunmal. Er träume gerne.

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Foto: Lara Blatter

Die Kunst, seine Schulden zu zahlen

Den eingeschlagenen Weg bereut Alex nicht: «Ich habe mich entschieden und werde die Konsequenzen bis zum Schluss tragen.» Ausserdem hätte er etwas falsch gemacht, wenn er eines Tages wegen Schulden im Gefängnis lande. Er grinst und erzählt vom Buch «Die Kunst, seine Schulden zu zahlen und seine Gläubiger*innen zu befriedigen, ohne auch nur einen Sou selbst aus der Tasche zu nehmen». Honoré de Balzac schreibe über verschiedenste Arten von Schulden, deren Tilgung und über ethische Dimensionen davon. Balzac gebe zudem Ratschläge zum Umgang mit Gerichtsvollzieher*innen und Gläubiger*innen. «Es geht darum, dass du Schulden zuerst anerkennen musst. Wenn du das tust, musst du sie begleichen; das muss aber nicht immer ein finanzieller Ausgleich sein. Hauptsache du stellst deine Gläubiger*innen auf irgendeine Art und Weise zufrieden», so Alex über das Buch. Die Wehrpflichtersatzabgabe als Schuld anerkennt er nicht. Von der «lustigen Prosalektüre» zurück zum Thema Gefängnis – Alexs Miene wird wieder ernst.

Anfangs dachte er, ihm drohe eine Gefängnisstrafe. Im Militärstrafrecht gibt es zwar Freiheitsstrafen für «Militärdienstverweigerung und Desertion», darunter fällt er aber nicht, die Strafbestimmungen sind nicht auf ihn anwendbar. Betreibungen und Pfändungen werden im Schuldbetreibungs- und Konkursrecht behandelt und Menschen, die ihre Rechnungen nicht zahlen können, landen noch lange nicht hinter Gitter. «Eine Weigerung zur Bezahlung führt zu einer Betreibung und eventuell zu einem Verlustschein. Gefängnisstrafen gibt es nicht», so die Eidgenössische Steuerverwaltung.

Die Mauern in unsere Köpfen finde ich viel schlimmer.

Alex

Dass man Menschen wegsperre, sei ein komisches Zeichen der Gesellschaft. Er wolle das Gefängnis nicht schönreden: «Aber die Mauern, die wir in unsere Köpfen bauen – die Mauer die sagt, ich muss diesen Wehrpflichtersatz zahlen, sonst bekomme ich Probleme – diese finde ich viel schlimmer.» Diese Mauern würden gesellschaftliche und persönliche Entwicklungen verhindern. Alex schmunzelt wieder und zitiert den Clown Philippe Gaulier: «Who knows where we are going to but it is nice to discover, isn't it?»

*Name der Redaktion bekannt

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