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27. Mai 2016 um 11:55

Leben und sterben im Praktikum

Es ist Freitagabend, 20.00 Uhr. Während die Strassencafés schon überfüllt sind mit Menschen, die sich bunt-sprudelnde Drinks in den Rachen schütten und dem Wochenende frönen, verlässt Petra mit eiligem Schritt das Büro ihrer Werbeagentur. In einer halben Stunde beginnt ihre Schicht in der Bar, einem ihrer Nebenjobs. Daneben gibt sie regelmässig Deutsch- und Mathenachhilfe.

Wieso Petra drei Jobs hat? Weil sie Praktikantin ist und sich nur dank den Nebenjobs finanziell über Wasser halten kann. Um ihrem Traumjob einen Schritt näher zu kommen, hat sie sich anfangs Jahr für ein Praktikum in einer Werbeagentur entschieden. Trotz abgeschlossenem Masterstudium und dem Wunsch das Studentenleben endlich hinter sich zu lassen, musste sich Petra gezwungener Massen für ein Zweitstudium immatrikulieren. Um noch etwas länger in der Studentenwohnung bleiben zu können und weiterhin von den ermäßigten Preisen zu profitieren. Wie Petra ergeht es auch vielen anderen jungen Leuten in der Stadt Zürich. Und wenn man nicht direkt selbst davon betroffen ist, kennt man sicherlich einige Bekannte, die gerade in ähnlichen Situationen stecken. Sind wir neben Digital Natives, der «Generation What?» auch immer noch die «Generation Praktikum»?

Vor rund zehn Jahren prägte der ZEIT-Autor Matthias Stolz den Begriff «Generation Praktikum». Er verband damit ein negatives Lebensgefühl, vor allem verbreitet unter jungen Akademikern, die potentielle Lücken im Lebenslauf mit unterbezahlten Praktika zu überbrücken versuchten. 2006 ging ein Aufschrei durch die deutsche Medienlandschaft. In einer landesweiten medialen Debatte fragte man sich, ob die hochqualifizierte deutsche Jugend auf dem Arbeitsmarkt ausgebeutet werde. Auch das Bundesamt für Statistik untersuchte daraufhin den Übergang vom Studium in die Berufswelt und die damit verbundenen Arbeitsbedingungen in der Schweiz.

«Die Analyse «Generation Praktikum» aus dem Jahr 2007 wurde nicht nochmal neu durchgeführt, weil die Praktikumsquote und die strukturellen Befunde sich nicht gravierend verändert haben», stellt das Bundesamt für Statistik auf Anfrage klar. Eine etwas weniger umfassende Untersuchung aus dem Jahr 2013 gibt zwar keine Auskünfte über Löhne und Arbeitsbedingungen, dafür aber über die Studienrichtungen der Praktikantinnen. Neben Abgänger der rechtswissenschaftlichen Fakultäten, weisen die Absolventen der Geistes- und Sozialwissenschaften die höchste Praktikumsquote auf.

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Mit über 10'000 Studierenden pro Semester und 39.2 Prozent aller Abschlüsse der Universität Zürich, stellt die philosophische Fakultät die grösste Anzahl jener, die in die Praktikumsfalle tappen können.

Diesem Thema nahm sich SP-Nationalrat Matthias Reynard im Herbst 2015 an. In der Interpellation mit dem Titel «Praktika nach der Ausbildung. Bekämpfung von Missbräuchen» forderte den Bundesrat auf, sich zur Thematik der missbräuchlichen Praktika, hinter denen sich oft «echte» Anstellungen verbergen, Stellung zu nehmen. Für die Regierung besteht jedoch kein dringender Handlungsbedarf. Die Antwort des Bundesrates lautete: «Wie aus den Längsschnittbefragungen des BFS hervorgeht, ist das Praktikum nach dem Hochschulabschluss eine typische Einstiegslösung. So übten lediglich 1,2 Prozent des Absolventenjahrgangs 2008 fünf Jahre nach Erlangung des Masters (2013) noch ein Praktikum aus. Die Praxis bei Praktika liefert somit keine Anhaltspunkte, wonach diese zu einem Einfallstor für missbräuchliche Lohn- und Arbeitsbedingungen für junge Berufseinsteiger geworden wären».

Auch der Bundesrat stützte sich bei seiner Aussage auf die Auswertung des BFS 2013. Jedoch wurde darin lediglich untersucht, ob und wie lange sich Absolventen von Hochschulen einem Praktikum unterzogen. Wie die effektive Ausgestaltung der Praktika aussieht, ob sie wirklich primär der Ausbildung dienen und wie der konkrete rechtliche Rahmen aussieht, wurde nicht erhoben.

Praktikum: Gesetzlicher Graubereich?
Das Schweizer Arbeitsrecht gehört zu den liberalsten Europas. Die vertraglichen Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern werden im Wesentlichen durch das Schweizerische Obligationenrecht festgelegt, viele Vorschriften können durch die Vertragsparteien abgeändert werden.

Dennoch bietet das Gesetz, vor allem Personen in Ausbildung, Schutz vor Ausbeutung. In der Lehrausbildung beispielsweise sind Arbeitszeiten, Überstunden, Lohn und Ferien oft bis ins Detail im Gesetz oder in branchenspezifischen Gesamtarbeitsverträgen geregelt. Nicht so bei Praktika. «Im Gesetz gibt es keinen klaren Grundsatz, der die rechtlichen Rahmenbedingungen eines Praktikums definiert», schreibt Reynard in seiner Interpellation. Es herrscht folglich ein grosser gesetzlicher Graubereich. Rechtlich gilt ein Praktikum als befristetes Arbeitsverhältnis – es besteht weder Kündigungsschutz noch Lohnfortzahlung bei Krankheit. Rahmenbedingungen und Mindestlöhne für Praktika sind nur punktuell in den Gesamtarbeitsverträgen festgelegt, beispielsweise im Gastgewerbe oder beim Bund – allerdings nur für Praktika im Rahmen einer Ausbildung.

Viel häufiger ist man als Praktikant aber rechtlich kaum vor Ausbeutung geschützt.  Dass es an eindeutig definierten gesetzlichen Vorgaben für Praktika mangelt, bestätigt auch Michael Moser, Jugendsekretär von Syndicom, der Gewerkschaft für Medien und Kommunikation. «Oftmals ist es schwierig zu beurteilen oder gar zu beweisen, inwieweit und ob ein Praktikum Ausbildungscharakter hat. Es braucht eine klare Definition, welche Ausbildungsinhalte ein Praktikum erfüllen soll. Diese Vereinbarungen müssen zwingend in einem Vertrag festgehalten werden. Nur so wissen PraktikantInnen genau, worauf sie sich einlassen und können dann auch überprüfen, ob die versprochenen Ziele erfüllt werden», so Moser. Auch der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) äussert Bestrebungen in diese Richtung. Um Praktikanten vor Ausbeutung zu schützen, brauche es Rahmenbedingungen und Mindestlöhne für Praktika, die in den Gesamtarbeitsverträgen branchenübergreifend festgelegt werden müssen, teilt der SGB mit.

Der Muster-Praktikant ist günstig, gut ausgebildet und fleissig
Eine nicht repräsentative Umfrage unter Uni-Zürich Abgängern, die an der philosophischen Fakultät studierten, zeigt, dass die meisten Erfahrungen mit Praktika haben. Zwar wird die Arbeit vielfach als interessant, extrem lehrreich und spannend beschrieben – doch immer wieder mit einem fahlen Beigeschmack. Dem Beigeschmack des Ausgenutzt-Werdens.

Eine Marketing-Praktikantin berichtet mir von einer Kündigungsfrist von sechs Monaten. «Der Job gefällt mir, ich konnte von Anfang an sehr viel Verantwortung übernehmen und selbstständig arbeiten. Ich habe bis anhin sehr viel gelernt und profitiere extrem davon. Trotzdem holt mich der Gedanke ausgebeutet zu werden vielfach wieder ein». Ein in der Eventbranche tätiger Praktikant berichtet von Abend- und Wochenendeinsätzen, die weder ausbezahlt noch kompensiert werden. «Da fragt man sich irgendwann schon, ob der Lernwert und die gesammelten Erfahrungen die gratis geleisteten Überstunden wirklich decken».

Weiter gehören auch tiefe Löhne zum Alltag eines Praktikanten. «Die Arbeit mache ich echt gerne, doch bin ich jeden Monat froh, wenn es irgendwie aufgeht und ich nicht im Minus bin», beschreibt eine im Museum arbeitende Praktikantin ihre Situation. Viele Praktikanten immatrikulieren sich für ein Zweitstudium, um weiterhin von den günstigeren Studentenpreisen profitieren zu können. Nicht selten verdient jemand in einem 100-Prozent-Praktikum weniger als mit einer 40-Prozent-Teilzeitstelle während dem Studium.

Der Muster-Praktikant scheint fleissig, selbständig, gut ausgebildet und günstig zu sein. Dazu erledigt er auch noch so banale Arbeiten. Die gezahlten Löhne sind, trotz Hochschulabschluss, oft weit unter dem Branchendurchschnitt. Die vom UZH Career Service empfohlene Ideallänge eines Praktikums beträgt drei bis sechs Monate. Eine kurze Recherche auf einigen Jobplattformen zeigt aber: Ausgeschrieben werden am häufigsten einjährige Praktika. Dennoch werden diese zum Teil prekären Bedingungen alle hingenommen. Oft mit der Aussage «dann schlucke ich halt ein Jahr lang Staub», um der Aussicht auf einen festen Job einen Schritt näher zu kommen.

Das Praktika-Ansammeln
Ein Bachelor-Studium an der Universität Zürich – vor allem in den Sozial- und Geisteswissenschaften – ist primär wissenschaftlich basiert und hat kaum praktischen Bezug. Der Start mit einem Praktikum fördert die Integration in die Arbeitswelt und dient auch dazu, herauszufinden, ob der der richtige Beruf gewählt wurde. Es ist eine grosse Hilfe mit etwas Unterstützung und Begleitung in eine Branche einzusteigen. Jedoch haben Bachelor- oder Masterabsolventen eine extrem gute Ausbildung. Sie haben meist während dem Studium gearbeitet und können bereits einige Jahre an Arbeitserfahrung vorweisen. Sie sind alles andere als blutige Anfänger, egal in welchem Bereich sie bereits tätig waren. Auch ein Job in einer Bar lehrt den Umgang mit Kunden oder in Stress-Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren. Ein Praktikum ist folglich nicht das gleiche wie eine Berufslehre nach der obligatorischen Schule. Obwohl viel kürzer, ist es bereits ein weiterer Schritt.

Viele Unternehmen sehen Praktika leider als Möglichkeit, hoch qualifizierte Arbeitnehmer für einen Minimallohn einzustellen. Begründet wird dies mit der fehlenden beruflichen Erfahrung. Obwohl ein Praktikum ja eigentlich dazu da wäre, die fehlende berufliche Erfahrung zu sammeln. Dieses Phänomen ist auch dem UZH Career Service nicht fremd. «Es ist der UZH bekannt, dass es Fälle gibt, wo Arbeitgeber Praktikanten einstellen, die bereits mehrere Praktika absolviert haben», bestätigt Roger Gfrörer, Leiter Career Services.

Auch SP-Nationalrat Mathias Reynard kritisierte diese Handhabung stark: «Immer mehr junge Leute sehen sich gezwungen, Praktika anzusammeln, bevor sie eine feste Anstellung bekommen. Das beutet die Jungen aus und macht sie auf dem Arbeitsmarkt verwundbar», heisst es in seiner 2015 eingereichten Interpellation.

Wann handelt es sich um ein Praktikum?
Das negative Lebensgefühl, das mit der «Generation Praktikum» mitschwingt, scheint da und dort deutlich spürbar. Ob sich unsere Generation als eine solche bezeichnen lässt, ist schwierig zu sagen. Schwierig deshalb, weil sich dazu kaum aktuelle und grossräumige Untersuchungenfinden lassen. Vor allem nicht zu den Bedingungen unter welchen Praktika angetreten werden. Denn diese lösen das negative Gefühl, den fahlen Beigeschmack aus. Ohne Forschungsgrundlagen kann sich weder politisch noch rechtlich etwas verändern. Zwar bestätigt die Recherche, dass Fälle von Missbräuchen und Ausbeutung bekannt sind. Die Ausrede ist immer die gleiche: In der Schweiz gäbe es die «Generation Praktikum» nicht. Warum aber flammt der Begriff, die Kritik an Praktika immer wieder auf?

Die Schweiz hat, im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, eine sehr tiefe Jugendarbeitslosenquote. Mitunter dank dem sehr gut funktionierenden dualen Bildungssystem. Dennoch gibt es auch in der Schweiz eine grosse Dunkelziffer an Fällen von ausbeuterischen und missbräuchlichen Praktika.

In erster Linie müssen die Arbeitgeber klar abstecken, welche Kriterien ein Praktikum erfüllen soll. Es handelt sich dabei immer um einen Teil der Ausbildung und sollte somit primär auch Ausbildungscharakter haben. Dazu gehört eine angemessene und festgelegte Dauer von drei bis sechs Monaten. Das Anforderungsniveau sollte adäquat sein und die Arbeiten vielfältig und passend. Niedriger Lohn muss zwingend mit dem Lerneffekt und der persönlichen Ausbildung des Praktikanten kompensiert werden. Eine Begleitung und Führung während dem Praktikum sowie Raum für Fehler sind ein Muss. Sind diese Kriterien erfüllt, kann ein Missbrauch so gut wie ausgeschlossen werden.

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Praktikum: Ausbildung oder Ausbeutung?
Aber auch die Praktikanten selbst müssen in die Pflicht genommen werden. Absolventen der philosophischen Fakultät stürzen sich Jahr für Jahr auf alle möglichen Praktika-Stellen, weil sie keine andere Möglichkeit sehen, in der Berufswelt Fuss zu fassen. Weil ihnen eingetrichtert wird, sie seien reine Theoretiker, die von praktischer Arbeit keinen blassen Schimmer hätten. Sie müssen sich von Anfang an die Frage stellen, ob das Praktikum wirklich einen Nutzen und berufsrelevante Qualifikationen bringt. Ob sich Knebelverträge, unentgeltlich geleistete Überstunden und banale Arbeiten wirklich lohnen, und ob es sich dabei wirklich um Ausbildung und nicht um Ausbeutung handelt.

Dazu ruft auch die Gewerkschaft Syndicom auf. Sie werde vermehrt wegen zweifelhafter Praktika kontaktiert, erklärt Michael Moser. Die Gewerkschaft geht davon aus, dass längst nicht alle Fälle von Missbrauch gemeldet werden. «Missstände und Fälle von Ausbeutung müssen gemeldet werden. Nur so kann eine Abwärtsspirale verhindert werden. Wenn sich BerufseinsteigerInnen unter ihrem Wert verkaufen, hat dies längerfristig auch gesellschaftliche Konsequenzen. Beispielsweise kann die «Generation Praktikum» mit ihren tiefen Löhnen kaum etwas in die Sozialwerke einzahlen, noch Steuern an den Staat entrichten. Das Problem geht also alle an und nicht nur die Betroffenen», so Moser.

Es braucht politische und rechtliche Bestrebungen, welche die Dunkelziffer an ausbeuterischen Praktika aufdecken. Die Interpellation von SP-Nationalrat Mathias Reynard ist zwar ein Anfang. Dennoch äussert sich Reynard extrem enttäuscht über die Antwort des Bundesrates: «Ich bin überhaupt nicht zufrieden mit der Antwort auf die Interpellation. Der Bundesrat scheint die Bedeutung dieses Problems nicht zu erkennen. Die Problematik wird zudem durch die Regierung minimiert. Und, wie immer, lässt sie dem Markt lieber freien Lauf als frühzeitig zu intervenieren. Das ist dramatisch!»

Der Walliser äussert auch Kritik am Parlament. Der Thematik werde mitunter aufgrund des Durchschnittalters der Parlamentarier wenig bis gar keine Aufmerksamkeit geschenkt. Der grösste Teil der Parlamentarier sei sich dieser Realität nicht bewusst und erkenne deren Schwere und Konsequenzen für kommende Generationen nicht. Es fehlt eine Lobby. Und es fehlt ein nationales Bewusstsein für diese Problematik.

 

Hast du auch Erfahrungen mit Praktika gemacht? Schreibe sie in die Kommentare oder schicke uns eine Mail.

Bilder: Facebook/Best of Jodel

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