Jean Wyllys über Brasilien, LGBT-Rechte, seinen Sieg bei Big Brother und die Rolle der Medien - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von jonas staehelin

Redaktor

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2. September 2016 um 09:25

Jean Wyllys über Brasilien, LGBT-Rechte, seinen Sieg bei Big Brother und die Rolle der Medien

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Es sind ergreifende Szenen, die sich im Brasilianischen Parlament abspielen. Am 17.4.2016 stimmt eine Mehrheit des Senats für die Suspendierung der vom Volk gewählten Präsidentin Dilma Rousseff. Als an ebenjenem Tag Jean Wyllys, der erste und einzig offen schwule Parlamentarier Brasiliens, das Mikrophon ergreift, um seine Stimme gegen die Suspendierung abzugeben, wird er vor laufenden Kameras ausgebuht und als «Veado», Schwuchtel, bezeichnet. Kurz zuvor hatte Jair Bolsonaro, ein Politiker der brasilianischen Rechten, sein Ja zur Suspendierung kundgegeben, und er tat dies im Namen des ehemaligen Generals, Carlos Alberto Brilhante Ustra, der als Verantwortlicher für viele der Gräueltaten gilt, die während der zwanzigjährigen Militärdiktatur Brasiliens verübt wurden. Es herrscht eine Stimmung politischer Aggressivität.

Jean Wyllys erreichte erstmals den Grad nationaler und internationaler Bekanntheit, als er 2005 Gewinner der brasilianischen Ausstrahlung von Big Brother wurde. Dieses Ereignis löste eine landesweite Diskussion über Homosexualität und das Problem grassierender Homophobie aus. Seither ist er nicht mehr aus dem Rampenlicht verschwunden. Als Journalist, Schriftsteller, linker Politiker und LGBT -Aktivist gehört er heute zu den wichtigsten Stimmen weltweit im Kampf für mehr Diversität. Tsüri.ch hatte die Möglichkeit, sich mit dieser eindrücklichen Persönlichkeit zu einem ausgedehnten Gespräch zu treffen.

Korruptionsvorwürfe, eine lange anhaltende ökonomische Krise, Demonstrationen und die Suspendierung von Dilma Rousseff. Brasilien scheint von grossen Spannungen durchzogen und es herrscht in vielen Bereichen ein Klima der verbalen und physischen Gewalt. Was sind deine Eindrücke dieser Lage politischer Instabilität? Als erstes möchte ich klar stellen, dass die gegenwärtige Korruption nicht etwas Neues darstellt. Sie ist systemisch und historisch. Und sie ist direkt verbunden mit einer Promiskuität zwischen öffentlichen Interessen und privaten Interessen. Die politischen und ökonomischen Eliten Brasiliens hatten nie ein reales Interesse an der Entwicklung Brasiliens. Im Kontext der ökonomischen Krise, die übrigens nicht nur Brasilien sondern die ganze Welt betrifft, haben diese ökonomischen Eliten, diese politischen Oligarchien, entschieden, die Präsidentin der Republik zu stürzen, weil sie kein neoliberales Programm implementiert hat. Dieses zielt darauf, dass die Kosten der Krise vor allem von den Armen und Arbeitern getragen werden. Zweiter Punkt: Die Coupisten, das sind in erster Linie Rechtsparteien, die gegen Dilma in der Opposition waren, haben sich an den konservativen Kräften des Landes angelehnt, um den Coup voranzutreiben. Es sind dies religiös-fundamentalistische Kräfte und diejenigen Senatoren, die eng mit der Waffen und Sicherheitsindustrie verbunden sind.

Was bedeutet das für die Rechte von Minoritäten, die ein wesentlicher Bestandteil deiner Politik sind? Diese konservativen Kräfte stehen im Gegensatz zu den ethnischen, sozialen und religiösen Minderheiten, und natürlich richten sie sich auch gegen die Rechte der LGBT -Community. Die Situation der Schwulen, Lesben und Trans-Personen, die davor schon nicht gut war, wird sich in der Folge des Regierungsputsches noch weiter verschlechtern.

Was ist mit den anderen Minderheiten? Das gleiche passiert in Bezug auf den armen und schwarzen Teil der Bevölkerung. Dieser ist besonders auf die sozialen Programme angewiesen, vor allem auch in Bezug auf soziale Mobilität. «Bolsa da Familia», «Mia casa mia vida», «Luis para todas», «Sciencas sem fronteras», bildeten ein Bündel an sozialen Programmen, die die soziale Mobilität der ärmer gestellten Bevölkerung begünstigten. Die Putschregierung strebt durch radikale Budgetkürzungen in diesen Bereichen eine Stilllegung dieser Programme an. Es sind also nicht nur die Rechte der Schwulen, die gegenwärtig attackiert werden, sondern auch die Rechte der Armen, der Schwarzen und der Frauen. Die Putschregierung ist ausschliesslich aus weissen, sexistischen, Machos zusammengesetzt. Sie haben überhaupt kein Interesse daran, eine Sensibilität für Genderfragen und die Rechte der LGBT -Community voranzutreiben.

Gesellschaftliche Widersprüche werden sich also verfestigen? Ja. Wir erleben in den letzten Jahren ein Klima des Hasses und der politischen Instabilität. Und dieses Klima saugt uns aus, wir sind müde. Ein grosser Teil der Bevölkerung ist durch die Medien manipuliert worden. Die Hälfte hat sich für die Suspendierung Dilmas eingesetzt. Die andere, etwas kritischer eingestellte Hälfte ist dagegen. Diese Zäsur sorgt für ein angespanntes Klima. Wir erleben in gerade diesem Moment, wie unsere Demokratie geputscht wird. Gerade jetzt, während wir uns unterhalten, ist Dilma ist dabei, ihre Verteidigung vorzulegen. Diese wird nicht viel bringen, der Putsch wird sich durchsetzen (Anm. d. Red. drei Tage nach dem Interview wird diese Aussage zur Tatsache und Dilma Roussef gestürzt).
Diese Stimmung der Angst, von der du gerade gesprochen hast, scheint vor allem den rechten Kräften Brasiliens geholfen zu haben. Das ist eine Tendenz, die nicht nur auf Brasilien zutrifft. Auf der ganzen Welt lassen sich zurzeit ähnliche Tendenzen beobachten. Im Moment scheint die Linke ein Problem zu haben, auf diese emotionale Stimmung zu reagieren. Leute suchen nach einfachen Antworten und finden diese bei den Rechten. Ich würde nicht sagen, dass es der Linken an einer Antwort fehlt. Die Linke stellt Antworten zur Verfügung, die von der Bevölkerung die Fähigkeit verlangen, reflektieren zu können. Darunter gehört auch die Fähigkeit, sich von simplen binären Denkmustern zu befreien und das kritische Denken der Menschen weiterzuentwickeln. In krisenhaften Momenten funktioniert allerdings ein solcher Diskurs nicht, weil die Menschen einfache, schnelle Lösungen fordern. Aus diesem Grund ist die Rechte in Momenten ökonomischer Krise stets auf dem Vormarsch. Im Europa der 30er-Jahre triumphierte genau aus diesen Gründen der Nationalsozialismus. Gegenwärtig, und ich spreche hier für den ganzen lateinamerikanischen Raum, triumphiert die Rechte. Die Rechte arbeitet viel mit Vorurteilen und Stereotypisierungen. Das Beispiel Donald Trumps verdeutlicht diese Strategie: Anstatt die Gründe für die gegenwärtige Krise in dem ökonomischen Modell zu sehen, dass er vorantreibt, schiebt er die Schuld auf Mexikaner und Moslems. Und es ist einfach schwierig, solchen Diskursmustern mit ehrlichen und kohärenten Argumenten zu entgegnen.

Deine Partei, die PSOL (Partido Socialismo e Liberdade), verfolgt nebst dem Kampf für mehr LGBT-Rechte auch ein dezidiert linkes Programm. Innerhalb der Linken gibt es immer wieder auch Diskussionen darüber, welche Rolle Genderfragen und LGBT-Rechte im linken politischen Programm einnehmen sollten. Kannst du etwas über dein Verhältnis zur «traditionellen» Linken sagen? Ich sehe mich als Teil einer linken Bewegung der vierten Generation. Diese Generation möchte das traditionelle Programm des Klassenkampfes mit einer neuen Agenda verknüpfen. Letztere ist das Resultat einer Einsicht in die erhöhte Komplexität moderner Gesellschaften und befasst sich unter anderem mit LGBT-Rechten, Genderfragen, Umweltfragen und dem Kampf gegen Rassismus. In der Vergangenheit waren Fragen, die sich auf individuelle Bürgerrechte bezogen, auch bei den liberalen Rechtsparteien ein Thema. In Brasilien haben die liberalen Rechtsparteien allerdings nie diese Themen berührt. Ihnen geht es ausschliesslich um das Recht der freien Marktwirtschaft. In sonstiger Hinsicht sind sie nach wie vor konservativ. Sie setzen sich nicht für die Legalisierung der Abtreibung ein. Sie setzen sich nicht für die Legalisierung von Drogen ein und sie stellen sich letztlich auch gegen LGBT Rechte. Ferner verfügen sie über keine Umweltpolitik. Unsere differenzierte linke Haltung ermöglicht Dialoge zwischen den verschiedenen Sektoren der Gesellschaft. Darum bin ich auch so stark vernetzt, besonders auf sozialen Netzwerken. Ich habe den Dialog mit gesellschaftlichen Gruppen eröffnet, die vorher keinen Anschluss an die Linke hatten.

In Amerika haben sich CEOs grosser Konzerne, beispielsweise Mark Zuckerberg, deutlich für mehr LGBT-Rechte ausgesprochen. Das ist ein Beispiel dafür, dass, etwas plakativ gesprochen, die prinzipiellen Agenten des internationalen Kapitals sich auch für die Rechte von Minoritäten einsetzen können. Nicht jeder, der sich für LGBT-Rechte einsetzt, muss auch ein linkes politisches Programm unterstützen, dass auf die Reduktion ökonomischer Ungleichheiten abzielt. Wie gehst du mit diesen Spannungen um, die innerhalb des Kampfes für mehr LGBT-Rechte existieren? Das sind die Widersprüche des Kapitalismus und die Widersprüche der Liberalen. In anderen Worten: Wenn Liberale Fragen bezüglich individueller Bürgerrechte aufnehmen, dann tun sie dies meistens ohne irgendeine Sensibilität beispielsweise für die sklavenhaften Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse. Wenn sich nun Zuckerberg für die Rechte der LGBTs einsetzt, dann ist das in meinen Augen blosser Opportunismus. Die Rechte der LGBTs werden in diesem Fall benutzt, um eine Gewalt zu kaschieren, die gegen andere Minoritäten ausgeübt wird. Hier liegt der wesentliche Unterschied zwischen meiner linken Haltung und der gerade beschriebenen. Ich setze mich für die Rechte der LGBT-Community ein aber ich verbinde diesen Einsatz mit einem Kampf für die Rechte anderer unterdrückter Gruppen. Die Identität von Schwulen, Lesben oder Trans-Personen lässt sich nicht nur aufgrund ihres Genders oder ihrer sexuellen Orientierung herleiten. Diese Personen verfügen auch über eine Klassenidentität, eine ethnische Identität und eine religiöse Identität. Diese Komplexität muss berücksichtigt werden. Ein Schwuler oder eine dunkelhäutige Lesbe, die aus armen Verhältnissen kommen, leiden viel mehr als eine Lesbe, die aus reichen Verhältnissen kommt. Es reicht also nicht aus, nur die individuellen Bürgerrechte zu schützen. Man muss weiter gehen und den gesamten sozioökonomischen Kontext in Betracht ziehen. Die Kleiderfirma Zara schreibt sich beispielsweise vor die Fahne, «gay friendly» zu sein. Doch gleichzeitig stellt sie Menschen zu den miserabelsten Bedingungen für die Herstellung ihrer Kleider ein. Wir LGBTs dürfen nicht egoistisch sein und die Dinge nur aus der Perspektive unserer sexuellen Identität betrachten. Wir müssen die Welt aus verschiedenen unterdrückten Perspektiven betrachten und eine gemeinsame Solidarität stiften.

Die LGBT Community wird von aussen oft als homogene Gruppe charakterisiert. Kannst du ihre Struktur in Brasilien erklären? Gibt es eine gemeinsame politische Front? Gibt es eine grundsätzliche Übereinstimmung bezüglich einem gemeinsamen politischen Programm? Welche Rolle spielt zum Beispiel die Berühmte Triade, «Race, class, gender» in der Brasilianischen LGBT-Bewegung? Es ist nicht einfach, eine transversale Politik zu entwickeln. Ich versuche entlang meines politischen Mandats, die unterdrückten Subjekte in ihren multiplen Positionen zu betrachten. Das ist nicht einfach, weil es auch innerhalb der LGBT-Community Vorurteile gibt. Es kommt vor, dass meine transversal ausgerichteten politischen Vorstösse bei gewissen Leuten aus der LGBT-Community auf Widerstand stossen. Dessen ungeachtet glaube ich, dass dies der richtige Weg ist, um soziale Gerechtigkeit zu fördern. Ich bin schwul und meine homosexuelle Identität hat mir stets Probleme beschert, ich war Opfer von Diskriminierung und Gewalt. Aber ich bin auch aufgrund meiner Herkunft aus armen Verhältnissen Opfer von Gewalt und Diskriminierung gewesen. Einen Teil meines Lebens musste ich Hunger leiden, ich musste bereits im Alter von zehn Jahren arbeiten. Ich kann also LGBT -Personen nicht unabhängig von diesen verschiedenen, teils sich überlappenden, sozialen Verhältnissen und Positionen betrachten.

Was bedeutet das konkret für deine Arbeit als Politiker? In unser Partei, der PSOL, setzen wir uns für Minoritäten und für individuelle Menschenrechte ein. Menschenrechte umfassen unserer Ansicht nach politische Rechte, ökonomische Rechte, soziale Rechte, die Rechte der Umwelt, kulturelle Rechte, sexuelle Rechte und reproduktive Rechte. Folglich interessiere ich mich nicht ausschliesslich dafür, einen politischen Kampf als LGBT-Aktivist zu führen und beispielsweise nur für das Recht auf gleichgeschlechtliche Heirat zu kämpfen. Ich muss mich genauso für Transpersonen einsetzen. Ich muss genauso gegen Rassismus kämpfen. Ich muss auch eine Politik schaffen, die sich für das Empowerment von Sex-ArbeiterInnen einsetzt. Ich kann nicht nur an einer einzigen Front aktiv sein. Die Welt ist einfach komplexer geworden. Und diese Komplexität verlangt nach einem komplexen politischen Programm. Mir ist bewusst, dass ich dafür einen Preis zahle. Meine Wähler denken wie ich über diese Dinge nach, sie sind bereit, selber zu denken, sie sind bereit, die Welt jenseits akzeptierter Dichotomien zu betrachten. Ich bin kein Populist und möchte es auch nicht werden. Ich sage nicht Dinge unter dem Vorwand, Wähler zu gewinnen. Ich habe keine Hemmungen, eine Position zu verteidigen, die gegen den Strom der Mehrheit geht. Eine gerechte Position ist diejenige, die es zu verteidigen gilt.

Kannst du diesen Ansatz einer transversaalen Politik etwas weiter ausführen? Das kann ich anhand eines Beispiels etwas verdeutlichen: Ein Grossteil der Schwulenbewegung fordert die Kriminalisierung der Homophobie, die Transformation der Homophobie in etwas strafbares, und sie sieht harte Gefängnisstrafen für solche Ausdrücke des Hasses vor. Ich stimme dem nicht zu. Ich bin der Meinung, dass die Homophobie in einer anderen Form kriminalisiert werden sollte. Ich glaube, dass Verbrechen gegen das Leben wie Mord, Körperverletzung oder Folter, die aus homophoben Ressentiments motiviert sind, eine härtere Strafe erhalten sollten. Homophobe Diskriminierung und verbale Attacken müssen aber keine Gefängnisstrafe zur Folge haben. Die Gefängnisse in Brasilien sind schrecklich und in einem desolaten Zustand. Es sind vor allem Schwarze und arme Leute in den Gefängnissen. Wenn man nun die Homophobie in diesem starken Mass kriminalisiert, indem beispielsweise jemand, der mich wegen meiner Homosexualität beleidigt, ins Gefängnis kommt, was wird passieren? Es werden vor allem aus armen Verhältnissen stammende, homophobe Menschen in den Gefängnissen landen.

Hier spricht also dein Klassenbewusstsein. Klar! Logisch! 70% der Gefängnisinsassen sind schwarz, männlich, semi-analphabetisch und arm. Das wird sich nicht ändern. Wir haben die viert grösste Population an Gefängnisinsassen. Wir haben 60'000 Gefängnisse in Brasilien, wir brauchen nicht mehr. Wenn ich also an die Öffentlichkeit gehe, dann bin ich gegen die Art und Weise, wie ein Grossteil der LGBT-Bewegung die Homophobie kriminalisieren möchte. Ich stelle mich also gegen die Hegemonie der Bewegung. Es ist aber wichtig, das zu tun, weil es um eine Frage der Gerechtigkeit geht.

Im Vergleich zur Schweiz ist Brasilien in gewisser Hinsicht ein bisschen voraus. Gleichgeschlechtliche Ehen sind hier immer noch nicht erlaubt, es gibt dementsprechend auch kein Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Aber, im Gegensatz zu Brasilien muss man sich in der Schweiz nicht fürchten, auf der Strasse wegen seiner homosexuellen Identität ermordet zu werden. In Brasilien werden Schätzungen zu Folge jährlich einige Hundert Menschen aufgrund homophober Motive ermordet. In der Schweiz ist die Suizidrate bei homosexuellen Personen jedoch fünf mal höher als bei heterosexuellen. Wie denkst du über diese Differenzen nach? Ja, in gewisser Hinsicht sind wir in Brasilien einen Schritt voraus. Homosexuelle Paare adoptieren bereits und gleichgeschlechtliche Ehen sind in Kraft. Gleichgeschlechtliche Ehen sind allerdings nur durch einen richterlichen Beschluss garantiert und nicht durch einen legislativen Beschluss. Dieses Recht kann also ziemlich schnell zurückgezogen werden. Auf der anderen Seite gibt es in Brasilien eine homophobe Kultur, eine Art soziale Homophobie, die gegen jegliche Präsenz von gleichgeschlechtlichen Paaren auf öffentlichen Plätzen gerichtet ist. Es herrscht eine Kultur des Hasses gegen jegliche Form des öffentlichen Ausdrucks von Homosexualität und Transsexualität. Hier in der Schweiz habe ich das Gefühl, dass diese Kultur des Hasses weniger stark ausgeprägt ist, obwohl die Schweiz rein rechtlich gesehen etwas weniger progressiv ist. Ich glaube, dass in Lateinamerika vor allem die symbolische Gewalt, die kulturelle Gewalt gegen LGBTs stärker ausgeprägt ist als beispielsweise in Europa. Aktuell, mit der humanitären Krise und den Migrationsbewegungen könnte sich das ändern. In Frankreich gibt es schon öffentliche Manifestationen des Hasses gegen LGBTs, die von muslimischen Migranten ausgelöst werden. Auch in den arabischen communities, die schon länger in Frankreich in Ghettos leben, zeigt sich eine verstärkt homophobe Tendenz. Das ist eine komplexe Situation, weil diese Gruppen auch Opfer von Rassismus und Xenophobie sind. Es ist verrückt, dass eine Minorität, die Opfer von Diskriminierung ist, Schwierigkeiten hat, sich mit anderen Minoritäten, die ebenfalls Opfer von Diskriminierungspraktiken sind, zu verständigen.

«Auf jeden Fall ist es nicht einfach schwul zu sein. Egal wo man sich gerade befindet.»


 







 

Ein von @lembrancimagens gepostetes Foto am




Wie sieht es deiner Meinung nach bei den Jugendlichen aus? Es gibt immer einen Teil der Jugend, die Offen ist und einen Teil die faschistisch ist. Ein Teil der Jugend ist offen, progressiv und tolerant, inklusive gegenüber Gendergrenzen. In Brasilien gibt es eine urbane Jugend der Mittelklasse, die in grossen Städten wohnt, die schon relativ wenig Restriktionen kennt: es gibt Jungs, die mit einem Mädchen zusammen sind und eine Woche später mit einem Jungen. Aber diese Freiheit lässt sich beispielsweise nicht in der Favela Rocinha beobachten, oder im Nordosten Brasiliens. Vermutlich ist es hier in der Schweiz ähnlich. In ländlichen Gegenden ist die Homophobie vermutlich stärker ausgeprägt als in den urbanen Zentren. Die Wahrheit bleibt, dass wir Schwule, Lesben, Transsexuelle und Bisexuelle historisch gesehen gehasst werden. Der Hass gegen uns geht tausend Jahre zurück. Dieser Hass zieht sich durch alle gesellschaftlichen Schichten Hindurch. Wir müssen versuchen, zu verstehen, warum das so ist. Das ist ein Projekt, dass ich schon seit einiger Zeit auch in Buchform in Angriff genommen habe. So in meinem Letzten Buch «Tempo Bom, Tempo Ruin». Ich werde auch ein neues Buch publizieren, in dem ich die Gründe dieses Hasses erforsche. Ich bin nicht der Meinung, dass wir die Ursprünge der Homosexualität verstehen müssen. Homosexualität ist genauso legitim und natürlich wie die Heterosexualität. Wir müssen stattdessen die Gründe der Homophobie verstehen. Wie ist dieser Hass konstruiert? Wie reproduziert sich dieser Hass? Wieso haben auch gebildete Leute Aversionen gegenüber unseren Lebensstilen? Das müssen wir verstehen.

Für deine Karriere als öffentliche Persönlichkeit haben die Medien eine grosse Rolle gespielt. Bekannt wurdest du als Gewinner der brasilianischen Ausstrahlung von «Big Brother». Ich bin ein Champion!

In gewisser Weise bist du also ein Kind der Massenmedien. In dieser Hinsicht sind auch Brasiliens berühmte Telenovelas (Seifenopern) erwähnenswert. Diese geniessen in Brasilien eine enorm grosse Aufmerksamkeit. Bis zu 40 Millionen Menschen sehen sich diese an. Als 2014 in der letzten Folge der Telenovela «Amor e Vida» ein Kuss zwischen zwei Männern gezeigt wurde, deklariertest du dies als «historischer Moment für Brasilien». Nun hat aber «O Globo», der Medienkonzern, der für die Ausstrahlung dieser Sendung verantwortlich ist, massgeblich zu der aktuellen Kultur politischer Aggressivität beigetragen. Was sind deine Überlegungen zu dieser Ambivalenten Rolle der Massenmedien in Brasilien?

https://www.youtube.com/watch?v=2eWGeq4So4I

Als erstes muss man verstehen, dass in einem Land wie Brasilien, wo die soziale Ungleichheit so dermassen stark ausgeprägt ist, dies unausweichlich auch die Konstruktion einer Hierarchie zwischen verschiedenen Formen kulturellen Konsums mit sich bringt. Die Reichen wollen uns ständig vermitteln, dass ihr kultureller Konsum, im Vergleich zu dem der ärmeren Massen, nobel sei. Damit du in die Oper oder an Kunstaustellungen gehen kannst, um ins Theater oder an Konzerte zu gehen, oder aber auch um Cds von Indie-Bands zu kaufen, brauchst du Geld. Der Grossteil der brasilianischen Bevölkerung hat das notwendige Geld dafür nicht und folglich auch keinen Zugang zu diesen kulturellen Gütern. Aber gleichzeitig möchte dieser Grossteil nicht bloss überleben. Er möchte auch Zugang zu Kultur haben. Wie es ein berühmtes Lied in Brasilien sagt: «Menschen wollen nicht nur essen. Menschen wollen Essen, Spass und Kunst.» Und in einem ungleichen Land ist das, was die Leute an kulturellen Gütern konsumieren können, das, was die Kulturindustrie ihnen zur Verfügung stellt. Das sind also eben jene Telenovelas oder Musik aus dem Radio.

Die Kulturindustrie mit ihrem Massenkonsum, führt diese nicht auch zu einer geistigen Verarmung der Massen? Zu glauben, dass der Konsum dieser kulturellen Güter ausschliesslich die Leute dümmer macht, ist Elitismus. Die Linke war in dieser Hinsicht immer elitistisch. Das ist widersprüchlich. Denn während sich die Linke für die Armen einsetzt, teilt sie eine elitistische Haltung gegenüber dem Konsum von Kulturgütern. Man darf nicht arrogant sein und glauben, dass die Armen sich durch den Konsum von Telenovelas oder Realityshows nicht politisieren. Der Beweis dafür ist gerade meine Teilnahme bei Big Brother. Ich habe bei Big Brother wegen einer akademischen Kuriosität teilgenommen. Ich wollte das Phänomen Big Brother erforschen und zeigen, dass Big Brother nicht so schlimm war, wie die intellektuelle Elite glaubte. Ich habe nicht nur gewonnen, sondern auch eine Debatte über Homosexualität im ganzen Land ausgelöst. Vorher wurde Homosexualität und das Problem der Homophobie in Brasilien nie auf solch tiefgreifende Weise debattiert. Die grossen Kommunikationsmedien sind ambivalent. Kommunikationsmedien wie O Globo sind Konglomerate, die aus vielen Menschen zusammengesetzt sind. Dementsprechend gibt es innerhalb dieses Mediums Spannungen und Widersprüche. Der Journalismus von O Globo unterstützt den Regierungsputsch, indem er ein Narrativ konstruiert hat, der den Putsch legitimiert. Aber die Dramen, also die Telenovelas, etc., von O Globo tun dies nicht unbedingt. Die Künstler, Produzenten und Drehbuchschreiber sind alle progressiv und gehören der Linken an. Aktuell gibt es beispielsweise eine Serie mit dem Titel «Justitia» (Gerechtigkeit). Diese Serie debattiert den Status der Gerechtigkeit in Brasilien. Auch ich habe bereits für O Globo geschrieben. Ich bin nun ein grosser Kritiker des Journalismus von O Globo. Der Journalismus von O Globo steht im Dienst von Brasiliens Plutokraten. Dessen ungeachtet muss ich eingestehen, dass die Dramen von O Globo wichtige und interessante Debatten in Gang setzen, beispielsweise in Bezug auf Rechte von Minoritäten oder in Bezug auf Drogenpolitik. Vielen linken Politikern ist es gerade nicht gelungen, diese Themen medienwirksam aufzugreifen. Es würde der Linken gut tun, sich ein wenig von ihren Vorurteilen gegenüber bestimmten Formen des kulturellen Massenkonsums zu lösen.

Aber das wäre doch eine Art Populismus auf medialer Ebene. Nein das ist kein Populismus. Um die Seele Brasiliens zu verstehen, muss man auch die Rolle der Telenovelas verstehen. Seit mehr als 50 Jahren gibt es Telenovelas. Sie sind, wie der Fussball, teil unserer Kultur. Wieso wirft niemand dem Fussball Populismus vor? Wieso wird der Fussball nicht als Grund für die Entfremdung betrachtet? Ich persönlich ziehe eine Telenovela dem Fussball vor. Bei dir ist wahrscheinlich das Gegenteil der Fall.




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Nein. Fussball ist überhaupt nicht mein Ding. Aber die Telenovelas zeichnen doch ein ziemlich einfaches Bild, das frei ist von den Ambivalenzen ist, die wir gerade diskutiert haben. Inwiefern werden beispielsweise Klassenprivilegien oder eine systemischere Kritik an den Gegenwärtigen ökonomischen Verhältnissen in Telenovelas thematisiert? Früher wurden solche Themen stärker thematisiert. Aber man muss sehen, dass der Sinn einer Information immer auch vom Empfänger abhängt. Egal wie viel Kontrolle man versucht, über die Verbreitung von Information auszuüben, letztlich kann man den Sinn, der dieser Information zugeschrieben wird, nicht voll und ganz im vornherein definieren. Dies gilt auch für Telenovelas. Eine Wissenschaftlerin der Universität Sao Paolo hat beispielsweise eine Studie veröffentlicht, in der sie viele herrschende Mythen über die Rolle von Telenovelas aufgeklärt hat. Telenovelas tragen nicht zur Verdummung bei, ganz im Gegenteil. Medien werden immer vor einem bestimmten kulturellen Hintergrund wahrgenommen. Ein Mann deutet die Telenovela anders als eine Frau. In Gebieten, wo Telenovelas in den 70er Jahren erstmals ausgestrahlt wurden, lässt sich sich zeitgleich eine Reduktion der Geburtenrate beobachten, weil sich Frauen begannen, an einem moderneren Bild der Frau auszurichten. Es wurde ferner gezeigt, dass die literarischen Adaptionen von O Globo dazu geführt haben, ein verstärktes Interesse an dem Lesen von Büchern zu erzeugen. Leute kauften ein Buch, weil sie zuvor dessen filmische Adaption gesehen hatten. Als O Globo die Telenovela «Mala Mujer» ausstrahlte, leistete dies der Legalisierung der Scheidung einen Vorschub. Dieser Novela gelang es ein Thema in die Öffentliche Diskussion zu integrieren, was der Politik bislang nicht gelang. Der Politik gelang es nicht medienwirksam Fragen bezüglich der Rechte und dem Status der Frau in modernen Gesellschaften zu thematisieren. Solche Dinge sind aus meiner Sicht enorm wichtig, und die Linke muss die ambivalente Rolle des Konsums von Telenovelas und anderen Gütern der Kulturindustrie reflektieren. Wenn die Linke früher bereits mit einer solchen Reflektion begonnen hätte, dann hätten die Rechten Kräfte innerhalb von O Globo heute nicht eine solch grosse Macht in der Bestimmung des öffentlich-politischen Diskurses.

Das Interview wurde auf Englisch und Portugiesisch geführt. Übersetzung: Jonas Stähelin.

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