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Von jonas staehelin

Redaktor

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4. Dezember 2019 um 05:00

Drexciya in Zürich: Unterwegs im Bubble Chamber

Ein Detroiter Duo produzierte unter dem Titel «Drexciya» zwischen 1992 und 2002 inzwischen weltbekannte Electrotracks. Doch «Drexciya» umschreibt auch eine afrofuturistische Mythologie in den Tiefen des Atlantiks. In den Kunsträumen «Up State» und «Mikro» lässt sich diese audiovisuelle Welt gegenwärtig entlang eines Comics des amerikanischen Künstlers Abdul Quadim Haqq und einer Videoinstallation der «Otolith Group» erkunden.

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So sehen die beiden Künstler aus. (Bild: zvg)

Wir schreiben das Jahr 1558. Ein Schiff durchquert den Atlantik in Richtung Brasilien. Die «Ware» an Bord: Sklaven. Darunter auch Schwangere und Kranke. Wertloses Material. Es ist besser, letztere über Bord zu werfen, denn die (Schweizer) Versicherung wird so den vollen Ankaufswert zurückerstatten – was im Falle eines «natürlichen» Todes nicht zutreffen werde.

Doch ist es möglich, dass die über Bord geworfenen Frauen Babies gebaren, die Unterwasser atmen konnten? Sind «Drexciyaner» Wasser schnaufende, aquatisch mutierte Abkömmlinge dieser unglücklichen Opfer menschlicher Gier? Wurden sie durch Gott verschont, um uns zu belehren oder zu terrorisieren? Sind sie fortschrittlicher als wir und weshalb machen sie ihre merkwürdige Musik?

Tatsächlich werden einige Babies geboren, denen es gelingt, in geschützten «Bubbles» zu aquatischen Übermenschen anzuwachsen. Unterstützt durch hexenartige Unterwasserwesen gründen sie schliesslich das Drexciyanische Imperium, eine Hochkultur in den Tiefen des Meeres.

Willkommen im Mythos Drexciya.

Ein unerwarteter Anruf

Fast-forward einige hundert Jahre. Mai 2002 in Detroit. Kurz vor Beginn ihrer nächtlichen «freeform» Sendung auf WDET-FM erhält die Radiosprecherin Liz Warner einen sonderbaren Anruf. «Hier ist James von Drexciya. Wenn du willst, können wir ein Interview machen.»

Wer genau hinter dem Alias Drexciya steckt, das seit den frühen 90er Jahren die Detroiter Szene mit einzigartigen Elektroproduktionen aufmischte, ist schon lange Zeit Gegenstand unzähliger Spekulationen. Drexciya gibt sich nur äusserst zurückhaltend der Öffentlichkeit preis. Interviews sind rar. Umso erstaunlicher muss deswegen dieser unerwartete Anruf in den Augen Warners wirken.

Nach einigen skeptischen Rückfragen beschliessen sie, das Interview am folgenden Tag im Radiostudio zu halten. Tatsächlich erscheint ein grosser Mann an der Türe des Radiostudios, der sich als James Stinson vorstellt und die beiden führen ein halbstündiges Gespräch.

Stinson beschreibt im Studio seine Musik als unendliche Reise in das Innere des eigenen Selbst, mit dem Ziel, die darin verborgene Schönheit nach Aussen zu tragen. Auch gibt er Aufschlüsse über seine Öffentlichkeitsscheu: Er habe eine Phobie vor der Aussenwelt, vor der Gefahr, seine Musik könne dadurch verunreinigt werden.

Auf die Frage, wen man kontaktieren könne – Labels beispielsweise –, um über seine zukünftigen Projekte informiert zu werden, antwortet Stinson: Man solle einfach in die Plattenläden gehen und mit Leuten reden.

Tatsächlich bleibt uns heute nicht viel anders übrig, denn einige Monate später stirbt Stinson an einer Herzkrankheit.

Detroit Techno als Gegengeschichte

Versuchen wir es also erneut. Soviel scheint klar: Anfang der 90er Jahre beginnt ein Duo, bestehend aus Gerald Donald und James Stinson, unter dem Alias «Drexciya» einen eigenartigen Sound zu produzieren: Detroit Electro. Ihre Tracks erscheinen auf Detroiter Technolabels wie Submerge oder auf Jeff Mills’ und Mike Banks’ Underground Resistance. Einen ersten Kulminationspunkt erreicht diese erste Serie mit der Compilation «The Quest», die 1997 bei Submerge auch als CD veröffentlicht wird. Es folgen schliesslich Releases in Europa auf Tresor oder Clone Records.

Diese Tracks greifen unterschiedliche Elemente des Drexciyamythos auf. So lässt es uns etwa der Track «Bubble Metropolis» in die Hauptstadt Drexciyas, eine futuristische Unterwassermetropole, einfahren. Zu Beginn hören wir eine weibliche Stimme: «This is Drexciyan Cruiser Control, Bubble 1, to Lardossan cruiser 8-203X. Please decrease your speed to 1.788.4 kilobahns. Thank you.» Im Track «Aqua Worm Hole» werden wir von den sanft blubbernden Klängen des tiefen Meeres umhüllt und in eine andere interaquatische Dimension katapultiert.

Solche Verweise sind nicht nur in den Tracks zu suchen. Auf der Innenseite des Covers der Compilation «The Quest» finden sich einige Zeilen eines unbekannten Autors (Im Original: «Unknown Writer»). Darin wird die Geschichte der über Bord geworfenen Sklaven erstmals explizit. Ebenfalls zu finden ist eine Karte.

Es werden vier Bewegungsphasen dargestellt. Die erste beginnt mit dem transatlantischen Sklavenhandel (1655 – 1867). In der zweiten wird die Migration ehemaliger Sklaven aus dem ländlichen Süden in die nordamerikanischen Metropolen dargestellt (1930 – 1940). Die dritte Phase, beginnend 1988, hat den bezeichnenden Titel: «Techno leaves Detroit/Spreads Worldwide». Die letzte Phase beschreibt die Rückkehr nach Hause («The Journey Home (Future)»).

Im Drexciyamythos überlagern sich die Geschichte der Sklaverei, das Versprechen einer kämpferischen Unterwasserzivilisation in den Tiefen des Atlantischen Ozeans und die Entstehung des Detroit Techno Ende der 80er Jahre. Die Geschichte der Sklaverei zeugt von unvorstellbarer Brutalität und menschlichem Gräuel. Der Drexciyamythos denkt diese Geschichte allerdings nicht nur aus der Perspektive eines hilflosen Opfers, sondern als Gegengeschichte des Widerstands, die auf eine andere, emanzipatorische Zukunft verweist.

Dieser Mythos lebt bis heute in unterschiedlichsten Formaten weiter und in Zürich lässt er sich gegenwärtig entlang eines Comics nachverfolgen. Der Detroiter Künstler Abdul Qadim Haqq zeichnete die Coverartworks für die meisten Drexciya Releases. Nun hat er seine Arbeiten zu Drexciya in einem Comic, dem «Book of Drexciya: Part One», zusammengefasst, der erstmals hier in Zürich aufgelegt ist. Besichtigen kann man die vom Zürcher Kollektiv «Gentrified Underground» organisierte Austellung im «Up – State». Auf einer konzeptuellen Ebene lässt sich das Weiterleben des Drexciyamythos in der Videoinstallation des Künstlerkollekivs «Otolith Group» im «Mikro» an der Sihlstrasse betrachten. Die Installation ist rund um die Uhr offen. Gentrified Underground werden Ende Dezember eine Compilation veröffentlichen, die nicht nur den globalen Einfluss Drexciyas auf Produzent*innen durch die letzten zwei Jahrzehnte verfolgt, sondern auch nach Vorgänger*innen in den 80er Jahren sucht.

Weitere Infos zur Austellung:

  1. Facebook
  2. «Bubble Chamber», Kunstraum Up State, Kochareal, Termine auf Anfrage an Marc Ohne (079 795 66 72)
  3. «Hydra Decapita», Kunstraum Mikro, Sihlquai 125, rund um die Uhr frei zugänglich, keine Voranmeldung nötig
  4. Die «Bubble Chamber LP» kann hier gehört werden.
  5. Vorbestellungen kannst du hier deponieren.

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