Wie die Bewegung «Wir alle sind Zürich» städtische Zugehörigkeit umgestalten will - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von jonas staehelin

Redaktor

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3. Mai 2016 um 11:30

Wie die Bewegung «Wir alle sind Zürich» städtische Zugehörigkeit umgestalten will

Städtepass

Die Bewegung «Wir alle sind Zürich» (fortan WasZ) stellte am vergangenen Samstag die Weichen auf Zukunft: Nebst der grundsätzlichen Migrations- und Integrationsdebatte wurde auch die Idee einer Zürcher «City Card», vorgestellt. Etwa sechzig Personen haben im Rahmen des 1. Mai-Wochenendes zusammengefunden und nicht nur zugehört, sondern auch aktiv mitdiskutiert. Im Zentrum stand dabei stets die Vision eines städtischen Zusammenlebens, das der Realität gerecht wird.

Akzentverschiebung – Das Recht auf Teilhabe Migration ist im 21. Jahrhundert eine Tatsache, die fast alle Gesellschaften auf dieser Welt betrifft. Allein in der Schweiz leben schätzungsweise 1,9 Millionen Menschen, die über keinen Schweizerpass verfügen. Für viele Schweizer stellt dies ein Problem dar. Sie sehen darin eine Bedrohung all dessen, was als Heimisch gilt und der gefühlte Einbruch des Fremden erscheint stets als Gefahr, welche die Stabilität der eigenen Identität ins Wanken bringt. Der Fremde, will er dennoch kommen, solle sich gefälligst anpassen, er solle sich «integrieren», will heissen, er solle sich den Regeln und Normen, die «wir» ihm vorschreiben, unterwerfen. Dieser Appell zur Integration scheint nach wie vor auch jenseits rechtsnationaler Bigotterie den Diskurs über Migration zu dominieren. Stets lautet dabei die Frage, wie sich denn das Fremde in einem staatlich geregelten Prozess in das Eigene, verstanden im Sinne eines nationalen Behälters, einverleiben lässt.

Doch bereits ein kursorischer Blick in die Schweizer Geschichte verdeutlicht beispielsweise, dass das «Eigene» von einer eigenartigen Heterogenität durchzogen ist, wodurch die Frage aufgeworfen wird, was denn das Eigene überhaupt zum Eigenen macht. Anstatt das Eigene stets zum Mass aller Dinge zu erheben, möchte WasZ den Migrationsdiskurs deswegen verschieben: weg vom Problem der Integration und hin zu Fragen der Teilhabe. Der Begriff Integration suggeriere nämlich etwas von aussen Kommendes, doch die Menschen, um die es hier gehe, seien doch schon lange da. Anstatt das durch Migration ausgelöste vermeintliche Chaos in eine Ordnung zu zwängen, solle man eher die durch diesen Prozess in Gang gesetzte Pluralisierung der Gesellschaft als Chance nutzen.

WasZ dient die migrantische Realität der Gesellschaft daher als Ausgangspunkt – und nicht als Problem –, um gesellschaftliche Teilhabe neu zur Disposition zu stellen. Nicht so sehr Beanstandungen eines angeblichen «gap of cultures» stehen also im Zentrum, sondern Fragen ganz anderer Natur: Wer bestimmt, wer welche Rechte hat? Wer bestimmt, wer Zugang zu sozialen, kulturellen und politischen Institutionen hat? Wie lassen sich angesichts herrschender Ungleichheiten in Bezug auf gesellschaftliche Teilhabe, Strukturen schaffen, die möglichst Allen eine aktive Teilnahme am gesellschaftspolitischen Leben ermöglichen, ungeachtet der Herkunft und des Aufenthaltsstatus?
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Urban Citizenship – Die Stadt als Ort gesellschaftspolitischer Transformation Städte leben von der Vielfalt ihrer Bewohnerinnen und gelten als Orte der gesellschaftlichen Transformation par excellence. Städte fungieren gewissermassen als Labore gesellschaftlicher Innovationen. Viele soziale Kämpfe um Teilhaberechte nehmen ihren Anfang in urbanen Räumen. Diesbezüglich schreibt WasZ in einem ausgehändigten Pamphlet: «Die Kämpfe von jenen, die neu angekommen sind, Kämpfe um Bewegungsfreiheit, Sicherheit und gesellschaftlicher Teilhabe, sprengen in vielen europäischen Städten die alte Logik der nationalen Grenzen.» Die Vorstellung städtischer Bürgerschaft müsse also erweitert werden. Die Idee der «Urban Citizenship» dient WasZ dabei gewissermassen als Leitkonzept. Damit verbunden ist nämlich die Forderung nach einem «Recht auf Stadt»: Jeder, der in einer Stadt lebt, solle auch Zugang zu den dort zur Verfügung gestellten gesellschaftlichen Institutionen haben.

WasZ möchte dementsprechend den Fokus bei der Ausgestaltung konkreter politischer Projekte auf die Stadt Zürich legen. Dem ging auch die Realisierung voraus, dass auf nationaler Ebene konkrete politische Vorstösse auf grosse Hürden stossen. Die dortigen politischen Kanäle seien für viele Anliegen verschlossen. Auch aufgrund der föderalistischen Struktur der Schweiz, wodurch den Städten und Kantonen relative politische Autonomie zukomme, habe man den Akzent auf die Stadt verlegt. Letztlich, so betont WasZ, gehe es aber auch um die politische Gestaltung der konkreten Lebenswelt, und diese müsse «vor Ort», in einem lokalen Kontext geschehen. Dies bedeute natürlich nicht, dass der grössere Rahmen ausser Acht gelassen werde, vorerst gehe es allerdings einfach darum, einen geeigneten Ort zu finden, um konkrete Vorstösse umzusetzen und diesen sehe man vor allem in der Struktur des städtischen Raumes.

Die Idee einer Zürcher «City Card»

Im Rahmen des Shedhalle Projekts «Die ganze Welt in Zürich», das seit Sommer 2015 Diskussionen und Projekte rund um das Thema «Urban Citizenship für Zürich» lanciert, ist eine Arbeitsgruppe entstanden, die sich bereits seit über einem Jahr mit der Ausarbeitung einer Zürcher «City Card» beschäftigt. WasZ hat die AG nun eingeladen, ihr Projekt vorzustellen.

Die «City Card» soll jeder Bewohnerin der Stadt zugänglich sein. So utopisch diese Idee auch klingen mag, Städte wie New York verfügen bereits seit etwa einem Jahr über eine «City ID». Es handelt sich dabei um einen offiziellen Personalausweis, der bei Vertragsabschlüssen oder Polizeikontrollen hinreichend ist. Interessant ist, dass der Druck zur Einführung einer solchen «City ID» von oben, namentlich von Bürgermeister Bill de Blasio, als auch von unten, ausgelöst durch soziale Bewegungen, kam.

Allein in der Stadt Zürich leben schätzungsweise 10'000 Sans-Papiers. Obwohl ihnen grundsätzlich allgemeine Menschenrechte zugesprochen werden, ist es für solche Menschen dennoch schwierig, auf diese Rechte zurückzugreifen. So könnten Sans-Papiers, beispielsweise in Folge einer Körperverletzung, in vielen Fällen keine Anzeige erstatten, da ihnen dadurch die Gefahr drohe, ausgeschafft zu werden. Ferner ist ihnen der Zugang zu Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt oder Gesundheitswesen erheblich erschwert.

Die Zürcher City Card soll unter anderem die Lage der Sans Papiers normalisieren. Dies beinhaltet einerseits, dass städtische Behörden, wie die Polizei, die Legitimität der Karte anerkennen. Wie die AG mitteilt, werden schon seit einiger Zeit Gespräche diesbezüglich mit den Behörden geführt. Im Idealfall sollte die Polizei im Falle einer Identitätskontrolle nebst dem Zeigen der City Card keine weiteren Auskünfte bezüglich des legalen Status der jeweiligen Person fordern. Die City Card würde auch den Zugang zu verschiedenen öffentlichen Dienstleistungen verbessern, beispielsweise zu Bibliotheken, ärztlicher Versorgung oder Postdienst. Nebst öffentlichen Einrichtungen ist auch eine Zusammenarbeit mit privaten Unternehmen vorstellbar. Letztere könnten Trägern einer City Card Vergünstigungen anbieten. In einem weiteren Schritt wäre auch denkbar, dass die City Card zur Teilnahme an politischen Strukturen auf städtischer Ebene berechtigen könnte.



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Die City Card eröffne so Sans Papiers die Möglichkeit, Rechte, die ihnen zustehen, auch tatsächlich einzufordern, ohne ständig von der Angst begleitet zu sein, aufgrund ihres Aufenthaltsstatus in Probleme zu geraten. Letztlich führe dies, wie ein Teilnehmer aus dem Publikum betont, auch zu einer allgemeinen Verbesserung des individuellen Lebensgefühls, denn der Stress, ständig im Glauben zu leben, jederzeit ausgeschafft werden zu können, kann durchaus zu einer Last werden, die der freien Ausgestaltung des Lebens im Wege steht.

Die Mitglieder Arbeitsgruppe sind allerdings nicht die einzigen, die mit einer solchen Idee an die Öffentlichkeit gehen. An einem Vernetzungstreffen der Migrantinnen- und Migrantenorganisationen, das am vergangenen März stattfand, und an dem auch Stadtpräsidentin Corine Mauch anwesend war, bekundete Renske Heddema, Co-Präsidentin des Ausländerinnen und Ausländerbeirats, ihre Unterstützung bezüglich der Forderung nach einer Ausweitung des städtischen Bürgerrechts in Form einer «City ID». Der Beirat führt schon seit einigen Monaten Gespräche mit verschiedenen städtischen Departementen, insbesondere auch, um die Rechtliche Lage abzuklären, wie Gesine Alleman, Vorstandsmitglied des Beirats, mitteilt.

Das Präsidial- sowie das Polizeidepartement bestätigten auf Anfrage, dass ihnen solche «Urban Citizenship» Projekte seit einiger Zeit bekannt seien. Ob eine solche City Card für die Stadt Zürich eine valable Option darstelle, wollten sie nicht kommentieren. «Das müsste an einem konkretisierten Vorschlag geprüft werden, der auch die rechtlichen Rahmenbedingungen in der Schweiz bzw. in Zürich berücksichtigt», so der stellvertretende Pressesprecher des Präsidialdepartments. Linda Bär, SP Gemeinderätin der Stadt Zürich, findet das Projekt insgesamt eine gute Idee: «Als weltoffene Stadt mit Pionierfunktion würde Zürich eine Art städtische Bürgerschaft gut zu stehen kommen. Wir könnten damit Menschen, die in der Stadt in prekären Verhältnissen leben, aus der Illegalität holen und sie somit besser schützen, wenn es darum geht, ihre Rechte in Anspruch zu nehmen.»

Der Weisheit letzter Schluss? Insgesamt stiess die Idee einer Zürcher City Card beim Publikum auf Zustimmung. Allerdings tauchten in Bezug auf die konkrete Ausarbeitung durchaus kritische Fragen auf, auch von Seiten der Vertreter der Arbeitsgruppe selbst. Denn damit die Karte letztlich auch funktionieren könne, sei sie auf eine Breite Akzeptanz angewiesen. Auch städtische Behörden, wie die Polizei, aber auch Unternehmen, die Rabatte auf gewisse Dienstleistungen und Produkte ausschreiben, müssten die Gültigkeit dieser Karte anerkennen. Gespräche diesbezüglich seien heikel und müssten oft hinter verschlossenen Türen durchgeführt werden. Zu verbindlichen Verhandlungen sei es allerdings noch nicht gekommen, es bestünden vorerst informelle Kontakte zwischen der Arbeitsgruppe und städtischen Behörden wie der Polizei. Diese Tatsache stehe sicherlich in einem Spannungsverhältnis mit dem Bestreben, die City Card auch als Weiterentwicklung eines basisdemokratischen Projekts «von unten» zu verstehen, wie auch seitens der Arbeitsgruppe betont wird.
Wichtig wäre ferner, dass nicht nur Sans-Papiers die Karte nutzten, ansonsten könnte eine zusätzliche Stigmatisierung einer eh schon marginalisierten Gruppe drohen. Die Karte biete allerdings nicht nur für Sans-papiers Vorteile, auch ökonomisch schlechter Gestellte könnten von den Angeboten der Karte profitieren. Zudem seien auch Leute aufgerufen, diese Karte zu nutzen, die nicht per se darauf angewiesen sind – nicht zuletzt auch um der Solidarität willen. Diesen Punkt bekräftigt auch Gesine Allemann vom Auslanderinnen und Ausländerbeirat: «Es geht nicht nur um die Legalisierung von Sans-Papiers, die City Card sollte insgesamt eine übergreifende städtische Identität zwischen allen Bewohnern und Bewohnerinnen der Stadt fördern.»

WasZ möchte insgesamt die Ambivalenz eines solchen Unterfangens betonen. Das Projekt sei durchaus auch als Einladung zur Kritik zu verstehen. Man könne sich beispielsweise vorstellen, dass sich gewisse Akteure künstlerisch mit diesem Objekt weiter auseinandersetzten. Der Vorschlag repräsentiere nicht die gesamte Bandbreite möglicher politischer Interventionen, die WasZ vorsieht. Die City Card sei ferner nicht nur im Sinne einer technokratischen Lösung eines gesellschaftlichen Problems zu verstehen. Es gehe hier nicht um Migrationsmanagement, sondern um die Ankurbelung gesellschaftlicher Transformationsprozesse. Letztlich stelle die City Card also nur eine der vielen Möglichkeiten dar, den heiklen Spagat zwischen utopischer Vision und pragmatischem Durchsetzungswillen zu wagen.

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