Kolumne von Mandy Abou Shoak: Ein stressiges Leben für die gute Sache - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Mandy Abou Shoak

Kolumnistin

27. Mai 2023 um 07:00

«Auch wenn es teils belastend ist, bin ich unter Stress sehr effizient»

Da ein Termin, dort eine Veranstaltung, zwischendurch noch kurz den Haushalt schmeissen: Stress gehört für viele zum Alltag dazu. Während einige darunter zerbrechen, läuft unsere Kolumnistin Mandy Abou Shoak zur Hochform auf. Eine Stärke, die sie in ihrem Leben als Politikerin und Aktivistin gut gebrauchen kann.

Illustration: Zana Selimi

Ich bin gerade zuhause angekommen. Es war ein langer Tag. Ich bin gestern erst sehr spät ins Bett gekommen, weil ich bis spät in die Nacht noch an meiner Rede für die Afro-Pfingsten geschrieben habe. Heute bin ich dann um 8 Uhr aufgestanden. Ich hatte noch einiges zu tun, bevor ich um 11.15 Uhr aus dem Haus musste: E-Mails schreiben, Daten setzen, Menschen über aktuelle Geschehnisse updaten, To-do-Listen schreiben, duschen, anziehen. Die Zeit reichte knapp für all diese Aufgaben. Trotzdem musste ich Michael, meinen Partner, darum bitten, mir das Kleid für den Abend zu bügeln, weil mir die Zeit fehlte. Und ich musste es mitnehmen, weil es mir die Zeit nicht erlaubte, zwischen den Terminen kurz nach Hause zu gehen.

Bis spät am Abend war mein Tag voll mit Verabredungen: Mittagessen im Kreis 5, Improtheater-Workshop im Kreis 3. Dort machten wir eine Assoziationsübung. Die Aufgabe bestand darin, dass eine Person ein Wort sagt und die nächste Person im Kreis sagt das erste Wort, welches ihr zum vorangehenden Wort einfällt und immer so weiter. Entstanden sind Kombinationen wie Sonne-Morgen-Anziehen-Ausziehen. Ich war inspiriert. Die Übung fördert die Spontanität und zwingt einen, aus dem Grübeln in die spontane, direkte Reaktion zu kommen und darauf zu vertrauen.

«Die Stimme in mir ermahnte mich: ‹Woher willst du dir die Zeit dafür nehmen?›»

Mandy Abou Shoak

Ich überlegte mir kurz, einen Improkurs zu machen. Aber die Stimme in mir ermahnte mich: «Mandy, ganz ehrlich? Woher willst du dir die Zeit dafür nehmen? Du hast schon sonst für nichts Zeit.» Eine andere Stimme in mir sagte: «Zeit hat man nicht, Zeit nimmt man sich und weisst du was, ich bin fest davon überzeugt, dass mich ein solcher Kurs in vieler Hinsichtn stärken würde.»

Ich schüttelte den Kopf und schaute auf die Uhr. Es war 17.10 Uhr. Da sass ich bereits in der Tram vom Strassenverkehrsamt zum Hauptbahnhof. Am Bahnhof Zürich stieg ich aus und rannte auf den Zug, der um 17.16 Uhr nach Winterthur fuhr. Die Eröffnung der Afro-Pfingsten begann um 18.00 Uhr. Selbstverständlich verpasste ich den Zug. Die nächste Verbindung war um 17.19 Uhr. Ein Bummler.

Wieder überprüfte ich die SBB-App, ob nicht doch noch ein anderer Zug fuhr, der schneller in Winterthur gewesen wäre und sah, dass die S24 ausfiel. Ich atmete tief durch und sagte mir: «Naja, ein Bummler bedeutet auch, dass ich mehr Zeit während der Fahrt habe. Heisst, ich kann mich noch schminken, meinen Schmuck anziehen, mir die Fingernägel anmalen und die hohen blauen Pumps montieren.» Gedacht, gemacht.

«Ich kann gut unter Stress performen. Das ist eine meiner Stärken.»

Mandy Abou Shoak

Pünktlich um 18.00 Uhr traf ich Michael, meine Mutter und eine Freundin in Winterthur. Es war ein wunderschöner Abend – trotz des stressigen Tages. Ich durfte neben Reggae-Musiker Msoke die Eröffnungsrede halten. Msoke wurde als Namusoke im falschen Körper geboren und lebt sein Leben mittlerweile als Mann. Kein einfacher Weg – zumal Homo- und Transphobie in unserer Gesellschaft gang und gäbe ist. Der Musiker macht emanzipatorischen Sound, weist dabei auf Sexismus und Transfeindlichkeit hin und versucht dadurch, die Reggae-Szene etwas bunter und diverser zu gestalten.

Stress ist gut, aber Auszeiten wichtig

Der Abend mit Msoke an der Afro-Pfingsten zeigte mir einmal mehr, wie wichtig zivilgesellschaftliches, aber auch politisches Engagement ist. Auch wenn es bedeutet, dass ich oft unter Strom stehe. Seit ich im Zürcher Kantonsrat politisiere, bin ich viel auf Podien und Veranstaltungen unterwegs. Bereits meine erste Woche als Kantonsrätin war vollgepackt mit Terminen: Am Montag sprach ich an einem Podium über Rassismus in Zürcher Kinderbüchern, am Mittwoch hielt ich für die Frauenzentrale eine Rede und am Donnerstag fand eine Podiumsdiskussion zum kolonialen Erbe des Völkerkundemuseums statt. Am Wochenende folgte ein Event mit der JUSO Zürich am Samstagabend und eine Podiumsdiskussion mit Untamed Families am Sonntag.

In dieser Manier ging es weiter. Bis heute. Es sind die ersten Tage seit langem ohne Termindruck. Zusammen mit meiner Mutter fuhr ich nach Deutschland. Wir gönnen uns eine kleine Auszeit. Eine Auszeit, die ich dringend brauche. Doch auch wenn es teils belastend ist, muss ich gestehen, dass ich unter Stress sehr effizient bin. Ich kann gut unter Stress performen. Das ist eine meiner Stärken.

Trotzdem vergisst man in stressigen Zeiten oft, sich über kleine Dinge zu freuen. Deshalb könnte der Moment nicht besser sein, um euch mit Neuigkeiten zu überraschen. Neben Özge Eren und mir wird auch Arbnora Aliu bald regelmässig über ihr Leben und ihre Erfahrungen auf Tsüri.ch schreiben.

Ich wusste, wer Arbnora ist, bevor ich sie persönlich kennengelernt habe. Vor zwei Jahren schrieb ich meine Masterarbeit zum Thema Rassismus in der Schule. In meinen Recherchen stiess ich auf eine Studie aus Deutschland, die mir den Boden unter den Füssen wegzog. Die Untersuchung bewies, dass Lehramtstudierende Schüler:innen mit migrantischen Namen schlechter bewerten als Schüler:innen mit deutschen Namen. Das zeigte sich daran, dass ein Diktat kopiert wurde und auf dem einen Blatt der Name Max und auf dem anderen der Name Murat stand. Murat wurde durch das Band schlechter bewertet als Max. 

Was das mit Arbnora zu tun hat? Sie war die erste Person, die öffentlich über diese Studie sprach. Im Onlinemagazin Baba News erzählte sie von den Ergebnissen und erklärte, warum sie problematisch sind. Genau deshalb war ich ein Fan von Arbnora, bevor wir uns wirklich kennengelernt haben. Nach ihrem Auftritt bei Baba News verging ein ganzes Jahr, bis wir uns wieder über den Weg liefen. Ich weiss bis heute nicht, ob sie weiss, dass ich schon ein grosser Fan von ihr war, bevor wir uns wirklich kannten. Spätestens heute weiss sie es. Liebe Arbnora, ich freue mich sehr auf deine Stimme hier in dieser Kolumne.

(Foto: Elio Donauer)

Mandy Abou Shoak

Menschen beschreiben sie als erfrischend unbequem. Unsere Kolumnistin Mandy Abou Shoak ist in Khartum im Sudan geboren, mit ihrer Familie in die Schweiz geflüchtet und im Zürcher Oberland aufgewachsen. Schon früh beschäftigte sie sich mit Ungerechtigkeiten. Einer der erweckensten Momente war jener, in dem sie realisierte, dass marginalisierte Menschen, wie sie selbst, im Kontext von Diskriminierungs- sowie Gewalterfahrungen meist verstummen. Sie verstand, dass das Heraustreten aus der Scham, das Teilen von Erfahrungen, fundamental ist, um in ein Verständnis darüber zu kommen, dass gewisse Erfahrungen kollektiv und damit strukturell sind. Diese Erkenntnis durchzog ihr Leben.

Mandy hat Soziokultur im Bachelor und Menschenrechte im Master studiert. Hauptberuflich arbeitet sie heute bei Brava als Expertin für Gewaltprävention und gibt Weiterbildungen im Bereich geschlechtsspezifischer Gewalt. Als Selbstständige berät sie Organisationen zu Themen rund um Diskriminierung und rassismussensiblen Strukturen. Auch in den zwei Podcasts «Wort.Macht.Widerstand» und «Reden wir! 20 Stimmen zu Rassismus» spricht sie über genau diese Thematiken. Sie ist zudem im Schwarz Feministischen Netzwerk Bla*sh, im Berufsverband der Sozialen Arbeit AvenirSocial und in der SP engagiert. Im Februar 2023 wurde sie in den Zürcher Kantonsrat gewählt.

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