«Bilder von überfüllten Schlauchbooten machen Menschen zu Verschubmassen» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von jonas staehelin

Redaktor

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31. Mai 2016 um 07:22

«Bilder von überfüllten Schlauchbooten machen Menschen zu Verschubmassen»

Ausstellung in der Shedhalle



Kunst ist weit mehr als der blosse Spiegel des Status quo. Kunst soll die Gegenwart dafür öffnen, was noch nicht ist, aber durchaus sein könnte. Dies zeigt die Shedhalle mit ihrer neuen Ausstellung, welche am 2. Juni ihre Eröffnung feiert. Tsüri hat sich mit der kuratorischen Leiterin der Shedhalle, Katharina Morawek, getroffen und mit ihr über die aktuelle Ausstellung und das Verhältnis von Kunst und gesellschaftspolitischer Transformation gesprochen.

Seit Beginn der 90er Jahre vermittelt die Shedhalle ein Verständnis von Kunst, das stets eine Anknüpfung an gesellschaftlich relevante Themen sucht, die oftmals von den dominanten Erzählungen verdrängt wurden und immer noch werden. So wurden beispielsweise Kolonialismus (auch in Bezug auf die Schweiz), Fragen von Geschlechterverhältnissen oder die Folgen der Globalisierung in der Shedhalle bereits einer künstlerischen und institutionenübergreifenden Auseinandersetzung unterzogen wurden.

Auch Katharina Morawek, seit 2012 kuratorische Leiterin der Shedhalle, begreift Kunst in erster Linie als ein Mittel, etwas denkbar zu machen, was zuvor nicht denkbar erschien. Diesen Anspruch verknüpft sie mit der Perspektive einer konstanten Ausweitung der Demokratie: «Demokratie ist kein statischer Zustand, sondern ein dynamischer Prozess. Die Bedingung von Demokratie ist, dass sie sich ständig selbst ausweitet. Am Beispiel des Frauenstimmrechts in der Schweiz lässt sich sehen, dass die Schweiz schon als Demokratie bezeichnet wurde, als mehr als 50% der Bevölkerung von politischer Mitbestimmung per se ausgeschlossen waren. Um zu einer Demokratisierung der Demokratie zu kommen, gilt es also Möglichkeiten zu schaffen, die eine Teilhabe der bisher Ausgeschlossenen ermöglichen, und zwar nicht nur als nettes Zugeständnis, sondern als gleichberechtigte Verteilung von Macht.» In dieser Hinsicht betrachtet Morawek Kunst als Experimentierfeld: «Es gibt stets mehr Möglichkeiten, als die offensichtlichen. Für mich ist es ein grosses Potential von Kunst, dass sie es ermöglicht, sich jenseits der bleiernen Schwere von Sachzwängen und der Trauer über das Schiefgegangene tatsächlich auch so etwas wie Zukunft oder Utopie neu anzueignen. Die Kunst kann hier wesentliches beitragen. Es gilt aber auch, über ihre teils streng bewachten Grenzen hinauszugehen, indem KünstlerInnen mit anderen gesellschaftlichen AkteurInnen zusammenarbeiten.»

[caption id="attachment_7491" align="aligncenter" width="640"]Skizze_UC Bild: Carolina Cerbaro und Roger Conscience[/caption]

Dass Kunsträume nicht nur Orte des Kunstkonsums sind, sondern eben auch als Nährboden für kritische Impulse an die Gesellschaft dienen können, wird in der Shedhalle immer wieder unter Beweis gestellt. Im Oktober 2015 wurde das Projekt «Die ganze Welt in Zürich. Konkrete Interventionen in die Schweizer Migrationspolitik» ins Leben gerufen. Unter dem Stichwort «Urbancitizenship» diskutierten Aktivistinnen und Aktivisten aus Bereichen der Kunst, der Wissenschaft aber auch Vertreter offizieller Politik, in sogenannten «Hafengesprächen» über die konkreten Möglichkeiten, politische Teilhabe im Rahmen der Stadt auszuweiten. Dies geschieht nie abgekoppelt von bereits existierenden sozialen Bewegungen. So entstand im letzten Jahr die stadtpolitische Initiative «Wir alle sind Zürich», die aus dem «Kongress der MigrantInnen/Migranten» vergangenes Jahr in Bern hervorging und im Februar in Zürich ein Stadtforum mit über 500 Interessierten organisierte. «Wir alle sind Zürich» arbeitet ebenfalls an den Grundsteinlegungen für eine Stadtbürgerschaft für Alle und somit einem Schritt in Richtung Demokratisierung der Demokratie.

Die neue Ausstellung mit dem Namen «#Urbancitizenship. Stadt und Demokratie» ist in gewisser Hinsicht eine Weiterentwicklung dieser Arbeit: «Die Ausstellung ist eine Einladung, sich diese Prozesse und Dynamiken, die hier in letzter Zeit stattgefunden haben, visuell zu vergegenwärtigen», so Morawek. Konkret geht es aber auch um eine Auseinandersetzung mit der Politik von Bildern: «Welche Bilder beanspruchen heute für die Realität dieser Welt zu stehen? Am Beispiel Migration lässt sich das gut veranschaulichen: hier ist es vielfach das Bild eines überfüllten Schlauchboots am Mittelmeer oder geografische Karten, auf denen Pfeile so genannte Migrationsströme zeigen. Eine solche Repräsentation hat Folgen, Personen werden zu problematischer Verschubmasse. Unsere Frage wäre: wie lassen sich stattdessen die verschiedenen Formen gesellschaftlichen Ausschlusses, aber auch der Teilhabe lesbar machen?»

[caption id="attachment_7492" align="aligncenter" width="640"]Bild: Carolina Cerbaro und Roger Conscience Bild: Carolina Cerbaro und Roger Conscience[/caption]

An den Wänden entlang der Ausstellungshalle haben Carolina Cerbaro und Roger Conscience grossformatige Illustrationen angefertigt und eine eigene grafische Formsprache entwickelt, um Themen und Konzepte neuer Formen von Citizenship und gesellschaftlicher Teilhabe visuell auf den Punkt zu bringen, so zum Beispiel «StadtbürgerInnenschaft», «Demokratisierung» oder «Zürich als Ankunftsstadt». Die klassischen Topographien und Bilder, mit Hilfe derer üblicherweise über Migration oder Fragen der politischen Teilhabe nachgedacht wird, werden dadurch problematisiert: «Wir möchten die Scheinobjektivität von Statistiken und Diagrammen mit einem Augenzwinkern hinterfragen. Entgegen dieser vermeintlichen Objektivität des «neutralen“ Wissens versuchen die Illustrationen in der Ausstellung andere Facetten unserer post-migrantischen Realität in den Blick zu rücken», so Morawek weiter.

Kunst – und dies verdeutlicht die kommende Ausstellung, kann aktiv in das gegenwärtige politische Diskursgeschehen eingreifen und neue Handlungsfelder eröffnen. Es lohnt sich also, an den Rand der Stadt zu reisen, um Einblicke in ein Zürich zu gewinnen, dass nicht ist, aber auf jeden Fall sein kann und sollte.




#URBANCITIZENSHIP. STADT UND DEMOKRATIE. Aufenthaltsfreiheit, Diskriminierungsfreiheit und Gestaltungsfreiheit. Eine Stadt für Alle. 2. Juni bis 25. September, 2016. Mehr Infos hier.

Titelbild: Instagram/shedhalle

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